Dass es ein Leichtes ist, sich in Italiens Justizsystem zu verfangen, ist kein Geheimnis. Bis Urteile rechtskräftig werden, vergehen oft Jahre und Jahrzehnte. Die Geschichte, über die mehrere Medien jüngst berichtet haben, ist aber selbst für das komplexe Justizsystem des Stiefelstaates ein Fall mit Seltenheitswert. Demnach hat Castenaso, eine kleine Stadtgemeinde mit rund 16.000 Einwohner:innen vor den Toren Bolognas, eine Schadenersatzzahlung über 700.000 Euro leisten müssen. Allein schon die Summe ist erstaunlich, aber noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass der Auslöser aus dem Jahr 1987 stammt. 1987! Damals hieß Italiens Regierungschef Giovanni Goria, der Staatspräsident war Francesco Cossiga, Südtirol wurde von Silvius Magnago regiert – und es stand noch die Berliner Mauer.
34 Jahre und acht Gerichtsinstanzen lang dauerte der Rechtsstreit. Vermutlich waren die Anwälte und Richter aus der ersten Instanz längst in Rente, als 2020 das letzte Urteil fiel.
34 Jahre und acht Gerichtsinstanzen lang dauerte der Rechtsstreit. Vermutlich waren die Anwälte und Richter aus der ersten Instanz längst in Rente, als 2020 das letzte Urteil fiel.
Das war geschehen: Am 12. September 1987 fuhr ein damals 46-Jähriger in Castenaso mit seinem Motorroller eine enge Straße entlang. Als er zwei entgegenkommenden Autos auswich, geriet er auf den Bürgersteig, der niedriger war als die Straße (was für ein eigenartiger Bürgersteig!) und kam wegen eines Schlagloches schwer zu Sturz. Der Mann blieb querschnittgelähmt und klagte gegen die Gemeinde. Die Anwälte machten geltend, dass die Gemeindeverwaltung erstens ihre Instandhaltungspflicht fahrlässig missachtet und zweitens vor der Gefahr nicht gewarnt hatte. Detail am Rande: Nur 40 Tage zuvor war die Straße – nicht hingegen der Gehsteig – neu asphaltiert worden.
Das erste Urteil fällte das zuständige Landesgericht 1996, neun ewig lange Jahre nach dem Unfall. Es schmetterte die Schadenersatzforderungen des an den Rollstuhl gefesselten Mannes ab, welcher in Berufung ging. 1998 wurde das Urteil in zweiter Instanz bestätigt. In der Folge ging der Fall zwischen Kassationsgericht und Berufungsgericht hin und her. Drei Mal – 2002, 2008 und 2018 – gab das Kassationsgericht dem Unfallopfer recht. Erst 2020 aber schwenkte das Berufungsgericht auf diese Linie um. Die Schadenersatzzahlung von 700.000 Euro für den Unfall wurde rechtskräftig.
Unlängst hat die Gemeinde Castenaso die Summe überwiesen, allerdings nicht an das Unfallopfer. Dieses ist nämlich 2015 mit 74 Jahren verstorben. Ihm war nicht beschieden, das Ende des Rechtsstreites zu erleben. Das Geld geht an die Erben. Für sie ist es gewissermaßen ein Schadenersatz nicht für den Unfall, sondern für die Nerven, die die unendliche Justizgeschichte gekostet hat. Und Geld obendrein, denn die Anwälte waren nicht gratis.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, lautet ein geflügeltes Wort. Demnach müsste in diesem Fall das Justizsystem bestraft werden, das eindeutig zu spät gekommen ist, sogar erst nach dem Tod des Klägers. Vielleicht sollte das geflügelte Wort umgeschrieben werden: Wer zu früh stirbt, den bestraft die (italienische) Justiz.