SWZ: Herr Tschenett, haben die Gewerkschaften ein Problem? Regierungschef Matteo Renzi legt sich ungewohnt offen mit den Gewerkschaften an, darüber hinaus wird den Gewerkschaften letzthin eine undurchsichtige Bilanzführung vorgeworfen.
Tony Tschenett: Ich kann nur vom ASGB reden, und der hat ganz sicher kein Problem. Wie halt so oft in Italien wird alles vermischt: Gewerkschaft, Patronat und Steuerbeistandszentrum CAF sind eigenständige Strukturen, die nicht in einen Topf geworfen werden dürfen. Die Patronate erhalten – im Übrigen sehr geringe – Beiträge von Staat, Region und Land für bestimmte Leistungen, welche den Bürgern kostenlos angeboten werden. Die Beiträge wurden in den vergangenen Jahren stark reduziert, während die Leistungen in diesen Krisenzeiten explodiert sind, so dass sich kaum ein Patronat finanziell über Wasser hält. Beiträge erhalten genauso die Patronate der Wirtschaftsverbände. Mich stört, dass aber nur die Gewerkschaften angegriffen werden.
Misst Renzi mit zweierlei Maß und verschont die Wirtschaftsverbände?
Ja, diesen Eindruck habe ich, denn die Bilanzen sollten auch von den Wirtschaftsverbänden und politischen Parteien offengelegt und hinterlegt werden. Oder wenn Renzi beispielsweise die Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit infrage stellt, dann halte ich dagegen, dass – zumindest in Südtirol – die Freistunden nie voll ausgeschöpft werden. Auch die Zeitkontingente für gewerkschaftliche Versammlungen werden nie zur Gänze abgerufen, weder im öffentlichen noch im privaten Sektor.
Wie ist das beim ASGB? Haben Sie eine doppelte Buchführung und hinterlegen Sie die Bilanz bei der Handelskammer?
Wir haben eine doppelte Buchführung, und diese ist jedenfalls transparent. Wir werten beispielsweise Büroeinrichtungen und Büromaschinen ab. Unsere Bilanz wird von Rechnungsprüfern kontrolliert, überprüft und jährlich dem Bundesvorstand vorgelegt und von diesem genehmigt. Die Mitgliedsbeiträge gehen über das Bankkonto ein. Im Kataster ist auch für jeden nachvollziehbar, dass uns Immobilien in Bozen, Meran und Bruneck gehören – sie wurden mit den Mitgliedsbeiträgen angekauft, um Mietausgaben einzusparen.
Wie hoch sind die jährlichen Einnahmen und Ausgaben beim ASGB?
Der ASGB – ohne Patronat und Steuerbeistandszentrum – hat Einnahmen um die 2,4 Millionen Euro. Die Einnahmen hängen von der Mitgliederzahl ab. Die beiden größten Ausgabenposten sind die Personalkosten – zirka 1,5 Millionen – und die Büro- und Raumspesen – zirka 500.000 Euro. Es ist also keineswegs so, dass wir im Geld schwimmen. Auch wir mussten umstrukturieren und sind ständig auf der Suche nach Einsparungsmöglichkeiten.
Was hält der ASGB-Chef von Ministerpräsident Renzi? Immerhin wirft er den Gewerkschaften vor, notwendige Reformen für den Wirtschaftsaufschwung in Italien zu verhindern. Das ist harter Tobak.
Italien braucht dringend Reformen, wenn die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Betriebsschließungen nicht weiter steigen sollen. Es ist bereits fünf nach zwölf, weshalb es keine Tabus geben darf. Wahrscheinlich ist Matteo Renzi deshalb der richtige Mann zur richtigen Zeit, und es ist ihm zu wünschen, dass er mit seinen Reformplänen vorankommt. Schauen Sie sich den famosen 80-Euro-Steuerbonus an: Er wird sicher seine Schwächen haben, aber zumindest wurde da eine Maßnahme gesetzt, die unmittelbar greift. Eine gut durchdachte Steuerreform wäre in so kurzer Zeit nicht möglich gewesen. Nichtsdestotrotz braucht es eine Steuerreform dringend, denn die Steuer auf Arbeit ist zu hoch.
Und die Arbeitsmarktreform? Laut jüngster Reform können befristete Arbeitsverträge ohne Begründung bis zu fünfmal und bis zu einer Gesamtdauer von drei Jahren verlängert werden. Ist Ihrer Meinung nach damit der Grundstein für mehr Arbeitsplätze geschaffen oder nur für mehr prekäre Arbeitsplätze?
Das Wichtigste ist sicherzustellen, dass junge Menschen eine Arbeit finden. Deshalb erblicke ich nichts Verwerfliches in befristeten Verträgen mit einer Gesamtdauer von bis zu drei Jahren. Ich bin mir aber bewusst, dass meine Meinung in Sachen Arbeitsmarkt nicht mit der Meinung von Kollegen aus anderen Gewerkschaften übereinstimmt. Ich war auch immer dafür, dass Betriebe ohne Mitarbeiter Praktikanten anstellen können, während sich die anderen Gewerkschaften in der Sache bis heuer quergestellt haben. Ich habe immer gesagt: Probieren wir es und schauen wir, ob die Arbeitgeber verantwortungsvoll mit der Möglichkeit umgehen oder sie ausnutzen. Meines Erachtens müsste auch der Berufseinstieg über den Lehrvertrag stärker forciert werden.
Unternehmen mit bis zu fünf Mitarbeitern können befristete Arbeitsverträge sogar ohne Beschränkung vergeben. Kann ein Gewerkschafter damit glücklich sein?
Jeder langfristig denkende Betrieb wird versuchen, gute Mitarbeiter langfristig zu binden – auch wenn zweifelsohne schwarze Schafe existieren, welche die Möglichkeit von befristeten Verträgen ausnutzen, zum Schaden der Mitarbeiter.
Ungewohnte Worte aus dem Mund eines Gewerkschafters.
Mag sein. Aber wenn ich in einem Gast-, Handels- oder Handwerksbetrieb über Jahre hinweg immer dieselben Mitarbeiter antreffe, dann weiß ich, dass dort das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Mitarbeiter ein gutes ist und die Mitarbeiter einen unbefristeten Vertrag haben.
Das hört sich so an, als könnten Sie sich absolut nicht mit ihren Kollegen von anderen Gewerkschaften identifizieren, vor allem nicht mit CGIL-Chefin Susanna Camusso.
Tatsächlich gibt es Themen, bei denen die Meinungen auseinandergehen. Wir im ASGB blicken über die Landesgrenzen und schauen uns dort nach funktionierenden Modellen um. Wir versuchen im Sinne der Sozialpartnerschaft mit den Arbeitgebern offen zu diskutieren anstatt auf stur zu schalten. Sturheit bringt eh nichts. Ich denke schon, dass der ASGB etwas anders tickt als die gesamtstaatlichen Gewerkschaftsorganisationen.
Warum sträuben sich die Gewerkschaften dermaßen gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes? Es ist doch nachvollziehbar, was Arbeitgeber sagen: Ausgerechnet der übertriebene Kündigungsschutz ist in Italien der Grund für die vielen prekären Arbeitsverhältnisse, weil sie die einzige Chance für die Unternehmer sind, sich gegen Auftragsschwankungen abzusichern.
So wie ich bereits gesagt habe, dass es keine Tabus geben darf, so sage ich auch, dass über dieses Thema genauso zu reden ist. Italien sollte sich in anderen europäischen Ländern nach funktionierenden Modellen umsehen. Wenn es dort Modelle gibt, mit denen den Bediensteten trotz eines weicheren Kündigungsschutzes keine Nachteile erwachsen, dann sind diese Modelle zu übernehmen.
Kein Unternehmer entlässt Mitarbeiter aus Spaß an der Freude. Und wenn Mitarbeiter Leistung bringen, brauchen sie so oder so keine Kündigung zu befürchten.
Da stimme ich zu. Ich sage sogar noch mehr: Wenn ein Verhältnis zerrüttet ist, dann bringt in den meisten Fällen ein Festhalten am Arbeitsverhältnis weder für die eine noch für die andere Seite etwas.
Mit dem Festhalten am Kündigungsschutz vertreten die Gewerkschaften vor allem die Drückeberger, während die fleißigen Mitarbeiter draufzahlen, weil sie die Arbeit der Drückeberger gleich miterledigen.
Wir dürfen nicht verallgemeinern. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn sich ein Mitarbeiter ständig krankschreiben lässt, obwohl er gesund ist, dann ist das eine ungerechtfertigte Ausnutzung des Kündigungsschutzes. Wenn ein Mitarbeiter hingegen tatsächlich schwer erkrankt, dann verdient er sich den Kündigungsschutz, um nicht Gefahr zu laufen, vom Arbeitgeber wegen der Krankheit entlassen zu werden. Aber ich wiederhole: Über den Kündigungsschutz ist zu reden. Ich halte es nicht für zielführend, wenn wir Gewerkschaften uns dagegen stemmen, darüber zu reden. Wobei auch zu sagen ist, dass der Kündigungsschutz in Südtirol gar kein so großes Problem ist.
Wie bitte?
Die Situation in Südtirol kann nicht verglichen werden mit der Situation in anderen Teilen Italiens. Der strenge Kündigungsschutz ist hierzulande kein Problem, weil die allermeisten Entlassungen über die verpflichtende Schlichtung geregelt werden, noch bevor es zu einem Arbeitsprozess kommt. Trotzdem finde ich es schade, dass das Arbeitsrecht seinerzeit nicht ins Autonomiestatut aufgenommen wurde und wir uns wohl oder übel an gesamtstaatlichen Gesetzen orientieren müssen.
Auch in der öffentlichen Verwaltung möchte Matteo Renzi den Drückebergern das Handwerk legen. Den vielen fleißigen Beamten würde er damit einen Dienst erweisen, oder?
Mich stört, dass Matteo Renzi zwischen den Zeilen die Botschaft vermittelt, alle Beamten seien Drückeberger. Dies vorausgeschickt, stelle ich fest, dass es durchaus auch in der öffentlichen Verwaltung Disziplinarmaßnahmen und sogar Entlassungen gibt. Reformen sind zulässig, aber nur unter Einbeziehung der Bediensteten und der Gewerkschaften. Und bei der Reform dürfen die Führungskräfte nicht ausgeklammert werden.
Das müssen Sie erklären.
Die ureigene Aufgabe von Führungskräften ist es, die Mitarbeiter zu führen. Wenn also in bestimmten Abteilungen überdurchschnittlich viele Krankheitstage zu verzeichnen sind, dann stimmt etwas nicht. Dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die Führungskraft Fehler macht oder vielleicht selbst nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Das gilt für Italien, das gilt aber auch für Südtirol.
Unternehmer beklagen auch einen übertriebenen Jugendschutz. Ein Lehrling könne das Zimmererhandwerk nicht lernen, wenn er nicht aufs Dach darf, sagen sie. Haben die Unternehmer recht?
Ich finde es interessant, dass das Thema seit zirka anderthalb Jahren akut ist. Der Jugendschutz existierte schon zuvor, und zwar unverändert. Auch vorher waren den Minderjährigen gewisse Tätigkeiten und Nachtarbeit untersagt. Deswegen ist es nicht zulässig, den Rückgang der Lehrlingszahlen jetzt mit dem Jugendschutz zu begründen. In Deutschland und Österreich sinken die Lehrlingszahlen ebenfalls, aber dort schiebt niemand die Schuld auf den Jugendschutz. Ich habe dem LVH schon öfters gesagt, dass ein Vergleich interessant wäre, was Elektriker- oder andere minderjährige Lehrlinge in Südtirol dürfen und was in Österreich und Deutschland. Dann können wir wirklich über den Jugendschutz reden.
Welches ist Ihrer Meinung nach das größere Problem in Südtirol: die Jugendarbeitslosigkeit oder die Altersarbeitslosigkeit?
Eindeutig die Altersarbeitslosigkeit. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Länger als zwölf Monate arbeitslos bleiben in Südtirol in erster Linie ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmer mit schlechter Ausbildung sowie mangelhaften Sprachkenntnissen.