Bozen – Am 21. August wurde der World Entrepreneurs Day 2022 gefeiert. Zu diesem Anlass hat die Vereinigung GammaDonna, deren Ziel es ist, das weibliche Unternehmertum weiterzuentwickeln, erstmals ihre FAB50 der innovativsten Unternehmerinnen Italiens gekürt. Unter denen, die es in diese Rangliste geschafft haben, ist auch Sara Canali, Gründerin und CEO von Sher, Start-up mit Sitz im NOI Techpark in Bozen.
„Der Radsport ist eine sehr männliche Welt, in der es kaum Inklusion gibt.“
Sher produziert Rad- und andere Sportbekleidung ausschließlich für Frauen. „Der Radsport ist eine sehr männliche Welt, in der es kaum Inklusion gibt“, begründet GammaDonna ihre Entscheidung, „und gerade deshalb hat Sara beschlossen, ein innovatives, alternatives und vor allem inklusives Businessmodell zu schaffen, mit dem die Produktionskette revolutioniert und Abfälle reduziert werden.“
Statt Pilotin nun Start-upperin
Canali, Jahrgang 1974, ist in Klausen aufgewachsen und lebt nun mit ihrer Familie in Bozen. Eigentlich wollte sie Pilotin werden. Um für die Ausbildung Geld zu verdienen, begann sie nach dem Oberschulabschluss zu arbeiten, und kam dabei zufällig zur Bekleidungsbranche: Sie war als Product Development Manager bei der Outdoormarke The North Face tätig und wechselte dann zum Sportbekleidungshersteller Odlo in die Schweiz, wo sie zuletzt die Produktabteilung geleitet hat. Später machte sie sich als Innovationsberaterin im Bekleidungssektor selbstständig. Berufsbegleitend hat sie ein Designstudium in Venedig sowie 2016/17 eine einjährige Ausbildung rund um das Thema Innovation an der Stanford University im Silicon Valley absolviert.
Die Erfahrungen dort seien ein Mindset Changer gewesen, durch welche sie begonnen habe, ihr Businessmodell für eine Radbekleidungsmarke für Frauen zu schärfen und niederzuschreiben. „Ich habe dafür unter anderem 300 Frauen in ganz Europa persönlich interviewt“, sagt Canali. Diese Nähe zu den Kundinnen sei nun auch eines der Kernelemente von Sher.
2017 kehrte Canali mit ihrer Familie nach Südtirol zurück. Ihr Start-up gründete sie schließlich 2019 noch mit einer Co-Founderin, einer langjährigen Bekannten aus der Modebranche. Anfang 2021 hat die Südtirolerin 100 Prozent der Anteile übernommen, die Zusammenarbeit der Geschäftspartnerinnen war nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten. „Seitdem bin ich einzige Gesellschafterin – was aber nicht bedeutet, dass das auch so bleiben muss“, sagt Canali.
„Mein Problem ist, dass ich sehr vielfältig bin und extrem schnell lerne. Deshalb lege ich an allem Hand an, ich habe mir zum Beispiel beigebracht, für unsere Website bestimmte Dinge selbst zu programmieren.“
Heute zählt das Sher-Team – der Unternehmensname setzt sich zusammen aus S für Sport und her, dem englischen Gegenstück zum Pronomen sie – sechs Köpfe, bei Bedarf werden temporär weitere Mitarbeiter:innen beschäftigt. Wenn man Canali nach ihrem Aufgabenbereich fragt, lacht sie: „Mein Problem ist, dass ich sehr vielfältig bin und extrem schnell lerne. Deshalb lege ich an allem Hand an, ich habe mir zum Beispiel beigebracht, für unsere Website bestimmte Dinge selbst zu programmieren.“ Vorwiegend sei als CEO jedoch ihre Aufgabe die strategische Ausrichtung, dazu komme die Marktpositionierung sowie Produktentwicklung und -design. „Letzteres ist das, worin sich Sher heute von allen Mitbewerbern im Radbekleidungssegment am meisten unterscheidet.“
Nicht „shrink it and pink it“, sondern auf Frauen zugeschnitten
Doch inwiefern? Radkleidung für Frauen gibt es doch zuhauf am Markt? „Wir sind als sogenanntes Start-up innovativa klassifiziert“, erklärt Canali, „weil wir einerseits auf Produktebene sehr viel Innovation betreiben und sehr viel Geld investieren, andererseits unsere Prozesse und die Organisation nicht den Schemata der Industrie entsprechen.“ Als Beispiel nennt sie die Zeitachse für Produktlaunches. „Wir machen keine saisonalen Kollektionen mit immer neuen Modellen und saisonalen Farben. Wir bringen jeden Monat einige wenige neue Produkte auf den Markt. Und bei uns gibt es Sher-Farben, die sich weiterentwickeln.“
Es geht etwa um Passformprobleme, weil in der Sportbekleidungsbranche, speziell im Radbereich, die meistgenutzte Methode „shrink it and pink it“ sei, also Herrenmodelle kleiner zu schneiden und Stoffe in „Frauenfarben“ zu verwenden.
Ihr gehe es darum, „Produkte mit Berechtigung zu machen, damit jedes Kleidungsstück, das Sher verkauft, ein Problem löst, das die radfahrende Frau hat“. Da gehe es etwa um Passformprobleme, weil in der Sportbekleidungsbranche, speziell im Radbereich, die meistgenutzte Methode „shrink it and pink it“ sei, also Herrenmodelle kleiner zu schneiden und Stoffe in „Frauenfarben“ zu verwenden. Doch das gehe an den Bedürfnissen der Frauen vorbei. Deshalb habe Sher „auch nicht 20 Hosenmodelle im Angebot, sondern drei, die die Bedürfnisse der Frau abdecken und zugleich langlebig sind, damit sie unserem Anspruch an Nachhaltigkeit gerecht werden“.
„Wir haben in diesen zwei Jahren, in denen unsere Produkte auf dem Markt sind, extrem viel gesät, nun beginnen wir mehr und mehr zu ernten.“
Die Stoffe kauft Sher vorwiegend in Italien, genäht wird ebenso hauptsächlich in Italien, zudem in Portugal. Verkauft werden die Produkte indes weltweit, erzählt Canali, wobei der Hauptmarkt Europa sei. „In erster Linie verkaufen wir über unseren eigenen Onlineshop, doch wir arbeiten auch mit einigen Plattformen und ausgewählten Händlern zusammen.“ Ein zweiter wichtiger Verkaufskanal seien Events, die Sher zum Teil selbst organisiere.
Mit der Umsatzentwicklung sei sie zufrieden, sagt Canali. „Wir haben in diesen zwei Jahren, in denen unsere Produkte auf dem Markt sind, extrem viel gesät, nun beginnen wir mehr und mehr zu ernten. Aber es ist harte Arbeit und nicht immer leicht.“ Ein Aspekt dabei sei das Vereinbaren der Familie mit der Tätigkeit als Start-upperin, „obwohl ich einen Partner habe, der mich sehr unterstützt und mit dem ich mir die Aufgaben zu Hause 50:50 teile.“
Eine der weiteren unter den zahlreichen Herausforderungen, vor denen man als Start-upperin stehe, ist Canali zufolge „mit dem Wissensstand des Moments, die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Einen Monat später weißt du wieder mehr und hättest vielleicht eine andere Entscheidung getroffen.“
In diesem Sinne arbeite sie daran, ihr Ziel zu erreichen: dass Sher eine etablierte Marke im Bereich Damenradbekleidung wird, eine Marke, die als vertrauenswürdig und zuverlässig gilt, – in einem ersten Schritt in Europa, dann weltweit.
DIE SERIE Die SWZ stellt in der Serie „Start-up Euregio“ junge Unternehmen und deren Gründer:innen aus der Euregio vor, so wie bereits 2018, 2019 und 2021 – damals jedoch mit Fokus auf Südtirol bzw. Südtiroler Gründer:innen (nachzulesen auf SWZonline und in der SWZapp).
Interview
„Ich sehe überall nur Möglichkeiten“
SWZ: Was macht für Sie ein Start-up aus?
Sara Canali: Es deckt ein Bedürfnis durch ein neues Businessmodell. Die Grundlage kann eine technologische Innovation sein, aber es endet nicht dort, sondern für mich geht es darum, 360 Grad Innovation zu betreiben, um Prozesse, Produktion und was immer sonst dazugehört. Den Begriff „Innovation“ verwende ich hier ganz bewusst, obwohl es inzwischen ein vielgenutzter, wenn nicht gar „ausgelutschter“ Begriff ist, der für sehr vieles verwendet wird, was neu ist. Doch nicht alles was neu ist, ist auch zwingend eine Innovation.
Was bedeutet es, Start-upperin zu sein?
Für mich ist es sehr herausfordernd. Es bedeutet, sich selbst täglich zu challengen. Wenn man so wie ich etwas später im Leben und in einer Branche gründet, in der man zuvor bereits tätig war, dann hat das aber auch unheimliche Vorteile. Denn neben Know-how bringt man ein Netzwerk mit. Dazu muss man als Start-upper agil sein und sich immer wieder auf das less is more reduzieren. Aber manchmal ist man in bestimmten Schemen festgefahren, eben weil man so viel Erfahrung hat. Die größte Herausforderung ist es, sich von diesen Schemen zu lösen. Dieser Fokus auf wirklich Wichtiges ist im Start-up Life wesentlich.
Inwiefern?
Ich bin eine sehr optimistische Persönlichkeit und sehe immer überall nur Möglichkeiten. Weil ich so agil bin, warte ich nicht ab, wenn ich irgendwo eine Opportunität sehe, sondern stelle mich schnell auf diese Möglichkeit ein. Deshalb ist meine persönliche Herausforderung, den Fokus zu setzen und die Geduld zu haben, dorthin zu kommen. Andererseits ist es als Start-up in Italien wesentlich, sich seine Agilität zu bewahren. Die Bürokratie und die Kosten, die diese mitbringt, sind nämlich start-up-unfreundlich. Die viele Zeit und den Nerv, den du in das ganze Drumherum investieren musst, halten dich davon ab, dich auf deine wirkliche Arbeit zu konzentrieren.
Gibt es etwas, das die öffentliche Hand in Südtirol tun könnte, um Start-up-Unternehmen mehr zu unterstützen?
Wir haben in Südtirol das Glück, dass für Start-ups mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stehen als in anderen Regionen. Es gibt tolle Förderbeiträge, wenn man zum Beispiel an technologischen Innovationen arbeitet. Solche haben wir auch schon in Anspruch genommen; ohne diese hätten wir bestimmte Projekte sicher nicht abwickeln können.
Zum Beispiel?
Derzeit arbeiten wir an einem umfangreichen, mehrjährigen Projekt mit der TU München, bei dem es um die Entwicklung eines Sitzpolsters für Damenradhosen geht. Daraus erwarten wir uns sehr innovative Ansätze.
Wie haben Sie sich für den Unternehmensstandort entschieden?
Der hat sich ergeben, weil zum Gründungszeitpunkt Südtirol wieder mein Lebensmittelpunkt war. Bozen als Standort ist für Sher einerseits sehr interessant, weil wir in Südtirol insgesamt sehr sportiv sind, auch die Frauen, die dazu sehr multisportiv sind. Das erlaubt uns, innerhalb sehr kurzer Zeit sehr nahe an der Kundin zu sein. Dann gibt es aber auch viele Aspekte, die fehlen.
Welche?
Wenn man eine Firma hat, die so wie Sher vorwiegend im digitalen Bereich, im E-Commerce tätig ist, und die sich auf einen internationalen Markt ausrichtet, ist Südtirol nicht ideal. Es fehlt die Dichte an Unternehmen, die digital native und im E-Commerce etabliert sind, mit denen man sich austauschen und an denen man sich orientieren könnte. Im Bereich Bekleidungsherstellung gibt es hierzulande ebenso wenig, aber wir sind in Italien und man kann diese Kompetenzen dann doch relativ nahe finden.
Wie erleben Sie die Start-up-Szene in Südtirol?
Wir sind im NOI Techpark angesiedelt. Für mich war es immer ein Ziel, in einer Community zu arbeiten, wo ein gewisser Austausch stattfindet, wo eine „Bewegung“ und ein Netzwerk da sind, die dich bereichern, und wo eine Struktur vorhanden ist, die du als Start-up mit nutzen darfst. Das hat Vorteile, nicht zuletzt ist die Unterstützung, die dir gegeben wird, ein guter Ausgangspunkt. Grundsätzlich finde ich toll, was in der Start-up-Szene passiert, und dass sie wächst, denn jedes Start-up, das sich in Südtirol ansiedelt, ist eine Bereicherung. Doch die Szene ist noch sehr jung. Für die Entwicklung eines funktionierenden Ökosystems braucht es Zeit. Ich habe viel Zeit in Silicon Valley verbracht, wo ich eine außerordentliche Start-up-Kultur erlebt habe, die auch nicht über Nacht entstanden ist.
Was fehlt aus Ihrer Sicht?
Es bräuchte mehr Start-ups, die innerhalb einer gewissen Zeit skalieren, und so anderen potenziellen Gründern Inspiration geben. Das andere ist der Bereich Investments & Financials, in dem noch mehr passieren muss. Hier ist Südtirol nicht immer ganz offen, die Risikobereitschaft ist nicht so groß. Scheitern wird noch immer als etwas Schlimmes gesehen, was es nicht ist, denn wenn man nichts macht, dann lernt man auch nicht. Klein anfangen und Dinge ausprobieren gibt es bei uns weniger, es wird schon beim Beginnen auf Perfektion gesetzt. Doch so was gibt es bei einem Start-up nicht! Was perfekt ist, weißt du erst, nachdem du auf den Markt gegangen bist.
Wo haben Sie sich das notwendige Kapital besorgt?
Ich hatte das Eigenkapital, um zu gründen. Mittlerweile finanziert sich das Business selbst, natürlich haben mir auch die Fördermaßnahmen der öffentlichen Hand weitergeholfen. Ziel ist, ab 2023 die Türen für erweiterte Investmentmöglichkeiten zu öffnen, wobei wir uns erst noch orientieren müssen, was für uns das richtige Match sein könnte.