Bozen – Wie waren doch die Hoffnungen groß. Als die EU im Februar 2014, vor genau zehn Jahren, eine neue Richtlinie für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen erließ, machte sich Südtirol sofort an die Arbeit, um auf dieser Grundlage ein neues Landesgesetz zu schreiben. Der Anspruch: schneller sein als der Staat, um die EU-Richtlinie direkt in Landesrecht umzuwandeln und sich folglich in einigen Teilaspekten vom nationalen Rechtsrahmen freizuschwimmen. So zumindest wurde es damals angekündigt, auch von Landeshauptmann Arno Kompatscher, der erst seit wenigen Wochen im Amt war.
Der Staat gab dem vorpreschenden Südtirol schnell zu verstehen, dass er keine allzu großen autonomen Extrawürste duldet.
Endlich sollte ein eigenes Landesvergabegesetz Vereinfachungen bringen und mehr Rechtssicherheit, denn der – auch in Südtirol angewandte – staatliche „Codice Delise“ war als Bürokratie-Monster gefürchtet. Und die große Angst war, dass das Parlament aus der neuen EU-Richtlinie das nächste Monster machen würde. Also: schneller sein als Rom.
Am Ende war alle Liebesmüh umsonst. Der Staat gab dem vorpreschenden Südtirol schnell zu verstehen, dass er keine allzu großen autonomen Extrawürste duldet. Südtirol musste sein Landesvergabegesetz in aufwendiger Kleinarbeit mit Rom abstimmen. Anfang Jänner 2016 trat es (endlich) in Kraft.
Rom gibt vor, Südtirol muss folgen
Es folgten mehrmals Änderungen, zuletzt im vergangenen Sommer, als der Landtag die Aufgabe hatte, staatliche Vorschriften zu übernehmen und dies mit der deutlichen Mehrheit von 29 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen tat.
Dass bei jener Landtagsdebatte von Vereinfachungen die Rede war, kann so manches Südtiroler Unternehmen heute schwer nachvollziehen. Zum Beispiel gelten für sogenannte Direktvergaben seit Jahresanfang Neuerungen, die ganz und gar nicht nach Vereinfachung riechen. Direktvergabe heißt, dass die öffentliche Hand nicht mehrere Unternehmen einlädt, ein Angebot zu unterbreiten, sondern den Auftrag direkt einem bestimmten Unternehmen erteilt. Solche Direktvergaben machen Land, Gemeinden, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen ständig, etwa weil nur ein bestimmtes Unternehmen das Produkt liefern kann (z. B. auch ein SWZ-Abo) oder weil der Auftrag so geringfügig ist. Das sollte unbürokratisch gehen, möchte man meinen. Tut es aber nicht.
Kann es sein, dass für eine Direktvergabe drei zertifizierte Mails sowie die Einreichung allerhand digital unterschriebener Dokumente über eine eigene Onlineplattform notwendig sind? Ja, es kann!
Eine Direktvergabe für einen Auftragswert von 44,96 Euro plus MwSt hat unlängst ein Altersheim in Südtirols westlicher Landeshälfte getätigt. Ein Gerät war kaputtgegangen, und das Unternehmen, von dem das Gerät gekauft worden war, sollte Ersatzteile liefern. Kann es sein, dass für so eine Direktvergabe drei zertifizierte Mails sowie die Einreichung allerhand digital unterschriebener Dokumente über eine eigene Onlineplattform notwendig sind? Ja, es kann! Es ist sogar die Regel.
Ein Beispiel: So verbürokratisiert ist die Auftragsvergabe
Zeichnen wir also den 44,96-Euro-Fall exemplarisch nach. Das Unternehmen hat die SWZ gebeten, den eigenen Namen nicht in der Zeitung lesen zu müssen. Anonym bleiben möchten auch die Personen auf der anderen Seite, also auf jener der öffentlichen Hand, wenn sie über die verbürokratisierten Auftragsvergaben und die dafür vorgesehene Isov-Plattform der Landesvergabeagentur AOV schimpfen. Sie leiden unter der Bürokratielast genauso wie die beauftragten Unternehmen.
Im Altersheim geht also das erwähnte Gerät kaputt. Anruf beim Lieferanten. Glücklicherweise kann am Telefon geklärt werden, wo die Ursache für den Defekt liegt. Es ist nicht notwendig, dass sich ein Techniker vor Ort ein Bild macht. Das Unternehmen fragt beim Gerätehersteller nach dem Preis der Ersatzteile, nach den Artikelnummern, nach den Lieferzeiten und schickt dem Altersheim das Angebot: 44,96 Euro plus MwSt.
Mit diesem Angebot in der Hand gibt das Altersheim den Auftrag auf der Isov-Vergabeplattform ein und lädt das Unternehmen offiziell ein, für 44,96 Euro plus MwSt die Ersatzteile zu liefern. Das Unternehmen erhält eine zertifizierte Pec-Mail: „Sehr geehrter Wirtschaftsteilnehmer, Sie wurden eingeladen, ein Angebot für die oben angeführte Ausschreibung über das Informationssystem Öffentliche Verträge der Autonomen Provinz Bozen einzureichen.“ Die „Ausschreibung“ ist in Wirklichkeit eine Direktvergabe, bei der längst feststeht, wer die Teile zu welchem Preis liefert.
Obwohl dem Altersheim das Angebot bereits vorliegt, muss das Unternehmen über das Isov-Portal ein neues Angebot über 44,96 Euro generieren, digital unterschreiben und absenden.
Das interessiert den wiehernden Bürokratie-Hengst aber nicht. Obwohl dem Altersheim das Angebot bereits vorliegt, muss das Unternehmen über das Isov-Portal ein neues Angebot über 44,96 Euro generieren, digital unterschreiben und absenden. Ergänzend ist eine Erklärung zur Rückverfolgbarkeit der Zahlungen digital zu unterschreiben und hochzuladen. Fertig! Nein, doch nicht, denn es sind da noch 16 Seiten „Allgemeine Vertragsbedingungen“ digital zu unterschreiben. Und es ist die 15-seitige „Anlage A1“ auszufüllen und digital zu unterschreiben – hier müssen alle möglichen Angaben zum Unternehmen gemacht werden, die im Isov-Portal eigentlich bereits hinterlegt sind.
Detail am Rande: Rein rechtlich hätte das Altersheim die „Anlage A1“ in diesem Fall nicht anfordern müssen. Dass es das trotzdem getan hat, liegt daran, dass sich niemand mehr im Bürokratiedschungel der Auftragsvergaben auskennt und lieber ein Dokument zu viel als eines zu wenig verlangt wird, um ja kein Risiko einzugehen. Und jede Vergabestelle macht’s ein bisschen anders, mit unterschiedlichen Auflagen und unterschiedlichen Formularen. Ob ihr damit richtig liegt, seht ihr, wenn das Licht aufgeht!
Nachdem endlich alle notwendigen Dokumente eingereicht sind, dauert es sieben Tage. Dann trudelt im Unternehmen eine zweite PEC-Mail ein: „Sehr geehrter Wirtschaftsteilnehmer, hiermit bestätigen wir Ihnen, dass Sie als endgültiger Zuschlagsempfänger der oben angeführten Ausschreibung ermittelt wurden.“ Juhu, wer hätte das gedacht!
Wenige Minuten später kommt noch eine dritte Pec-Mail. Sie enthält das vierseitige Beauftragungsschreiben samt sogenanntem Cig-Kodex. Dieser Kodex dient der Identifizierung des Auftrags und muss auf der Rechnung angegeben werden. Wird er vergessen, kann die Rechnung nicht bezahlt werden.
Und niemand ist glücklich
Und das alles für 44,96 Euro? „Ja, so verbringen wir unsere Zeit“, heißt es im betroffenen Unternehmen mit ironisch-verärgertem Unterton. Es verwundert nicht, wenn mittlerweile manche Unternehmen darauf verzichten, Aufträge von der öffentlichen Verwaltung anzunehmen. „Selbst wenn jemand Routine mit dem System hat, nimmt die reine Abwicklung der bürokratischen Auflagen zwischen einer und zwei Stunden in Anspruch“, sagt eine, die regelmäßig mit öffentlichen Aufträgen zu tun hat. Auf der Seite der öffentlichen Hand kommt mindestens noch mal derselbe Zeitaufwand hinzu.
„Selbst wenn jemand Routine mit dem System hat, nimmt die reine Abwicklung der bürokratischen Auflagen zwischen einer und zwei Stunden in Anspruch.“
Und während der Bürokratieabbau beschworen wird, ist mit Jahresanfang ein neues Bürokratie-Wunderwerk – gewachsen auf römischem Mist – gelungen. Während bisher kleine Aufträge bis zu einem Wert von 40.000 Euro außerhalb des Isov-Portals abgewickelt werden konnten, müssen nun alle Aufträge – eben auch so kleine Direktvergaben für 44,96 Euro – über das Portal laufen, unabhängig von deren Wert. Offenbar ist das Portal mit der schieren Menge an Aufträgen überfordert: Anwender:innen sprechen davon, dass es zuweilen blockiert ist oder dass Pec-Mails hängen bleiben. Glücklich ist damit niemand, weder die Unternehmen, die Arbeiten ausführen möchten, noch die öffentlich Bediensteten, die Leistungen einkaufen müssen.
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: Hart verdiente 44,96 Euro
Info
Kommentar: Das Virus des Misstrauens
Das Bürokratie-Monster, das rund um die Vergaben von öffentlichen Aufträgen geschaffen wurde, zeigt anschaulich, was das Virus des Misstrauens anrichtet. Der Generalverdacht, dass geschummelt und gemauschelt wird, wo immer sich die Chance dazu bietet, verleitet den Gesetzgeber – in diesem Fall den italienischen – dazu, abstruse (Über-)Reglementierungen auszuknobeln. Diese können die Tricksereien zwar nicht gänzlich unterbinden, lähmen dafür aber die 90 Prozent der Ehrlichen.
Unsere Gesellschaft braucht weniger Regeln und mehr Vertrauen. Wem ist damit geholfen, wenn öffentliche Auftragsvergaben so komplex werden, dass Unternehmen sich gar nicht mehr darum bewerben? Wem ist geholfen, wenn Leistungen teurer werden, weil jemand ja den unverhältnismäßigen Bürokratieaufwand zahlen muss? Wem ist geholfen, wenn wegen des Rotationsprinzips für Aufträge über 5.000 Euro nicht mehr der bewährte Elektrikerbetrieb aus dem Dorf die Wartung am Schulgebäude übernehmen darf, sondern jemand aus dem Nachbardorf – oder von viel weiter weg – zum Zuge kommt?
Die Unternehmen verzweifeln genauso wie die öffentlich Bediensteten. Das führt so weit, dass manche Arbeiten schon abgewickelt sind, bevor sie überhaupt über die Isov-Vergabeplattform zugeschlagen wurden. Das wäre nicht erlaubt und wird auch nur hinter vorgehaltener Hand gesagt. Aber wenn eine Arbeit dringender ist, als es die Bürokratie zulässt, dann muss man sich behelfen.
In einem anderen Licht erscheinen vor diesem Hintergrund auch die Autonomieverhandlungen, die Landeshauptmann Arno Kompatscher mit der Regierung Meloni führt und die bis zum Sommer Ergebnisse bringen sollen. Wenn es gelänge, autonome Freiräume etwa für solche Themen zu gewinnen, dann wäre allen geholfen. Autonomie ist eben nicht so abstrakt und auch nicht so unbedeutend für die Südtiroler Alltagssorgen, wie zuweilen getan wird. (cp)