Moskau/Kiew – Der Ursprung des Konflikts zwischen Russland und Ukraine liegt – vereinfacht gesagt – in der Frage der politischen Ausrichtung: Orientiert sich die Ukraine in Richtung Westen oder in Richtung Osten? 2013 hatte die Ukraine unter dem damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch einen prorussischen Kurs eingeschlagen, woraufhin es zu Massenprotesten der proeuropäischen Bevölkerungsgruppen kam. Russland annektierte im März 2014 die Halbinsel Krim am Schwarzen Meer. Ein weiterer Konfliktherd befindet sich seit fast acht Jahren im ostukrainischen Donezkbecken, kurz Donbass. Von Russland angeleitete und ausgerüstete Separatist:innen haben dort zwei international nicht anerkannte „Republiken“ errichtet, und zwar rund um die Städte Donezk und Luhansk.
Seit dem vergangenen Jahr verschärft sich die Lage zunehmend. Russland stationierte Zehntausende Soldaten an der Grenze zur Ukraine, die ihrerseits Truppen an die gemeinsame Grenze verlegte. Die Nato reagierte mit Militärübungen in Osteuropa.
Auf internationaler Ebene wurden in der Folge zahlreiche Beratungen geführt. Die russischen Forderungen sind mittlerweile klar.
SWZ: Das Thema NATO-Osterweiterung ist für den russischen Staatspräsidenten Putin ein rotes Tuch. Er verlangt eine rechtliche Vereinbarung, weitere Mitgliedschaften auszuschließen, zum Beispiel für Georgien und die Ukraine. Sind diese Forderungen berechtigt?

Gerhard Mangott: In jedem Fall handelt es sich um eine russische Sorge – und wir sind nicht in der Position, den Russen zu sagen, wovor sie sich ängstigen sollen bzw. wovon sie sich bedroht fühlen sollen. Es ist zwar so, dass die Nato heute keine aggressiven Intentionen gegenüber Russland hegt, aber verantwortliche staatliche Sicherheitspolitik muss sich stets danach ausrichten, welche Intentionen und Fähigkeiten ein Gegner morgen oder übermorgen haben könnte. Diese mögliche Änderung der – militärischen – Fähigkeiten der Nato beunruhigt Russland. Vor allem in den Nachbarstaaten Ukraine und Georgien möchte es eine solche nicht zulassen.
Warum hat sich die Lage gerade jetzt wieder zugespitzt?
Für Russland bestand die rote Linie lange in einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Im Herbst vergangenen Jahres definierte es diese Linie neu. Bereits eine Zusammenarbeit von Nato-Staaten mit der Ukraine galten fortan als inakzeptabel, also etwa die Lieferung von Waffen, die Ausbildung und das Training der ukrainischen Streitkräfte oder gemeinsame Manöver. Russland forderte von der Nato ultimativ, diese Praxis zu beenden.
Wenn der Westen zustimmt, eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine vorerst auf Eis zu legen, verletzt er damit nicht eines seiner Prinzipien, nämlich dass souveräne Staaten selbst entscheiden können, ob sie der Nato beitreten wollen oder nicht?
Tatsächlich stellt es die Charta von Paris vom November 1990 jedem Staat frei, seine Sicherheitsdisposition selbst zu entscheiden. Auch Russland hat diese Charta unterzeichnet. Übersetzt ist damit nichts anderes als die Freiheit der Bündniswahl gemeint, welche die Nato keinem Staat nehmen kann. Sie wird folglich nicht von ihrer Politik der offenen Tür abgehen, die ein Grundprinzip der Nato ist: Jedes Land, das die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, kann Mitglied der Nato werden. Doch die Freiheit der Bündniswahl bedeutet kein Anrecht auf Mitgliedschaft. Letztendlich muss die Nato entscheiden, ob sie einem Staat, der beitreten möchte, den Beitritt gewährt.
Es stellt sich die Frage: Wie wägt die Nato im Fall der Ukraine ab? Stimmt sie einem Beitrittsgesuch einfach zu oder berücksichtigt sie die Konsequenzen für die europäische Sicherheitsordnung, für die eigene Position als Allianz. Ein Staat wie die Ukraine ist keiner, der Sicherheit bereitstellt, sondern einer, der Sicherheit nachfragt, was bedeutet, dass die Allianz mit ihrer Bündnisgarantie mitunter über Gebühr beansprucht werden könnte.
Die Nato muss somit niemandem das Recht auf Bündniswahl entziehen, sie muss nur anders entscheiden – und die Anfrage nicht positiv beantworten.
Der Westen hat zuletzt intensiv mit Russland verhandelt. Was haben die Gespräche Ihrer Einschätzung nach gebracht?
Die vier zentralen Forderungen Russlands wurden von den Vereinigten Staaten und der Nato zurückgewiesen; erstens die Forderung nach keiner weiteren Ausdehnung der Nato nach Osten, zweitens jene nach der Rücknahme des Mitgliedschaftsversprechens an die Ukraine und wohl auch an Georgien, drittens die Forderung nach dem Abzug aller Nato-Soldaten und ihrer militärischen Infrastruktur aus den osteuropäischen Nato-Mitgliedsstaaten und schließlich, viertens, jene nach dem Abzug aller Nuklearwaffen der USA aus Europa.
Das waren von Anfang an Forderungen, von denen man – wohl auch in Russland – wusste, dass sie von westlicher Seite nicht angenommen werden. Die große Frage ist, was nun passiert. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat verkündet, es gebe noch eine Woche Zeit (bis heute, Freitag; Anm. d. Red.), innerhalb welcher Russland eine schriftliche Stellungnahme des Westens auf die beiden Vertragsentwürfe Russlands erwartet, die Mitte Dezember vorgelegt wurden. Erst dann – und abhängig von dieser Antwort – könne man über weitere Gespräche nachdenken. Die Nato wird die zentralen Forderungen allerdings nicht erfüllen. Sie ist bereit, über andere Punkte zu sprechen, über Rüstungskontrolle oder vertrauensbildende Maßnahmen, etwa was die Größe oder Geografie von Manövern betrifft. Für Russland haben diese jedoch sekundäre Priorität. Lawrow hat eindeutig gesagt, dass die Forderungen aus dem Dezember vergangenen Jahres kein Menü bilden, aus denen man sich etwas herauspicken kann, sondern ein Paket, das nur in seiner Gesamtheit verhandelt werden könne.
Russland hat also noch mal deutlich gemacht, dass es die vier unerfüllbaren Forderungen aufrechterhält. Das zeigt, dass die Verhandlungen früher oder später scheitern müssen – und das eher früher.
Wie wird die russische Führung in dem Fall reagieren?
Sie könnte sagen: Gut, wir haben es versucht, es hat nicht geklappt, und wir gehen zur Tagesordnung über. Putin würde nach innen und nach außen sein Gesicht verlieren. Die andere Variante ist eine militärisch-technische Antwort, von der Putin Mitte Dezember gesprochen hat, wobei noch relativ unklar ist, wie diese konkret aussehen könnte.
Polens Außenminister Zbigniew Rau, der momentan die OSZE führt, warnte zuletzt, die Kriegsgefahr in Europa sei so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es zum Krieg kommt?
Es sind mehrere Szenarien denkbar, angefangen bei einem – unter Anführungszeichen – bloßen Cyberangriff auf die kritische Infrastruktur der Ukraine, auf Banken und große Unternehmen. Möglich ist auch eine Eskalation im Donbass mit dem Ziel einer Ausweitung des von den Separatisten kontrollierten Gebietes; oder das Herstellen einer Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim. Eine Vollinvasion der Ukraine erwarte ich mir allerdings nicht. Es könnte sogar so sein, dass die einzige militärisch-technische Antwort die ist, dass Russland neue Waffensysteme an seiner Westgrenze stationieren und U-Boote vor den USA mit nuklearbestückten Hyperschallraketen an Bord in Stellung bringen wird.
Zusammengefasst: Wir wissen noch nicht, welche Form diese militärisch-technische Antwort annehmen wird, vieles ist denkbar. Dass eine solche Antwort kommt, halte ich für äußerst wahrscheinlich.
Was bedeutet diese Aussicht für Europa?
Die osteuropäischen Mitgliedsstaaten werden die Auswirkungen deutlicher spüren als wir in Mitteleuropa, nämlich im Sinne von Flüchtlingsbewegungen, die eine große militärische Aktion auslösen könnte. Abgesehen davon wird die europäische Wirtschaft betroffen sein, und zwar ab dem Zeitpunkt, ab dem der Westen die Sanktionen verhängt, die in den vergangenen Wochen im Gespräch waren. Das trifft die EU sicher stärker als die USA, denn deren Handelsvolumen mit Russland ist sehr viel größer. Es könnte auch sein, dass Russland als Reaktion auf die Sanktionen seine Gaslieferungen reduziert oder gar unterbricht – und das mitten im Winter, um die Europäer unter Druck zu setzen.
Sie haben die USA angesprochen. Wie würden Sie deren momentane Rolle beschreiben?
Diese Krise wird nur im direkten Gespräch zwischen Russland und den Vereinigten Staaten gelöst, so wie wir das am Montag vor einer Woche hatten beim Treffen der stellvertretenden Außenminister Wendy Sherman und Sergej Rjabkow. Das, was zwei Tage später im Nato-Russland-Rat stattfand, oder drei Tage später im Rahmen der OSZE, sind symbolische Bemühungen, um den Eindruck zu erwecken, dass über europäische Sicherheit nicht ohne die Europäer verhandelt wird. Aber entschieden wird zwischen Washington und Moskau.
Biden hatte eigentlich angestrebt, eine stabile und berechenbare Beziehung mit Russland aufzubauen. Dazu ist in den vergangenen zwölf Monaten eigentlich einiges Positives passiert, aber wenn es eine massive militärische Eskalation Russlands gibt und in der Folge Sanktionen in Kraft treten sowie die militärische Präsenz der Nato in Osteuropa stärker wird, dann ist diese Politik der Annäherung zunichte, und es herrscht eine Logik der Konfrontation.
Wie wirkt sich diese Situation auf das globale Gleichgewicht aus?
Biden und seine Administration können etwas nicht tun, das sie gerne möchten, nämlich sich ganz auf China zu konzentrieren, das der eigentliche strategische Rivale und Herausforderer der USA ist. Das, was gerade passiert, zwingt die USA, sich um europäische Sicherheit zu kümmern, in all ihrer Bandbreite. Das kostet Aufmerksamkeit, finanzielle und militärische Ressourcen. Das ist nicht im Sinne der Vereinigten Staaten, aber es gibt keine Alternative zu dieser Rolle als Sicherheitsgarant für Europa.
Könnte China somit als lachender Dritter hervorgehen?
China ist sicher der einzige Profiteur einer solchen kriegerischen Entwicklung, denn alles, was die Amerikaner dazu zwingt, Aufmerksamkeit und Ressourcen auf Europa zu lenken, fehlt ihnen für Ost- und Südostasien.
Russland sehe ich nicht als Profiteur, denn dessen Kosten sind höher als der Nutzen.
Die wirtschaftlichen Folgen von Sanktionen für Russland dürften tatsächlich enorm sein. Was muss die russische Bevölkerung in dem Fall erwarten?
Eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Das Land befindet sich seit 2020 in einer Rezession, die Reallöhne sind seit 2013 um zwölf Prozent gesunken, die Inflation ist hoch, die Pensionen sind immer noch niedrig. Es gibt Versorgungslücken im Gesundheitswesen und Probleme im Bildungsbereich. Die Bevölkerung ist unzufrieden mit der sozialen Lage. Es ist unklar, ob sich die Russinnen und Russen im Fall von Sanktionen des Westens aufgrund patriotischer Begeisterung dennoch hinter Putin sammeln würden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Gegenteil passiert und die Bevölkerung ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt, auch in Form von Protesten, die Putin innenpolitisch unter Druck setzen würden.
Die Kosten für Russland sind somit nicht nur die Sanktionen des Westens, sondern auch der militärische Aufmarsch der Nato in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten und eine mögliche Krise im Inneren.
Wie sollten sich die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten und Partner verhalten, welche Möglichkeiten bestehen?
Die USA und Europa wollen auf die Forderungen nicht eingehen. Was denkbar – und zu empfehlen – wäre, ist eine öffentliche Erklärung, dass die Ukraine die Aufnahmebedingungen der Nato derzeit nicht erfüllt und, dass dieser Beitritt auf lange Sicht nicht auf der Tagesordnung stehe. Das könnte bereits helfen, um die Situation etwas zu entspannen, wird aber kaum erfolgen. Die westliche Seite will hart bleiben und argumentiert, man wolle sich nicht mit einer Pistole an der Schläfe zu etwas zwingen lassen. Solange die Haltungen auf beiden Seiten sind, wie sie sind, sehe ich keine Verhandlungslösung.
Gibt es eine andere Möglichkeit, den Konflikt zu lösen?
Nein. Wenn die Verhandlungslösung scheitert, wird es eine militärische Eskalation geben. Nahezu alle Experten gehen davon aus. Wie diese aussehen wird, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich gehe von einer begrenzten Aktion aus, aber schon von einem militärischen Konflikt auf ukrainischem Boden.
Interview: Sabina Drescher