Bozen – Von wegen „Urlaub bei Freunden“. Ein Südtirol-Aufenthalt wird immer mehr ein „Urlaub bei Genervten“. Als vergangene Woche die – wenig überraschende – Bilanz des Tourismusjahrs 2023 bekannt wurde, wiederholte sich das Spiel, das es nach überstandenem Corona-Stopp regelmäßig gibt: Die Tourismuskritiker:innen schlugen Alarm ob des neuerlichen fünfprozentigen Nächtigungszuwachses und der erstmaligen Überschreitung der Schwelle von 36 Millionen-Gästenächtigungen trotz Bettenstopp. Diese Art von Urlauberinvasion sei für die Einheimischen nicht mehr verkraftbar und für die Straßen auch nicht, meinten sie. Die Gescholtenen hielten dagegen, dass Südtirols Tourismus Arbeitsplätze und somit Wohlstand sichere, dass das heimische Bettenangebot aufs Jahr gesehen nur zu 40 Prozent ausgelastet sei und dass der Tourismus in den Nebensaisonen und in manchen Gebieten noch ausbaufähig sei.
Fakt ist: Das Landesstatistikinstitut Astat hat im vergangenen Jahr um 7,1 Millionen Gästenächtigungen mehr als vor zehn Jahren registriert und um 2,8 Millionen Nächtigungen mehr als vor fünf Jahren.
Der neue Tourismuslandesrat Luis Walcher stellte sich bei der jüngsten Generalversammlung des Südtiroler Wirtschaftsrings swr-ea ebenfalls schützend vor seinen Zuständigkeitsbereich. Überall, so sagte er, würde man sich über eine positive Entwicklung des Tourismus freuen – nur in Südtirol, da werde der Gast als lästiges Übel dargestellt, und es müsse sich rechtfertigen, wer in diesem Sektor tätig sei.
Fakt ist: Das Landesstatistikinstitut Astat hat im vergangenen Jahr um 7,1 Millionen Gästenächtigungen mehr als vor zehn Jahren registriert und um 2,8 Millionen Nächtigungen mehr als vor fünf Jahren. Mit dem Argument, dass die Auslastung der Gästebetten nur 40 Prozent beträgt und dass sich die künftigen Wachstumsbemühungen auf die Nebensaisonen konzentrieren, lässt sich die Tourismusakzeptanz nicht verbessern, solange die Einheimischen das Gefühl haben, es sei zu viel des Guten. Fakt ist aber auch: Der Blick auf die nackte Nächtigungssumme – 36,1 Millionen – ist verkürzend, wenn nicht gar nichtssagend.
August am Limit, November in Wartestellung
Südtirol hat im vergangenen Jahr im Jänner, im April und im Dezember so viele Gästenächtigungen verzeichnet wie nie zuvor. Die anderen neun Monate waren hingegen keine Rekordmonate. Sogar erstaunlich lange haben der März- und der Mai-Rekord mittlerweile Bestand: Sie stammen von 2016 bzw. 2018.
Vor allem der August scheint seinen Zenit überschritten zu haben. Er ist mit 5,8 Millionen Nächtigungen in Südtirol zwar immer noch der tourismusintensivste Monat des Jahres, aber er blieb 2023 deutlich hinter 2021 (minus 530.000 Nächtigungen) und 2022 (minus 283.000 Nächtigungen) zurück. Es sieht so aus, als würden sich manche Urlaubshungrige aus eigenem Antrieb vom vollen und teuren August abwenden und als regle sich der Markt von selbst zurück, zumindest ein bisschen.
Der August scheint seinen Zenit überschritten zu haben. Er blieb 2023 deutlich hinter 2021 und 2022 zurück.
In den vergangenen zehn Jahren haben die anderen klassischen Urlaubsmonate in Südtirol stärker zugelegt als der August: Juni, Juli, September und Oktober genauso wie Dezember und Jänner. Es scheint also tatsächlich zu gelingen, den Tourismus ein bisschen gleichmäßiger aufs Jahr zu verteilen, so wie IDM Südtirol das anstrebt. Allerdings ist das Belastungsempfinden in der Bevölkerung dadurch nicht gesunken. Vielmehr ist das Gefühl, Südtirol leide unter Overtourism, stärker geworden, weil sich die (Hoch-)Saisonen verlängert haben.
Dass die Tendenz in die von der IDM gewünschte Richtung geht, wenngleich nur sehr leicht, zeigt noch ein anderer Vergleich. Die sechs nächtigungsstärksten Monate (Jänner, Februar, Juni, Juli, August, September) vereinen 67,1 Prozent der Gästenächtigungen auf sich, die sechs nächtigungsschwächeren Monate (März, April, Mai, Oktober, November Dezember) 32,9 Prozent. Vor zehn Jahren lautete das Verhältnis 67,9 zu 32,1 Prozent. Das ist eine minimale Verschiebung, aber immerhin. Ein Gast, der den Sommerurlaub im Juli oder August liebt, lässt sich nun mal nicht so leicht für den November begeistern, nur weil es dann deutlich billiger ist.
Apropos November, dieser ist der einzige Monat, in dem verbreitet Ruhe herrscht. Viele Beherbergungsbetriebe sind geschlossen, und es werden in Südtirol nur um die 650.000 Gästenächtigungen verzeichnet, während alle anderen Monate bei zwei bis knapp sechs Millionen liegen.
Mit Vorsicht sind übrigens Monatsvergleiche vor allem im Frühjahr zu genießen, weil Ostern und andere Feiertage unterschiedlich fallen. Aus diesem Grund wurden in der beistehenden Grafik jeweils zwei Monate zusammengefasst.
Gefragte Luxushotels und Privatquartiere
Hinter dem letztjährigen Tourismusrekord verbirgt sich noch eine weitere Erkenntnis. Südtirols Tourismus verändert sich: Am stärksten haben seit 2013 die Vier- und Fünfsternehotels zugelegt, was bedeutet, dass mehr zahlungskräftige Gäste ins Land kommen. In zehn Jahren sind die Nächtigungen in der gehobenen Hotellerie von 6,2 auf 10,2 Millionen gestiegen. Wachstumsstark waren auch die Privatquartiere, die die Nächtigungen von 1,5 auf 3,3 Millionen schrauben konnten.
Unterm Strich vereinen diese beiden Kategorien 5,8 der 7,1 Millionen an zusätzlichen Gästenächtigungen auf sich. Hingegen verlieren die Ein-, Zwei- und Dreisternebetriebe.
Das liegt auch am veränderten Bettenangebot: Laut Astat wuchs die Anzahl der Gästebetten seit 2013 in Südtirol um 23.000. Bei den Vier- und Fünfsternehotels (plus 17.000) und bei den Privatquartieren (plus 14.000) betrug der Zuwachs aber sage und schreibe 31.000 Betten. Die Ein- bis Dreisternebetriebe verloren 14.000 Betten.
Pustertal: stark, stärker, am stärksten
Wenn die IDM- und HGV-Verantwortlichen gebetsmühlenartig betonen, dass die Tourismusintensität je nach Gegend sehr unterschiedlich ist, haben sie natürlich recht. Das Pustertal hat in den vergangenen zehn Jahren seine Rolle als tourismusstärkster Bezirk des Landes ausgebaut. 11,2 der 36,1 Millionen Nächtigungen werden im Pustertal erzielt. Es sind 2,4 Millionen mehr als vor zehn Jahren, das entspricht einem Drittel des gesamten Südtiroler Nächtigungszuwachses. Kein anderer Bezirk hat ein stärkeres Tourismuswachstum erlebt als das ohnehin bereits tourismusstärkste Pustertal. Im Salten-Schlern-Gebiet und im Burggrafenamt kamen knapp 1,4 bzw. 1,1 Millionen Nächtigungen dazu.
Kein anderer Bezirk hat in den vergangenen zehn Jahren ein stärkeres Tourismuswachstum erlebt als das ohnehin bereits tourismusstärkste Pustertal.
Kurzum, Südtirols Tourismusrekorde entfalten ihre Wirkung nicht zu jedem Zeitpunkt, in jeder Kategorie und in jeder Gegend gleich stark. Tourismuskritiker:innen schlussfolgern: Zu manchen Zeiten und in manchen Gegenden ist die Plage überdurchschnittlich stark. Tourismustreibende hingegen analysieren: In manchen Zeiten und Gegenden ist noch etwas drin.