St. Leonhard in Passeier – Ein bekannter Geruch steigt beim Betreten von Simon Volggers Werkstatt in die Nase: erdig, leicht süßlich. Es riecht nach Leder. Das Auge findet sich hingegen nicht so leicht zurecht in diesem Raum am Eingang des Dorfzentrums von St. Leonhard in Passeier. Da liegt etwas, das aussieht wie Stofffetzen, aber wohl Leder sein muss, weiter hinten steht ein unbekanntes Arbeitsgerät, daneben Gefäße, die mit etwas Grünem gefüllt sind. Sieht dickflüssig aus, fast schon zäh. „Das ist Plastilin“, wird Simon Volgger, Schuhmacher, später erklären. „Man verwendet es, um die Füße in ihren kleinsten Details abzumessen und daraufhin Einlagen zu fertigen.“
Auf einer Werkbank liegt dann endlich das, womit Besucher:innen der Werkstatt wohl rechnen: Schuhe. Manche sind bereit, abgeholt zu werden, andere sehen so aus, als müssten sie repariert werden. Einem weiteren Paar fehlt noch die Sohle. Sie wird in den kommenden Tagen festgemacht. Das ist also das Reich, das Simon Volgger, 26, seit mittlerweile zwei Jahren sein eigenes nennen kann.
Ein Wanderschuster verliebt sich im Passeiertal
Simon Volgger ist Schuhmacher in dritter Generation. Sein Großvater stammte aus dem Ridnauntal und war als Wanderschuster in vielen Dörfern unterwegs. Als er nach Moos im Passeiertal kam, wollte er aber nicht mehr weg, denn: Er hatte sich verliebt. Er eröffnete eine Werkstatt, die später Simons Vater mit dessen Bruder weiterführte und um ein Geschäft erweiterte (Letzterer eröffnete später ein Geschäft in Meran, Simons Vater blieb im Passeiertal).
In Moos wuchs Simon Volgger auf, gemeinsam mit seinen drei Geschwistern. „Wir waren viel in der Werkstatt, haben dort gespielt, gewerkelt und uns auch mal in den Finger geschnitten“, erzählt er. Aus der ständigen Präsenz des Handwerks sei wohl auch seine Liebe zu diesem Beruf gewachsen. Irgendwann übersiedelten dann das Geschäft, die Werkstatt und später auch die Familie nach St. Leonhard.
Berufswunsch: Orthopädieschuhmacher
Als Volgger sich nach der Mittelschule für einen Beruf entscheiden musste, fiel ihm das leicht: Er will Schuhmacher werden, oder besser gesagt: Orthopädieschuhmacher. Vorher musste er allerdings noch den Grundlehrgang an der Berufsschule absolvieren („Der sollte meiner Meinung nach abgeschafft werden. Aber das ist eine andere Geschichte“, sagt der 26-Jährige.).
Mit 15 begann er seine Berufsausbildung und besuchte daraufhin vier Jahre lang in mehrwöchigen Blöcken die Schule für Orthopädieschuhmacher:innen in Hall in Tirol. Seine Klasse bestand aus einigen wenigen Schülerinnen und Schülern aus Südtirol, Tirol, Salzburg und Vorarlberg. Nach dieser Ausbildung absolvierte Volgger noch die Meisterschule in Landshut. Dort lernte er seinen heutigen Mitarbeiter kennen, aber dazu später mehr.
Ein Schuh geht in Flammen auf
Auf dem Weg zum ausgebildeten Schuhmacher passierte Simon Volgger das ein oder andere Malheur, über das er heute noch schmunzelt. „Einmal ist mir ein ganzer Schuh in Flammen aufgegangen“, ein anderes Mal habe er aus Versehen bei einem der letzten Arbeitsschritte den ganzen Schuh, den er in Dutzenden Stunden Handarbeit gefertigt hatte, auseinandergerissen. „Das tat natürlich weh. Aber ich war in den Momenten heilfroh, dass es keine Schuhe waren, die ein Kunde zur Reparatur gebracht hatte.“
Heute passiert das dem 26-Jährigen nicht mehr. Er weiß genau, bei welchen Arbeitsschritten er besonders vorsichtig sein muss. „Ein Schuhmacher muss handwerklich geschickt, kreativ und auch kontaktfreudig sein. Und er muss geruchsresistent sein.“ Warum das? „Na wegen der stinkigen Füße“, scherzt Volgger. Das Handwerk lerne man aber, wie bei vielen anderen Berufen, erst im Betrieb.
„Ein Schuhmacher muss handwerklich geschickt, kreativ und auch kontaktfreudig sein. Und er muss geruchsresistent sein.“ Warum das? „Na wegen der stinkigen Füße“, scherzt Volgger.
Um es zu erklären, holt er ein Buch aus dem Regal. „Herrenschuhe handgefertigt“ steht auf dem Einband. Er blättert darin, sucht nach einer bestimmten Seite. Dann findet er sie. Sie zeigt den ersten Arbeitsschritt beim Fertigen eines Schuhs. Und da beginnt Volgger bis ins kleinste Detail zu erklären, wie aus einigen Stücken Leder, mithilfe von Fäden, Holz und anderen Materialien, ein Schuh entsteht.
Maßanfertigung für die Füße
„Das geht so“, erläutert Volgger. „Zuallererst wird die Trittspur genommen.“ Das geschehe mithilfe einer Silikonmembran, die auf der Hinterseite mit Tinte überzogen ist. „Indem der Kunde auf die Membran steigt, erhält man seinen Fußabdruck“, erklärt er, während er den Rahmen mit der weißen Gummihaut hochhält. Der Fuß werde genauestens abgemessen, etwa die Entfernung zwischen dem kleinen Zeh und dem Fußballen. Als nächstes werde der sogenannte Leisten aus Holz hergestellt (siehe unten). Ein Leisten sei wie die Kopie der Fußform, nur eben aus Holz. Darauf werde später dann der Schuh zusammengesetzt. „Ein guter Leisten ist das Um und Auf. Wenn der nicht passt, passt der Schuh am Ende ebenfalls nicht.“
Nach dem Leisten werde das sogenannte Oberteil gefertigt, also die obere Seite des Schuhs. Dabei gebe es verschiedene Schuhtypen, nach denen die Schuhe designt werden können, darunter „Oxforder, Derby, Monk und Slipper“. Aber es gibt noch viele weitere. Das Design zeichne der Schuhmacher zweidimensional, danach würden Schablonen vorbereitet, die Stücke aus Leder ausgeschnitten, bei Bedarf Löcher gemacht. Alles per Hand.
3.000 bis 4.000 Mal klopfen
Dann geht’s ans Zwicken, erläutert Volgger. Alle Teile werden dabei mit Nägeln auf dem Leisten angebracht. „Daraufhin klopft man 3.000 bis 4.000 Mal auf den Schuh, damit die Übergänge zwischen den einzelnen Teilen nicht mehr sichtbar sind“, sagt der 26-Jährige. Dabei klopft er schnell mit den Fingern auf den Tisch. „In der Werkstatt klingt das so.“ Man müsse dabei mit viel Kraft, aber noch mehr Gefühl arbeiten.
Danach werde der Rahmen vernäht – das ist die Außenkante der Schuhe –, und dann kämen noch die Sohle und der Absatz drauf. In einem der letzten Arbeitsschritte gehe es darum, den Leisten vom restlichen Schuh zu trennen. Dabei könne es schnell passieren, dass der Schuh auseinandergerissen wird. „So, das war jetzt die Erklärung auf die Schnelle“, sagt der Schuhmacher, nachdem er etwa 20 Minuten über die Arbeitsschritte gesprochen hat. Dann lacht er. „Entschuldigung, ich komme bei diesem Thema schnell in einen Redefluss und kann nicht mehr aufhören zu erklären.“ Aber nur zur Info, fügt er hinzu: Es gebe noch zahlreiche weitere Details, die bei jedem Schuh individuell gestaltet werden könnten.
40 bis 60 Arbeitsstunden
40 bis 60 Stunden arbeitet der Schuhmacher an einem Paar Schuhe, im Schnitt sind es 50. „Also geht sich in einer Woche ein Paar gut aus“, sagt Volgger. 50-Stunden-Wochen seien für ihn eher die Regel als die Ausnahme, „aber das ist so, wenn man selbstständig ist“. Trotzdem arbeite er deutlich weniger, als es sein Vater getan hat. „Die Werkstatt war früher eigentlich immer offen, heute haben wir hingegen sehr reduzierte Öffnungszeiten.“
Montags hat die Werkstatt den ganzen Tag offen, Dienstag, Mittwoch und Freitag hingegen nur drei Stunden am Vormittag, Termine können hingegen immer vereinbart werden. „Wir sind – auch wenn die Werkstatt zu ist – hier und arbeiten. Aber wenn uns mal am Dienstagnachmittag nach wandern ist, dann gehen wir eben wandern.“
Wichtiger, als Stunden zu stempeln, sei, dass am Ende der Woche die Arbeit erledigt ist, das wisse auch sein Mitarbeiter. „Mal ist er zwölf Stunden hier, mal läuft es gar nicht gut und er geht früher nach Hause. Das ist in unserem Beruf so.“ Seinen heutigen Angestellten lernte Volgger während der Meisterausbildung kennen. „Irgendwann hat mich Johannes angerufen und gefragt, ob ich Verstärkung brauche. Das war ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als mein Vater in Rente gehen wollte“, erzählt der 26-Jährige. Der Anruf sei ein sehr glücklicher Zufall gewesen, denn alleine hätte er die ganzen Aufträge wohl nicht stemmen können.
Nike, Vans & Co. sind keine Konkurrenz
Von Jahresanfang bis Anfang April stehen 14 Paar Schuhe auf der Auftragsliste von Volgger, dazu kommen zahlreiche Reparaturen. Mit der Auftragslage zeigt er sich durchaus zufrieden, in Werbung investiere er kaum. „Viel wichtiger ist für uns Mundwerbung“, so der Schuhmacher. Alle zwei Wochen hat er ein Standl im Hotel Andreus, wo er auch immer wieder Kundinnen und Kunden gewinne.
Er zeigt sich überzeugt, dass sein Handwerk noch lange gefragt sein wird, auch wenn es in anderen Läden Schuhe um einen Bruchteil dessen, was sie bei ihm kosten, zu kaufen gibt. Ab 2.000 Euro kostet ein Paar Maßschuhe, dazu kommen 700 Euro für die (einmalige) Anfertigung des Leisten. Die Kundschaft sei bereit, für die Arbeit zu zahlen, sagt Volgger. „So gut wie ein maßangefertigter Schuh sitzt keiner. Das schätzen die Leute“, findet er. Ein Blick auf seine Füße verrät: Er selbst trägt ebenfalls Schuhe auf Maß. Selbst angefertigt, natürlich. Ob er ab und zu auch Sneakers trägt? „Sneakers kann man auch auf Maß fertigen, sie halten nur weniger lange“, sagt er. Aber ja, er trage auch industriell hergestellte Schuhe. „Aber wirklich nur manchmal. Eigentlich nur zum Wandern und beim Sport.“
In Richtung industriell hergestellter Schuhe geht auch ein Traum, den er mit sich herumträgt: „Ich träume davon, eine Schuhfabrik zu eröffnen und dort Qualitätsschuhe aus regionalen und nachhaltigen Materialien herzustellen. Aber wer weiß, ob daraus etwas werden kann.“ Sollte er selbst – aus welchem Grund auch immer – keine Schuhe mehr herstellen, hat er auch schon einen Plan B: „Dann gehe ich zur Sasa, werde Busfahrer und tuckere jeden Tag von Meran ins Passeiertal. Große Fahrzeuge haben mich immer schon fasziniert“, erläutert Volgger. „Sollte es dazu kommen, können wir über meine Neuorientierung reden.“
DIE SERIE In der Serie „Jung & hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle bisher erschienenen Artikel aus der Reihe finden Sie hier.