Bozen – Der Mensch ist von Natur aus bequem. Ausnahmen bestätigen zwar die Regel, aber grundsätzlich ist der Bewahrungsdrang stärker als der Trieb, Neues zu wagen, zumindest so lange, wie sich der Mensch in seiner Haut einigermaßen wohl fühlt. Und so sind auch die Südtiroler absolute Meister im Bewahren, die Politik genauso wie die Lobbys und überhaupt die Bürger. Immer dann, wenn sich am Horizont Veränderungen abzeichnen – egal, ob dies ein schrumpfender Landeshaushalt oder ein liberalisierter Handel ist –, kommt reflexartig Weltuntergangsstimmung auf. Alles muss bleiben, wie es immer war, sonst ist es schlecht. Warum sollte geändert werden, was sich bisher in Südtirol bewährt hat? Tatsächlich hat die heimische Politik in den vergangenen Jahrzehnten sehr viele richtige Entscheidungen getroffen und mit dazu beigetragen, dass Südtirol heute ein Land mit einem hohen Wohlstandsniveau, einer gesunden Wirtschaft und einem dichten (zu dichten?) sozialen Netz ist. Allerdings sind die alten Rezepte mit hoher Wahrscheinlichkeit die falschen Rezepte für die Zukunft. Die Welt erlebt einen rasanten Wandel, spätestens seit 2008 ist nichts mehr wie es war, und Südtirol wird sich mit wandeln müssen, wenn es so gesund bleiben will, wie es bisher war. Die Mängel im Südtiroler Erfolgssystem wurden bisher zugedeckt, weil ein überdurchschnittlich keimender Landeshaushalt Wirtschaftswachstum und Wohlstand trieb. Diese Zeiten sind aber vorbei.
Noch ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit von (auch unangenehmen) Reformen kaum verbreitet. Ganz offensichtlich ist der Leidensdruck trotz allem Wehklagen über sinkende Kaufkraft, schwindende Gewinnmargen und hohe Steuern noch nicht groß genug, um das instinktive Festklammern an Bewährtem zu lösen. Die Gegenbewegung, die Althergebrachtes offen infrage stellt und Veränderung fordert, ist noch schwach – aber sie existiert und gewinnt langsam Anhänger. Das macht Hoffnung. Bei Veranstaltungen werden Worte wie „Reformen“ und „Umdenken“ immer öfter in den Mund genommen.
Südtirol muss bereit sein, heilige Kühe unter die Lupe zu nehmen und gegebenenfalls zu schlachten. Beispielsweise gehört endlich unvoreingenommen diskutiert, ob die vielen Subventionen – von der Wirtschaftsförderung über das Familiengeld bis hin zur Wohnbauförderung – der Wirtschaft und Gesellschaft wirklich nützen. „Subventionen machen dort Sinn, wo sie Entwicklungen anschieben bzw. steuern“, stellte Landesrat Roberto Bizzo im vergangenen Herbst richtig fest – weise Worte, denen Taten folgen sollten. Es muss nicht gleich unsozial sein, wer Förderungen infrage stellt. Wo Subventionen nur einen Mitnahmeeffekt generieren („Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“), wären die Euro-Millionen anderweitig besser angelegt. Bisher konnte die Politik aus dem reichen Landeshaushalt alle mit der Gießkanne beglücken, aber das wird künftig nicht mehr finanzierbar sein.
Auch die in Beton gegossene Raumordnung ist zu überdenken. Die von Ex-Landesrat Michl Laimer begonnene Reform wäre eine Chance, die Raumordnung neu zu schreiben, anstatt sie nur fortzuschreiben. Das Argument „Was nicht war, darf auch künftig nicht sein“ hilft Südtirol nicht weiter, auch deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dass Einzelne im Dickicht der Raumordnung doch immer Schleichwege finden, um zu verwirklichen, was eigentlich nicht sein darf. Südtirols Raumordnung ist mit einer Tinte namens Misstrauen geschrieben und verhindert damit wünschenswerte unternehmerische Initiativen, ohne unerwünschte Entwicklungen zu vermeiden. UVS-Direktor Josef Negri fordert für die Gesetzgebung ganz allgemein einen Paradigmenwechsel: „Wir sollten regeln, was verboten ist, und nicht regeln, was erlaubt ist.“ Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich innerhalb klar definierter Leitplanken frei bewegen können. Daher stellt sich die Frage, ob Südtirol all seine über 1.000 Landesbestimmungen wirklich braucht oder ob sie vielmehr Fesseln auf dem Weg in die Zukunft sind. Bestimmungen schaffen genauso übrigens wie Förderungen Bürokratie – jene Bürokratie, die in den letzten zwei Wochen wieder in den Blickpunkt gerückt ist (siehe SWZ 22/12 vom 1. Juni).
Ein Rechtsexperte verriet kürzlich der SWZ: „Vor 20 Jahren hat man uns in ganz Italien für unsere Gesetze beneidet. Heute ist das anders. Die Gesetze sind oft schlecht geschrieben. Und mit dem Verweis auf die Autonomie wird auf gesamtstaatliche Gesetze immer noch ein i-Tüpfelchen dazugeschrieben.“ Schuld daran hat der Gesetzgeber – sprich Politik und Beamte – genauso wie die Lobbys, die der Politik im Nacken sitzen.
Nicht nur die Politik muss umdenken. Auch die Interessenvertretungen müssen es tun. Genauso die Unternehmer, deren Kooperations-, Export- und Innovationswille vielfach noch zu schwach ausgeprägt ist, und die Arbeitnehmer, die das ewige Arbeitsverhältnis als das einzig Wahre betrachten. Wenn das WIFO Mängel bei den Sprachkenntnissen der Südtiroler feststellt, dann ist dies ein deutlicher Ausdruck für eine gewisse Bequemlichkeit. Trägheit kann Südtirol auf dem Weg in die Zukunft aber am wenigsten brauchen. Italien hat vorgemacht, wo Trägheit und mangelnder Erneuerungswille enden.