Rom/Brüssel – Finanzminister Pier Carlo Padoan und seine Mitarbeiter basteln derzeit am Haushalt 2016. Sie jonglieren mit Zahlen, um einen Spagat zu schaffen: Zum einen müssen die versprochenen Steuersenkungen (Tasi) umgesetzt werden, zum anderen muss das kritische Brüssel zufriedengestellt werden, das mit Argusaugen auf das tief verschuldete Italien blickt. Dabei kreist die öffentliche Diskussion vor allem um einen Wert: Wird die Neuverschuldung 2,2 Prozent des BIP ausmachen oder 2,6 Prozent, wie es Regierungschef Matteo Renzi möchte? Ganz sicher wird die Neuverschuldung nicht „nur“ 1,8 Prozent betragen, wie Renzi das noch im Frühjahr versprach.
Die Zahlenspielereien werden von der Öffentlichkeit recht entspannt wahrgenommen, haben ihnen doch die wechselnden Regierungen der vergangenen Jahre eingetrichtert, dass jeder Wert unter 3,0 Prozent gut ist. Die sogenannten Maastricht-Kriterien von 1992 gestehen den Staaten tatsächlich eine Neuverschuldung von drei Prozent des BIP zu, allerdings nur, wenn die Gesamtverschuldung unter 60 Prozent des BIP beträgt – in Italien hat sie hingegen längst die 130-Prozent-Marke überschritten. Das wird in der Diskussion wohlweislich übersehen, genauso wie die Tatsache, dass da jedenfalls neue Schulden gemacht werden, die spätere Generationen bezahlen müssen. Beträgt die Neuverschuldung 2,2 Prozent, dann sind es 35 Milliarden. Beträgt sie 2,6 Prozent, dann sind es 42 Milliarden oder acht Südtiroler Landeshaushalte, die auf jenen Schuldenberg draufgepackt werden, der inzwischen die 2.200-Milliarden-Marke überschritten hat.
Erst wenn es einer Regierung endlich gelingt, den Wert auf null zu drücken, werden keine neuen Schulden gemacht – Schulden abgebaut werden auch dann noch nicht! Abgesehen davon, basieren die Rechnereien auf BIP-Schätzungen. Entwickelt sich die Wirtschaft weniger gut als prognostiziert, und das war in den vergangenen Jahren regelmäßig der Fall, dann werden aus einem Defizit von 2,6 Prozent des BIP schnell mal drei und mehr Prozent. Und noch etwas: Das Defizit-BIP-Verhältnis sagt nur die halbe Wahrheit über die Neuverschuldung, weil gewisse Ausgabenposten mit Brüssels Segen ausgeklammert werden dürfen – in Wirklichkeit ist die Neuverschuldung also höher.
Sonderlich beruhigend ist es folglich nicht, wenn Renzi & Co. eine Neuverschuldung von knapp unter drei Prozent des BIP als Erfolg verkaufen. Im Gegenteil, es ist regelrecht erschreckend, dass es der Regierung nur mit Ach und Krach gelingt, das Defizit unter der Drei-Prozent-Marke zu halten. Die Rahmenbedingungen sind so günstig wie seit Ewigkeiten nicht mehr, und EZB-Chef Mario Draghi hat seine Landsleute wiederholt gemahnt, die Zeit für Reformen zu nutzen. Erstens haben die zeitgleichen Talfahrten von Euro und Erdölpreis der europäischen – und italienischen – Wirtschaft einen unverhofften Aufschwung beschert, der keineswegs hausgemacht ist und deswegen alles andere als gefestigt ist. Zweitens hat die expansive Geldpolitik der EZB – und allein sie! – die Zinsen auf ein Rekordtief purzeln lassen und jenen Staat, der noch 2011 unmittelbar vor dem Bankrott stand, vorerst gerettet.
Der italienische Staat profitiert massiv von der Geldpolitik des mächtigen Landsmannes im EZB-Turm: Vor zwei Jahren schätzte der damalige Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni die Zinsbelastung für 2015 auf 88 Milliarden – in Wirklichkeit sind es heuer nur zwischen 70 und 75 Milliarden, weil die Zinsen auf Staatspapiere wie durch Geisterhand von historischen Höchst- auf historische Tiefststände gefallen sind. Die Zinsersparnis entspricht zirka einem BIP-Prozentpunkt. Und trotz alledem haben Renzi und Padoan Mühe, die Drei-Prozent-Marke einzuhalten?
Sicher, eine Haushaltspolitik mit allzu rabiaten Sparmaßnahmen wäre kontraproduktiv, weil sie den zaghaften Wirtschaftsaufschwung zunichte machen würde. Und Schulden müssen nicht zwangsläufig schlecht sein, wenn sie etwa für Investitionen dienen, welche morgen (Steuer-)Einnahmen sichern. Dies ändert aber nichts daran, dass energische Einsparungen unumgänglich sind. Schon heute lasten die Zinszahlungen derart schwer auf dem italienischen Haushalt, dass der an und für sich positive Haushalt (ohne Zinsen) zum negativen Haushalt (mit Zinsen) wird. Solange der Schuldenberg wächst, wird die Zinslast nur noch schwerer.
Trotzdem hat Matteo Renzi sein Versprechen, einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden vorzulegen, gerade erst von 2017 auf 2018 verschoben. Noch im Frühjahr hatte er das Jahr 2017 genannt. Renzi setzt damit eine lange politische Tradition fort. Italiens Regierungen schieben den „pareggio di bilancio“ vor sich her. Schon 2001 versprach der damalige Finanzminister Giulio Tremonti der EU, das Italien 2003 einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren werde. „Sonst trete ich zurück“, so Tremonti damals. Der ausgeglichene Haushalt blieb aus, ebenso wie Tremontis Rücktritt. 2007 nannte Regierungschef Romano Prodi das Jahr 2011 als „realistischen Zeitpunkt“.
Dann kam die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise inklusive Marktturbulenzen. Im Juli 2011 versprach Regierungschef Silvio Berlusconi einen ausgeglichenen Haushalt „innerhalb 2014“. Einen schlappen Monat später gelobte er unter dem Eindruck des wachsenden Druckes vonseiten der Finanzmärkte, es schon 2013 zu packen. Es nützte nichts, Berlusconi musste zurücktreten. Nachfolger Mario Monti wiederholte Berlusconis Versprechen: 2013 ist es so weit. Im April 2012 schrieb das Parlament den ausgeglichenen Haushalt sogar als verfassungsrechtliches Prinzip fest – nur bei „besonderen Ereignissen“, zum Beispiel bei „ernsthaften wirtschaftlichen Rezessionen“ sei eine Ausnahme erlaubt. Diese Ausnahme wird seither stets gemacht. Vor exakt einem Jahr fasste Matteo Renzi das Jahr 2017 ins Auge. Jetzt ist es 2018. Und was ist im nächsten Jahr?
Die Schulden wachsen derweil weiter. Der Staat will den Aufschwung erkaufen. Die Rechnung werden irgendwann seine Bürger präsentiert bekommen.