Bozen/London – „Mein Job ist darauf ausgerichtet, einige der gefährlichsten Menschen der Gesellschaft zu treffen.“ Das sagt einer, der weiß, wovon er spricht: Simon Harding, Experte für Terrorismusbekämpfung und Mordermittlungen. 2021 ging er bei der Metropolitan Police London in den Ruhestand, nachdem er 30 Jahre lang als leitender Ermittlungsbeamter („Senior Investigating Officer“, SIO) im Morddezernat („Homicide Specialist Crime Command“) und im Kommando für Terrorismusbekämpfung (SO15) gearbeitet hatte.
Harding leitete mehrere Ermittlungen zu Terroranschlägen in Großbritannien und im Ausland, wobei sein Fachwissen bei den Terroranschlägen in Tunesien im Jahr 2015 und bei der Rückführung von Häftlingen aus Guantanamo Bay, Kuba, zum Einsatz kam. Harding gehörte auch den Teams an, die 2005 und 2017 die Terroranschläge in London untersuchten.

SWZ: Herr Harding, Sie haben in Ihrer Karriere Ermittlungen zu verschiedenen Terroranschlägen geleitet, haben Erfahrung mit zahlreichen Tötungsdelikten gesammelt und waren an Tausenden Tatorten vor Ort. Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?
Simon Harding: Ja. Man darf sich nicht von dem, was man sieht und hört, und den Menschen, denen man begegnet, beeinflussen lassen. Dann wäre man ein sehr unglücklicher Mensch. Mein Job ist darauf ausgerichtet, die gefährlichsten Menschen in der Gesellschaft zu treffen, und wir haben die Verantwortung, diese Personen hinter Gitter zu bringen. Aber ja, ich glaube immer noch an das Gute im Menschen. Ich glaube, dass die guten Menschen die schlechten überwiegen. Ich habe immer noch Vertrauen in die meisten Menschen.
Was hat Ihnen Ihre Arbeit über die Menschen gelehrt?
Man sieht bei meiner Arbeit beide Enden des Spektrums. Bei Terroranschlägen sieht man Menschen, die zu den Vorfällen hinlaufen und helfen und alles tun, um andere Menschen zu schützen; die andere in das eigene Haus hereinlassen, die Türen öffnen, um so viele Menschen wie möglich in eine sichere Umgebung zu bringen. Das sind die Menschen in der Gesellschaft, die für andere da sind, wenn sie Hilfe brauchen. Manche Menschen haben das nicht in ihrer DNA, sie haben einfach Angst vor dem, was vor ihnen passiert. Am anderen Ende des Spektrums gibt es Menschen, die bei einem Terroranschlag jemanden ermorden oder versuchen, viele Menschen zu ermorden. Es ist sehr schwer zu begreifen, was in diesen Menschen vorgeht. Nicht immer ist eine psychische Störung die Ursache. Manchmal ist ein Mensch nicht verrückt, sondern böse. Es gibt Menschen, die aus verschiedenen Gründen beschlossen haben, so viel Schaden wie möglich anzurichten.
„Es ist sehr schwer zu begreifen, was in diesen Menschen vorgeht. Nicht immer ist eine psychische Störung die Ursache. Manchmal ist ein Mensch nicht verrückt, sondern böse.“
Sie haben viel Leid erlebt. Hinterlässt das Spuren an der eigenen Persönlichkeit?
Das müssen Sie vielleicht andere Leute fragen. Es kann Menschen auf unterschiedliche Art und Weise beeinflussen, aber ich war noch nie jemand, den die Ermittlungen stark betroffen gemacht haben. Natürlich gibt es Fälle – wenn zum Beispiel ein Kind getötet wurde –, bei denen man sich hinsetzt und darüber nachdenkt, was man gerade erlebt oder gesehen hat. Aber in solchen Situationen verweile ich nie lange, weil ich immer das Gefühl habe, dass ich meine Arbeit machen muss, dass es eine Familie gibt, die mich und mein Team braucht. Ich würde also gerne sagen: Nein, das Leid hat mich nicht beeinflusst. Trotzdem merke ich – auch nach zwei Jahren im Ruhestand –, dass ich mich, wenn ich verdächtige Leute sehe, umschaue und sie versuche einzuordnen. Aber das tun alle Polizeibeamten.
Also wurden Sie durch Ihren Job misstrauischer.
Ja. Ich meine, manche Menschen fallen mehr auf als andere. Aber ich bin nicht allen Menschen gegenüber misstrauisch. Sonst wäre mein Leben ein trauriges.
Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Beruf gekommen?
Ich war 20, als ich in London zur Polizei ging. Ein Freund von mir war bei der Polizei, und ich dachte mir, ich könnte es ja auch mal versuchen. Um ehrlich zu sein, hatte ich anfangs kein angeborenes Talent für diesen Job. Ich war nur groß und konnte gut mit Leuten reden. Aber das war genug. Den Rest lernt man. In London beginnt man als Polizeibeamter und spezialisiert sich dann auf etwas anderes. Erst nach ein paar Jahren beschloss ich, dass ich Ermittler werden wollte. Eine Zeit lang habe ich mich auf Serienvergewaltiger spezialisiert, dann auf Morde und anschließend auf Terrorismusbekämpfung. Dann kam ich wieder zu den Morden zurück.
„Wenn man ermittelt und keine Antwort hat, ist es sehr frustrierend zu wissen, dass ein Mörder noch da draußen ist. Dass er immer noch eine gefährliche Person sein könnte.“
In wie vielen Mordfällen haben Sie ermittelt?
Das ist schwer zu sagen. Es sind sicherlich mehr als 80, aber es gibt Fälle, die man zunächst für Morde hält, die aber nicht unbedingt Morde sind. Es kann zum Beispiel komplizierte Selbstmorde geben, die zunächst wie Morde aussehen. Ich war schon an Tausenden von Tatorten. Und dann habe ich noch in einer Reihe von Terrorismusbekämpfungsfällen ermittelt, bei denen es uns gelang, die Terroristen zu stoppen, bevor etwas passierte.
Und wie viele der Mordfälle haben Sie aufgeklärt?
Das klingt sehr hochtrabend, aber es gibt keinen Fall, den ich nicht gelöst habe. Ein Jahr vor meiner Pensionierung begann ich mit einem Fall, den ich dann an jemand anderes übergab. Dieser Fall war zunächst ungelöst. Dem Beamten gelang es aber vor Kurzem, den Fall zu lösen. Ich hatte ein fantastisches Team von Beamten und wir waren sehr erfolgreich.
Trotzdem sind Fälle ja gerade am Anfang nicht immer eindeutig. Wie lebt es sich mit ungeklärten Fällen?
Es ist hart. Ich teilte mir ein Büro mit zwei anderen leitenden Ermittlern, und einige der Fälle, die sie bekamen, waren unglaublich kompliziert, wie eine Schießerei im Vorbeifahren oder Ähnliches. Sie hatten keine Videoüberwachung, keine Spurensicherung, keine Zeugen. Sie wussten nicht, wer der Verdächtige sein könnte. Und das konnte unglaublich frustrierend sein, weil sie vor die Familie treten und sagen mussten: „Wir wissen einfach nicht, wer es war.“ Oft versteht man vielleicht die Gründe, aber man weiß nicht, wer es war.
Wie meinen Sie das?
Wenn man sich das Opfer ansieht, findet man oft die Antwort auf die Frage, warum es zur Zielscheibe geworden ist. In den seltensten Fällen handelt es sich um einen Angriff eines völlig Fremden. Wir nennen es Viktimologie, wenn man sich das Opfer ansieht und versucht, die Antwort zu finden. Wenn man ermittelt und vielleicht keine Antwort hat, ist es sehr frustrierend zu wissen, dass ein Mörder noch da draußen ist. Dass er immer noch eine gefährliche Person sein könnte. Ich hatte zum Beispiel den Fall zweier Mädchen, die in einem Park im Norden Londons ermordet wurden, und wir wussten zwei oder drei Wochen lang nicht, wer der Mörder sein könnte. Das belastet einen die ganze Zeit, weil man sich Sorgen macht, dass er wieder zuschlagen könnte. Und man reflektiert sich ständig selbst: Mache ich alles richtig? Wenn man sich also in dieser Phase eines ungelösten Falls befindet oder einen Mörder hat und ihn noch nicht gefunden hat – ja, das ist eine schwierige Phase. Man geht spät ins Bett und kommt früh ins Büro. Während dieser frühen Phasen bekommt man nicht viel Schlaf.
Wie genau geht man eigentlich vor, wenn man einen Mord aufklären muss?
Es gibt ein bestimmtes Muster, dem man folgt. Der Tatort selbst, die Spurensicherung, Überwachungskameras, Telefone, Fahrzeuge, Finanzen: Man sieht sich all diese Dinge an und versucht zu verstehen. Man fängt in der Mitte an, also am Tatort selbst, und versucht, ihn zu begreifen. Es ist ein vorgeschriebener Prozess, aber es geht auch um die Beamten und ihr Engagement. Diese sind wichtig, um die Ermittlungen voranzutreiben.
Haben Sie manchmal auch Verständnis für die Täter entwickelt?
Ja, man versteht vielleicht, warum sie es getan haben, aber man hat kein Mitgefühl mit ihnen. Manche Menschen haben schwere psychische Probleme und das ist der Grund, warum sie etwas getan haben. Mein Hauptaugenmerk liegt aber immer auf der Familie des Opfers, mehr als alles andere. Ein Motiv für eine Straftat zu verstehen, ist wichtig, aber nicht immer notwendig.
Wie sind Sie Mördern gegenübergetreten?
Was man innerlich fühlt, ist ein sehr schwieriges Gefühl. Man darf es nicht zeigen und man freut sich für die Familie, wenn der Mörder ins Gefängnis geht. Aber ich bin schon vielen Mördern begegnet, bei denen man das Böse in den Augen sehen konnte. Da muss man professionell bleiben und sicherstellen, dass man nichts tut, was den Prozess zum Scheitern bringen könnte.
Interview: Silvia Santandrea
Info
Harding bei TEDx in Bozen
Am morgigen Samstag (20. Mai) tritt Simon Harding bei TEDx in Bozen auf. Die Veranstaltung findet im H1-Eventspace von Messe Bozen statt. Neben Simon Harding referieren sechs weitere lokale und internationale Gäste in jeweils 15-minütigen Kurzvorträgen. Die Redner:innen sind etwa Sham Jaff, eine Journalistin und Politikwissenschaftlerin aus Berlin, der Regisseur, Dramaturg, Schauspieler und Coach Franz Braun sowie Selena Milanovic, Expertin für Medizintechnik. Beginn der Veranstaltung ist um 16 Uhr. Tickets gibt es hier.