SWZ: Wie hoch ist der Anteil der italienischen oder deutschen Gesetze, die auf einer EU-Verordnung basieren?
Herbert Dorfmann: Siebzig bis achtzig Prozent der neueren Gesetze in den alten Mitgliedstaaten basieren auf EU-Gesetzen. Es gibt inzwischen kaum mehr ein Gesetz, auch in Südtirol, das nicht auf eine EU-Verordnung aufbaut. Die Vereinheitlichung geht auch weiter.
Welche sind die letzten Nägel mit Köpfen, die im Europäischen Parlament abgesegnet wurden?
Das Parlament ist sehr ausschussorientiert, und ich bin ja im Landwirtschaftsausschuss und in jenem für Wirtschaft und Währung; das wichtigste Thema ist zurzeit die europäische Bankenunion. Die besteht aus drei Säulen. Die erste ist definiert: Ab Herbst dieses Jahres wird die EZB die 150 größten Banken effektiv beaufsichtigen. Die zweite Säule betrifft die Mechanismen der Abwicklung einer Bank und den Abwicklungsfonds; dieser Punkt ist noch in Ausarbeitung und ist das letzte große Projekt dieser Amtszeit. Eine große politische Diskussion ist um das Trigger-System entbrannt, nämlich, wer und wie wird entschieden, dass eine Bank abgewickelt wird. Einige Mitgliedsstaaten, an deren Spitze Deutschland, wollen zwischenstaatlich, also im EU-Rat bestimmen, ob eine Bank abgewickelt wird. Wenn das so wäre, ginge es wahrscheinlich so weiter wie bisher. Dann könnte es beispielsweise heißen: Wenn diese deutsche Bank nicht Bankrott gehen darf, dann auch die spanische Bank nicht. Wir im Parlament sagen, diese Entscheidung muss die EU-Kommission treffen.
Ist die EU-Kommission also merklich unabhängiger als der EU-Rat?
Ja. Wie man in der Vergangenheit gesehen hat, beispielsweise bei Fragen über Staatsdefizite, tendiert der Rat dazu, im Gentlemen Agreement zu agieren und sich nicht gegenseitig wehzutun. Entscheidungen werden also politisch gelöst. Die Kommission tritt hingegen als Behörde auf und ist deshalb unparteiisch. Außerdem ist die Kommission agiler, wenn es darum geht, innerhalb von Stunden Maßnahmen zu ergreifen – wenn wir zum Beispiel einen Lehman-Brothers-Fall hätten und die Börsen nicht eröffnen dürften. Für den Rat müssen die Minister zusammenkommen.
Und die dritte Säule?
Die dritte Säule ist die des gemeinsamen Einlagesicherfonds, der die Bankeinlagen eines Bürgers bis zu 100.000 Euro sichert. Diese wird definitiv verabschiedet werden.
An welchen weiteren Themen arbeiten Sie, die den Unternehmen direkte Vorteile bringen werden?
Eines betrifft das europäische Kreditwesen. Momentan ist es so, dass ein mittelständisches Unternehmen in Südtirol nicht die Wahl hat, sich seinen Kredit bei einer ausländischen Bank zu besorgen. Denn eine Besicherung im Ausland ist in der Regel noch nicht möglich – der Zugriff auf Hypotheken funktioniert nur innerstaatlich. Ein europäischer Kreditmarkt würde die Zinskosten der Unternehmen sicherlich mindern.
Gibt es bei den Wahlen für das Europäische Parlament Neuerungen, die uns Wähler direkt betreffen?
Auf den Wähler kommen keine entscheidenden Neuerungen zu. Das Lissabon-Verfahren bringt mit sich, dass alle europäischen Parteibündnisse einen Spitzenkandidaten haben müssen. Im Grunde ist das Verfahren etwas amerikanisiert worden. Man will den Menschen die Brüsseler Demokratie etwas näher bringen, denn Menschen identifizieren sich mit Menschen. Sie fragen sich: Wähle ich den Schulz oder den Juncker?
Man befürchtet eine schwache Wahlbeteiligung als Strafe für die Euro-Krise und für die hohen Kosten des EU-Apparats. Was sagen Sie den enttäuschten Wählern?
Einer Demokratie tut eine schlechte Wahlbeteiligung nie gut. Irgendwo ist es ja ein Widerspruch: Das Thema Europa ist ja eigentlich in der Politik viel präsenter, als es vor fünf Jahren war. Auch deshalb fragt sich ein Matteo Renzi bei jeder Maßnahme: Wie reagiert Europa darauf? Das deutsche Koalitionsprogramm enthält seitenweise Vereinbarungen über Europathemen.
In dieser Krise hat die Europäische Union eine wichtige Rolle gespielt. Den Menschen müsste also in den letzten fünf Jahren klar geworden sein, wie wichtig die EU für uns geworden ist. Deshalb wäre es unverständlich, wenn die Bürger nicht wählen gehen würden – unabhängig davon, ob sie sich dann für eine europafreundliche Partei entscheiden oder nicht.
Was gedenkt man in Bezug auf den Reisezirkus Brüssel–Straßburg zu tun?
Im Europäischen Parlament sind drei Viertel der Abgeordneten für einen einzigen Sitz. Den Sitz kann man aber nicht einfach ändern, er ist im Lissabon-Vertrag festgeschrieben, einer Vertragsänderung müssen somit alle zustimmen. Es geht hier aber nicht um Symbolik, sondern um beinhartes Geschäft – und für Frankreich ist es zudem eine Prestigefrage. Es wird also darauf hinauslaufen, dass man Straßburg eine Alternative anbietet, wie zum Beispiel den Sitz eines gemeinsamen europäischen Heeres, des Eurocorps, zu erhalten.
Wer ist Ihrer Meinung nach die mächtigste Persönlichkeit in Europa?
(Denkt nach) Macht hat immer damit zu tun, wie man seine Position ausspielt. Wer seine Position sehr mächtig und meiner Meinung nach auch sehr gut ausgespielt hat, ist Mario Draghi. Er war die Person, die in einem Krisenmoment das alles Entscheidende unternommen hat. Eigentlich hätte der Kommissionspräsident diese Rolle einnehmen müssen, die Kommission hat hingegen nur innerhalb des bestehenden Rahmens gehandelt. Auch ist Draghi eine sehr charismatische Persönlichkeit, wir haben alle zwei Monate mit ihm im Ausschuss den ‚monetary dialogue‘. Sein Vorgänger Jean Claude Trichet war ein klassischer Banker – Draghi hingegen agiert als Banker und als Politiker gleichermaßen professionell.
Mario Draghis Stärke bedeutet aber gleichzeitig, dass die europäische Politik ihre Bedeutung an die EZB abgetreten hat …
Ich denke, viele Menschen, auch in Südtirol, sind sich nicht bewusst, dass es ja nicht fünf normale Jahre waren! Wir waren um 2010 am Rande des Abgrundes. Wäre diese Solidarität der europäischen Staaten nicht gewesen, wäre mancher Staat inzwischen pleite gegangen. Deshalb spielten die Währungsstabilität und damit die EZB eine besonders bedeutende Rolle. Ein Problem, das allerdings auch wir in Brüssel sehr fühlen, ist die weitgehende Schwäche der Europäischen Kommission. Wir hätten uns oft gewünscht, dass die Kommission selbstbewusster auftritt und nicht immer überlegt, was bei den Mitgliedsstaaten mehrheitsfähig ist. Wir wären als Parlament ja bei jeder couragierten Initiative im Sinne des europäischen Gedankens der Kommission zur Seite gestanden!
Es gilt also zu hoffen, dass nach den Europawahlen ein Kommissionspräsident ans Ruder kommt, der eine etwas bessere Leadership an den Tag legt?
Mit dem neuen Wahlsystem hoffen wir sehr wohl, dass ein stärkerer Kommissionspräsident und eine selbstbestimmende Kommission Europa regieren werden, die sich nicht so sehr an den Staats- und Regierungschefs orientieren
Warum kommen die Fortschritte in Brüssel nicht schneller voran, so dass die entgegengesetzten Kräfte keine Chance haben?
Die makroökonomischen Probleme der letzten fünf Jahre haben die Agenda leider zu sehr beherrscht. Vieles ist auf der Strecke geblieben, was sich die Menschen wünschen würden, dessen sind wir uns bewusst!
Die Wähler sollten sich aber auch bewusst sein, dass wir uns bei der Rettung des Euro-Raums unverdient auf allen Seiten Gegner geschaffen haben. Nämlich: Der Zugang zum ESM-Rettungsschirm mit seinen 700 Milliarden war an Konditionen gebunden. So war die EU in den Krisenländern die Böse, weil ihnen schmerzliche Reformen auferlegt wurden, aber auch bei den Geberländern, die für die anderen Haftungen übernehmen mussten. Wenn wir den Weg aber nicht gegangen wären, wäre es schlimmer ausgegangen, dessen bin ich mir sicher. Wie kann man erwarten, dass Menschen die schwere Botschaft verstehen, dass der Staat nicht weiterhin über seine Verhältnisse leben darf?
Das übliche Dilemma, dass sich Politiker oft zu sehr vom meist kurzsichtigen Wählerwillen steuern lassen …
Das Dumme an Reformen ist, dass die, die sie machen, daran zugrunde gehen, weil der Effekt sich erst langfristig zeigt. Das beste Beispiel ist Deutschland vor 10 Jahren: Nach der Ära Kohl herrschte ein Reformstau, und es gab 4,5 Millionen Arbeitslose. Gert Schröder und seine Agenda 2010 bescherten unter anderem dem Staatswesen schmerzliche, aber nötige Reformen, die zur aktuellen Stärke der Wirtschaft heute führten. Bei der nächsten Wahl bekam Schröder aber eine Abfuhr.
Ähnlich ist es heute: Portugal, Spanien und Irland, die in den vergangenen Jahren den ESM in Anspruch nehmen mussten und so Reformen umsetzten, werden voraussichtlich in den nächsten Jahren die höchsten Wachstumsraten Europas haben. Deutschland hingegen bewegt sich wieder in Richtung Stagnation. Auch Italien ist bisher nicht vorangekommen, weil die Regierung auf der Stelle getreten ist. Wenn Renzi wirklich die politische Kraft hat, zu reformieren – denn er wird einen rauen Wind zu spüren bekommen – dann hat diese doch sehr flexible italienische Wirtschaft eine große Chance, aus der Krise herauszukommen.
Warum stößt die zunehmende Liberalisierung der europäischen Märkte so oft auf Widerstand?
In wirtschaftlich schwierigen Zeiten keimt gern der Protektionismus. Das hat auch die Geschichte gezeigt, beispielsweise in der großen Depression um 1929 konnte man dem Protektionismus nicht widerstehen und endete so in einer wirtschaftlichen Katastrophe. Wir haben trotz Krise in Brüssel alles getan, um den Protektionismus zu verhindern und die Märkte funktionieren zu lassen. Dabei mussten wir dem öffentlichen Druck der Menschen standhalten, die lokale Kreisläufe geschützt haben wollten – auch in Südtirol war dieser Druck festzustellen. Man stellt sich Ausschreibungen vor, die den lokalen Unternehmen vorbehalten sind. Den Menschen ist oft nicht bewusst, dass Protektionismus eine Sackgasse ist. Gerade in der Landwirtschaft, die 600 Millionen Euro exportiert und nur 100 Millionen einführt. Wettbewerb zwingt zur Internationalisierung – und die bringt die Wirtschaft auf jeden Fall voran und macht sie weniger krisenanfällig.
Das Thema Bezüge und Renten der Politiker sind derzeit ein Thema, deshalb die Frage: Wie hoch sind Ihre Bezüge und späteren Rentenansprüche?
Mit der letzten Amtszeit wurden die Bezüge und Rentenregelung im Europäischen Parlament vereinheitlicht. Ein Parlamentarier erhält zwölfmal im Jahr einen Bezug von rund 7.800 Euro brutto. Das muss natürlich versteuert werden. Wir bezahlen auch in einen Rentenfonds ein und bekommen dafür mit derzeit 63 Jahren eine Rente im Ausmaß von 3,5 % des Bezugs für jedes Jahr, das wir Mitglied im Parlament waren, allerdings maximal 70% des Bezugs eines aktiven Parlamentariers.
Diese Regelung dient im Übrigen auch in einzelnen Nationen als Vorbild für nationale Parlamentarierbezüge. Vor der Vereinheitlichung gab es ein Gefälle von etwa eins zu zehn, wobei die italienischen Abgeordneten vor 2009 EU-weit am meisten verdienten. Andererseits sind in Ländern wie Rumänien oder Bulgarien die jetzigen Bezüge eines Europamandats im Verhältnis zu den Lebenserhaltungskosten unverhältnismäßig hoch. Aber ich denke, unsere Regelung ist transparent, und das ist wichtig.