Italien könnte einer der blühendsten Staaten der Welt sein, vielleicht auch einer der modernsten. Das Fundament dafür ist ungleich besser als anderswo: Italien verfügt über eine Vielzahl an historischen Kulturstätten, die sich touristisch nutzen lassen, ein günstiges Klima, hohe Sympathiewerte für das „Made in Italy“ und so weiter und so fort. Stattdessen ist der Stiefelstaat ein ewiges Sorgenkind mit hohen Staatsschulden und einer Wirtschaft, die in guten Zeiten stagniert und in schlechten Zeiten wie den aktuellen stärker leidet als die Ökonomien anderer Industrieländer.
Die Wirtschaft lebt nicht vom Geld allein
Im Zuge der wochenlangen Diskussionen um den Recovery Plan, mit dem die Leitlinien für den Einsatz der großzügigen Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds definiert worden sind, hat die Regierung Conte II das getan, was schon die Vorgängerregierungen immer getan haben, nämlich das Heil im Geldverteilen gesucht. Die EU-Gelder seien eine einmalige Chance für den Neustart, wiederholen italienische Politiker*innen seit Monaten gebetsmühlenartig. Dabei müssten sie spätestens aus der Erfahrung der vergangenen zehn Jahre gelernt haben: Die Wirtschaft lebt nicht vom Geld allein.
Zwischen 2009 und 2019 ist Italiens Schuldenberg von 100 auf 135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gewachsen – in der Coronakrise dann auf knapp 160 Prozent, Tendenz steigend. Jahr für Jahr geben die wechselnden Regierungen mehr aus, als sie an Steuern einnehmen – und trotzdem blieb ein nennenswertes Wirtschaftswachstum aus, die Arbeitslosigkeit hoch und die Abwanderung von jungen Talenten, die für einen Wirtschaftsstandort so wichtig sind, erschreckend. Kurzum, Italien ist ein Lehrbeispiel dafür, dass sich Wirtschaftswachstum nicht erkaufen lässt.
Die Bürokratie als Klotz am Bein
Mit der Wirtschaft ist es wie mit einem Sportler: Wenn er einen Klotz am Bein trägt, werden ihn isotonische Getränke nicht schneller machen. Genauso kann Geld wenig ausrichten, wenn unklare und sich ständig ändernde Gesetze sowie sinnlose bürokratische Auflagen die wirtschaftliche Initiative bremsen, weil die Unternehmen viel Energie für unproduktive Tätigkeiten aufwenden müssen, anstatt sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren zu können, oder weil die Exporteure einen Nachteil im internationalen Wettbewerb erleiden oder weil vielversprechende Ideen von Jungunternehmer*innen im Keim niederbürokratisiert werden.
Italiens Wirtschaft wäre mehr gedient, wenn sie vom Klotz – oder besser: von den Klötzen – am Bein befreit würde, als durch das Verabreichen von isotonischen Kraftspendern. Während die Politik also seit Jahren vergeblich versucht, Italien mit Geld zu retten, wäre die Rettung viel günstiger zu haben: mit Reformen. Würde die Politik rechts und links von der Mitte diese Reformen ähnlich leidenschaftlich angehen wie die Geldverteilung – der Recovery Plan hat sogar zum Rückzug der Italia-Viva-Ministerinnen geführt –, dann wäre Italien nicht in der misslichen und vielleicht aussichtslosen Lage, in der es sich befindet.
Nicht Hilfe, sondern Hilfe zur Selbsthilfe
Italiens Wirtschaft braucht von der Politik nicht Hilfen, sondern einzig und allein den Rahmen, um sich selbst helfen zu können. Die Politik und der dahinterstehende (mächtige) Beamtenapparat wollen das nicht wahrhaben – oder ihnen fehlt schlicht der Mut dazu. Denn wirtschaftsfreundliche Reformen würden bedeuten, dass die Politik heilige Kühe schlachten und Widerstände aushalten müsste. Da ist es einfacher und angenehmer, beim Geldverteilen zu glänzen, einerseits mit Geld aus dem Recovery Fund der EU (wobei Italien von den rund 220 Milliarden nur 35 tatsächlich geschenkt bekommt), und andererseits mit Schulden für den Staatshaushalt, nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“.
Die Regierungen mit Beteiligung der Fünfsternebewegung treiben die Subventionitis der italienischen Politik an die Spitze, wie (nicht nur) das Bürgereinkommen zeigt. Die Bewegung selbst sieht dies naturgemäß anders. Vielmehr stempelt sie die bösen Medien, die sich erdreisten, das zu behaupten, als Komplizen des Establishments ab, gegen das sie anzukämpfen vorgibt.
Dass kein Geld der Welt ein wirksamer Dünger sein kann, wenn er auf unfruchtbaren Boden fällt, weiß auch die Europäische Union. Entsprechend haben die EU-Regierungen im Juli vergangenen Jahres vereinbart, dass die Mittel aus dem Recovery Fund an eine Bedingung geknüpft werden: Reformen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nimmt die EU Schulden auf, um den Wiederaufbau mit 750 Milliarden Euro zu unterstützen, aber dieser Tabubruch soll nicht wirkungslos verpuffen. Theoretisch kann die Zuweisung der Mittel gestoppt werden, wenn ein Land seiner Reformpflicht nicht ausreichend nachkommt. Auf der Website des Europäischen Rates heißt es dazu: „Um Unterstützung aus der Aufbau- und Resilienzfazilität zu erhalten, müssen die Mitgliedstaaten nationale Aufbau- und Resilienzpläne erstellen, in denen ihre Reform- und Investitionspläne bis 2026 dargelegt sind.“
Wie in der Praxis bestimmt wird, ob die Reformen genügen, ist eine andere Frage. Jedenfalls hat EU-Kommissionsmitglied Paolo Gentiloni diese Woche wissen lassen, dass Italiens Recovery Plan eine gute Basis darstelle, aber dass noch Diskussionsbedarf „mit Blick auf die Reformen“ bestehe.
Die EU-Gelder sind für Italien tatsächlich eine einmalige Chance für den Neustart, vielleicht die letzte. Sie sind es aber nur, wenn Geld und Reformen Hand in Hand gehen.