Latsch – Zurzeit ist es ruhig im Labor des Verbands der Obst- und Gemüseproduzenten aus dem Vinschgau (VI.P) in Latsch. Die PCs sind ausgeschaltet, die Arbeitsflächen leer. So richtig Hochbetrieb ist hier im Sommer und Herbst: Etwa fünf Wochen, bevor die ersten Äpfel geerntet werden, treffen täglich mehrere Hundert, wenn nicht sogar Tausend Gala, Golden & Co. aus den unterschiedlichen Anbaulagen ein. Sie werden in dünne Scheiben geschnitten, etikettiert, in graue Plastikkisten nebeneinandergelegt. Dann wird anhand von mehreren Tests ermittelt, wann die Äpfel den richtigen Reifegrad für die Ernte erreichen.
Das ist wichtig, sowohl für die Bäuerinnen und Bauern als auch für die Genossenschaften. Für Erstere wird im Labor entschieden, wann das Erntefenster geöffnet wird und wann es wieder schließt. Das ist der Zeitraum, in dem die Äpfel vom Baum geholt und an die Genossenschaften geliefert werden können. Dem Erntefenster entsprechend müssen die Produzentinnen und Produzenten beispielsweise die Arbeitskräfte organisieren oder Maschinen ausleihen.

Für die Genossenschaften sind die Ergebnisse über den Reifegrad der Äpfel ebenso relevant, teilweise sogar geschäftsentscheidend, erklärt Wolfgang Graiss, Leiter der Qualitätsabteilung beim VI.P. „Sind die Äpfel unreif, ist ihr Geschmack noch nicht perfekt. Sind sie hingegen überreif, haben wir Probleme bei der Lagerung: Dann sind sie weniger lange haltbar und es wird schwierig, unsere Abnehmer das ganze Jahr über zu beliefern.“ Eben weil diese Arbeitsschritte so wichtig sind, entschied sich der VI.P vor mittlerweile eineinhalb Jahren, sie mittels Digitalisierung zu optimieren. Dazu sollte dem bestehenden Team der Qualitätsabteilung eine neue Mitarbeiterin an die Seite gestellt werden: eine künstliche Intelligenz.
Unternehmen aus Kanada, Neuseeland und Südtirol

Also machte sich der Verband auf die Suche nach einem Softwareunternehmen. „Wir tauschten uns dafür unter anderem mit Unternehmen aus dem Ausland, aus Neuseeland oder Kanada aus. Schlussendlich entschieden wir uns aber für eines aus Südtirol – so haben wir einen Ansprechpartner vor Ort und in der gleichen Zeitzone“, sagt Andreas Oberhofer, Leiter der EDV-Abteilung beim VI.P. Die Reaktionszeiten seien dementsprechend kürzer.
Die Entscheidung fiel auf das Naturnser Softwareunternehmen Fuxware. Dort wusste man gleich: Die Zeit drängt. Denn bereits im Sommer sollte im VI.P mit einer ersten Version der neuen Software gearbeitet werden.

So kam es dann auch: Im Juni 2023 wurde die erste Version der neuen Software in Betrieb genommen. Diese digitalisierte den Prozess und sammelte dabei Daten, die u. a. für die KI gebraucht wurden. „Ab Anfang Oktober trainierten wir dann die KI mit Daten“, erläutert Patrizia Gufler, Softwareentwicklerin bei Fuxware. Ende Oktober kam die KI im Labor zum ersten Mal zum Einsatz.
Der Zeitraum, in dem das alles gelungen ist – von Projektbeginn bis zum Einsatz der trainierten, aber noch nicht perfekten KI –, wirkt überraschend eng. Schließlich vergingen vom Moment, in dem die Entscheidung für das Projekt fiel, bis zum ersten Arbeitstag der KI gerade einmal acht Monate. „Das ist der Vorteil der agilen Softwareentwicklung“, sagt Gufler. „Wir konnten schon früh erste Prototypen im Labor testen und kontinuierlich verbessern. Dadurch hatten wir in kürzester Zeit eine funktionierende Lösung, die wir auf die Anforderungen des Unternehmens zuschneiden konnten.“
Mehr als 1.100 Äpfel pro Tag
Die KI, die Teil der neuen Software ist, sei nur „die Kirsche auf der Sahnetorte“, sagt Andreas Oberhofer. Wolfgang Graiss stimmt zu: „Es ging uns vorrangig darum, diesen einst manuellen, aber so wichtigen Prozess zu standardisieren.“
Wie das dem Verband gelang, erklärt André Trafoier. Als Mitarbeiter der Qualitätsabteilung beim VI.P führt er in den Sommer- und Herbstmonaten die Reifetests an den Äpfeln durch. „Ob ein Apfel reif ist, wird anhand von vier Tests ermittelt: der Festigkeit des Fruchtfleischs, dem Zuckergehalt, der Säure und dem Stärkewert“, so Trafoier. Während die ersten drei Tests bereits weitgehend standardisiert sind, wurde der letzte jahrelang händisch und mit bloßem Auge durchgeführt. Genau dieser Test sollte deshalb digitalisiert werden, zumindest teilweise.
Die ersten Arbeitsschritte beim Analysieren des Stärkewerts sind nach wie vor dieselben: Die Äpfel werden in Scheiben geschnitten und mit einer Jod-Kalium-Lösung besprüht. Nach 20 bis 30 Minuten werden sie analysiert, Scheibe für Scheibe.

Beim Erklären zeigt André Trafoier ein Foto einer grauen Kiste. Darin liegen 30 Apfelscheiben. Das Fruchtfleisch ist nicht weiß, sondern sehr dunkel, fast schon schwarz. „Die Äpfel reagieren auf die Jod-Kalium-Lösung. Je heller die Scheiben sind, desto reifer sind sie.“ Mehr als 1.100 solcher Scheiben schaut sich Trafoier in der Hochsaison pro Tag an.
Die Werte der einzelnen Apfelscheiben schrieb Trafoier bis vor einem Jahr auf einen Zettel, berechnete den Durchschnittswert jeder Apfelgruppe mit dem Taschenrechner und gab den Wert dann weiter an eine Kollegin, die die Information abtippte und zuordnete. „Da gab es mehrere potenzielle Fehlerquellen“, so Trafoier.
Vom Stift und Taschenrechner zur Software
Die Arbeit mit Stift und Zettel gehört der Vergangenheit an: Die neue Software erkennt dank einer Kamera die Apfelscheiben in den Kisten, die Äpfel werden anhand eines QR-Codes automatisch dem Mitglied der Genossenschaft und der jeweiligen Lage zugeordnet. In Sekundenschnelle können die Mitarbeitenden in der Qualitätsabteilung nun den Stärkegehalt direkt neben den einzelnen Äpfeln eintippen, die Software ermittelt den Durchschnittswert und leitet ihn weiter. Nebenbei werden von jeder Kiste Fotos aufgenommen und gespeichert. Die Ergebnisse werden so nachvollziehbar, der Prozess dokumentiert. „Will ein Produzent oder eine Produzentin die Werte der eigenen Äpfel wissen, können wir die Fotos zeigen“, freut sich Trafoier.
Die Dokumentation hat einen weiteren Vorteil, fügt Wolfgang Graiss hinzu: „Das Know-how wird gespeichert. Ist ein Mitarbeiter krank oder müssen wir neue Mitarbeiter einlernen, dann fällt das um einiges leichter.“
Daten, Daten, Daten
Noch werden die Werte des Stärkegehalts der Äpfel von den Mitarbeitenden bestimmt und eingetippt. Testweise wurde aber bereits im Oktober des vergangenen Jahres mit der KI gearbeitet: Neben den Stärkewerten, die die Mitarbeitenden den Äpfeln zuteilten, wurden auch die Vorschläge der KI angezeigt. „Je nach Sorte waren die Ergebnisse manchmal gut, manchmal hingegen weniger gut“, sagt Trafoier. Die Genauigkeit der KI hänge stark von der Menge der gesammelten Daten im jeweiligen Reifegrad ab. In den Bereichen, wo viele Daten gesammelt wurden, seien die Klassifizierungsvorschläge sehr gut. In den anderen Bereichen müssen noch mehr Daten gesammelt werden.

Läuft alles nach Plan, könnte die KI den Mitarbeitenden in der Qualitätsabteilung diese Arbeit irgendwann ganz abnehmen. Dafür muss sie aber noch besser werden – sie muss also mit mehr Daten trainiert werden. Im Falle des VI.P ist der Zeitraum, in dem die Fotos der Apfelscheiben aufgenommen werden können, begrenzt, denn die Äpfel können natürlich nicht übers ganze Jahr geerntet werden. „Das bedeutet, dass wir im kurzen Zeitraum, den wir haben, so viele Daten wie möglich sammeln müssen“, erläutert Michael Gurschler, Geschäftsführer von Fuxware.
Im vergangenen Jahr wurden mehr als 27.000 Äpfel verschiedener Sorten und Reifegrade fotografiert. „Die Qualität der Daten bestimmt, wie gut der Output ist“, so Gurschler, „denn die Maschine kann nur so gut sein wie die Daten, mit denen sie trainiert wurde.“ Dies gelte sowohl für dieses als auch allgemein für KI-Projekte.
Learnings aus KI-Projekten
Immer wieder beobachtet Gurschler, dass Unternehmen gerne ein KI-Projekt angehen möchten, ihnen aber die Daten fehlen, um eine KI zu trainieren. Betriebe sollten deshalb so früh wie möglich damit beginnen, Daten der unterschiedlichen Arbeitsprozesse zu sammeln. Noch etwas möchte er ihnen ans Herz legen: „Zuerst sollte der optimale Prozess ausgearbeitet werden. Anschließend wird ermittelt, ob eine KI notwendig ist oder ob eine intelligente Digitalisierung des Prozesses ausreichend ist.“
Auch rät er von sehr aufwendigen Projekten, die große Umwälzungen mit sich bringen, ab: „Es ist zwar gut, wenn Unternehmen eine klare Vision haben, aber sie muss so sein, dass sie auf kleine Schritte heruntergebrochen werden kann.“ So könnten beim Erreichen von Zwischenzielen erste Erfolge gefeiert werden, und das unternehmerische Risiko halte sich in Grenzen.
Zum Risiko sagt Gurschler: „Ein solches Projekt kommt nicht ohne Risiko aus, das sollte nicht vergessen werden.“ Man könne beim Arbeiten mit künstlicher Intelligenz nie bereits im Vorhinein mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, wie das Endergebnis ausschauen wird und auch, wozu die KI am Ende wirklich fähig sein wird. „Indem man aber das Projekt auf kleine Schritte aufteilt, grenzt man das Risiko ein“, sagt Gurschler.
Weil das Ergebnis bei solchen Projekten nie ganz vorausgesagt werden kann, sei bei Kooperationen mit Softwareunternehmen ein Vertrauensvorschuss notwendig. „Und es braucht Flexibilität von beiden Seiten“, erklärt der Fuxware-Chef.
Mitarbeitende miteinbeziehen
Was noch wichtig sei: die Akzeptanz der Mitarbeitenden. Beim Projekt mit dem VI.P sei eng mit der Abteilung und den Mitarbeitenden, die die Software benutzen sollen, zusammengearbeitet worden. „Wir haben allerdings auch schon erlebt, dass ein IT-Leiter anstelle der Mitarbeitenden sprechen will, aber gar nicht weiß, wie diese in ihrem Alltag arbeiten“, erzählt Gurschler. Er rät, das Team von Anfang an miteinzubeziehen. „Dann hat es auch einen Bezug zur Software, und die Motivation, damit zu arbeiten, steigt.“
Eine Frage bleibt noch: Was kostet ein solches Projekt? Den genauen Betrag wollen die Beteiligten nicht in der Zeitung lesen, „aber er liegt im fünfstelligen Bereich“, sagt Andreas Oberhofer, Leiter der EDV-Abteilung beim VI.P. Wobei ein Unternehmen bei Weitem nicht die gesamten Kosten tragen müsse: „Solche Projekte werden großzügig gefördert. Unternehmen sollten sich deshalb diese Chance nicht entgehen lassen.“