Bozen – „Nähen“, sagt Manuela Mazzarella, „macht süchtig.“ Sie hat vor wenigen Monaten in Kastelruth eine Werkstatt eröffnet, aus der heraus sie ihre selbstgenähten Produkte mit dem Markennamen „Nähspiel“ verkauft: Handtaschen, Kindermützen, Toilettenbeutel und zahlreiche andere Accessoires sowie Geschenkartikel für Kinder und Erwachsene. Vor etwa vier Jahren hat sie ihre Firma eröffnet und produziert seitdem als 1-Frau-Betrieb ihre selbstdesignten Artikel. Begonnen hat sie mit dem Nähen, als sie für einen Laufwagen ihrer Tochter ein Kissen brauchte; gezeigt, wie’s geht, hat es ihr ihre Mutter („Mama wurde in den 1950er-Jahren groß, da gehörte das Nähenlernen dazu – und sie hatte eine Nähmaschine“), die ihr später dann auch die Grundkenntnisse vermittelt hat.
Ähnlich läuft es bei vielen, die das Nähen für sich entdecken, beispielsweise auch bei Eva Mück, die nach der Geburt ihrer ersten Tochter vor bald zehn Jahren mit dem Nähen begonnen hat. Das erste Stück fertigte sie ebenso wie Mazzarella gemeinsam mit ihrer Mutter, fand Gefallen am Nähen und kreierte immer Neues. Die außergewöhnlichen bunten Hosen und Kleidchen der Tochter fielen anderen Müttern auf. Dadurch angespornt, gründete sie 2012 ihre Firma, anfangs verkaufte sie auf Handwerksmärkten und über ihren Onlineshop. „Als ich gesehen habe, es läuft, der Markt ist da, habe ich 2015 ‚Das himmelblaue Gartenhaus‘, ein Geschäft mit angeschlossener Werkstatt, in Burgstall eröffnet“, so Mück. Mittlerweile ist Mück nicht nur dreifache Mutter, sondern auch Arbeitgeberin für drei Mitarbeiterinnen und eine Schneiderin.
Mücks Label, unter dem sie selbst entworfene und genähte Kinderkleider verkauft, nennt sich „sooo süß“. Ein weiteres Geschäftsfeld, das „Das himmelblaue Gartenhaus“ bedient, ist der Stoffhandel: Andere Nähende können bei ihr im Laden Meterware kaufen. „Das hatte ich ursprünglich, bei der Eröffnung, nicht geplant, doch dann hat sich gezeigt, dass es Bedarf gibt“, erzählt Mück. Derzeit verkauften sich vor allem Naturmaterialien gut.
Dazu hat Mück ein drittes Standbein: Sie selbst habe zwar einen Nähkurs besucht, sagt die Kleinunternehmerin, doch das meiste habe sie sich selbst beigebracht. Doch nun bietet sie Nähkurse für andere Frauen und Kinder („Auch Buben kommen zu den Kursen“) an, demnächst wird sie sogar einen eigenen Kursraum in Lana eröffnen. „Die Nachfrage nach Kursen steigt – und im Geschäft, wo wir sie bisher durchgeführt haben, wurde es eng“, sagt Mück.
Die Anzahl junger Frauen und Mütter, die selbst nähen, steigt in Südtirol. Der Austausch zwischen den „Näherinnen“ ist dank des Internets ein intensiver. 1.600 Mitglieder zählt etwa die Facebook-Seite „Anonyme Nähsüchtige – Südtirol“, auf der Selbstgemachtes präsentiert wird, aber etwa auch gebrauchte Nähmaschinen oder selbst Genähtes angeboten wird. Viele kleine Anbieterinnen haben ihre eigenen Auftritte auf Facebook und anderen Social Media, über die Geschäfte abgewickelt werden. Daneben gibt es Seiten wie SelberGMOCHT.it, laut Eigenbeschreibung „der Online-Marktplatz für kreative Südtiroler“. Hier finden sich die verschiedensten Produkte: von Wein über Sirupe bis hin zu Kunst – aber eben auch eine große Auswahl an handgemachter Kleidung und anderes Handgenähtes aus Südtirol.
Ob tatsächlich all jene, die Produkte – über welche Kanäle auch immer – verkaufen, aber rechtlich und steuerlich in Ordnung sind, ist eine andere Frage – auch weil es sich um einen „Graubereich“ handelt. Frauen wie Mazzarella und Mück, die einen Gewerbeschein haben, sind wohl in der Minderheit, andere stellen Quittungen aus und verrechnen eventuelle Einnahmen in der Steuererklärung. Viele jedoch verkaufen vornehmlich „schwarz“ – also ohne Rechnung oder sonstige Quittung – im Freundes- und Bekanntenkreis, sie verdienen sich mit ihrem Hobby etwas dazu. Ein Grund dafür, dass viele ihr Gewerbe nicht anmelden, dürften die Kosten sein, die für eine reguläre Meldung eines Gewerbes anfallen. Wenn sich jemand zum Beispiel für das vereinfachte System, das sogenannte „regime forfettario“, entscheidet, das jetzt für Jahresumsätze bis zu 65.000 Euro möglich ist, dann fallen alleine an INPS-Beiträgen mindestens 2.400 Euro im Jahr an, dazu kommen noch weitere Kosten für Steuern, Beratung etc. – für einen Nebenerwerb vielfach nicht rentabel.
Doch offenbar überlegen sich immer mehr nähbegeisterte Frauen, aus ihrem Hobby einen Beruf zu machen und den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. „Wir haben im Durchschnitt rund 300 Beratungen im Jahr, davon entfielen bis vor zwei, drei Jahren ca. 7–8 auf Frauen, die ihr Hobby nähen gerne zum Beruf gemacht hätten, im vergangenen Jahr waren es vielleicht 13–15 Beratungen“, sagt Sabine Platzgummer vom Service für Unternehmensgründung der Handelskammer Bozen. Wie viele sich dann tatsächlich für die Selbstständigkeit entscheiden, kann Platzgummer nicht sagen.
Wer selbst näht, braucht eine Nähmaschine. Manche „erbt“ zwar eine alte aus Familienbesitz, mit der anfänglich genäht wird, doch die kann dann vielleicht nicht all das, was ein neues Modell kann – und so wird eine neue Maschine angeschafft. „Vor 50 Jahren haben sich die Leute eine Nähmaschine gekauft, um damit Kleidung zu nähen und zu flicken“, sagt Josef Tanzer vom gleichnamigen Fachgeschäft für Nähmaschinen und Bügeltechnik in Lana. „Durch die Globalisierung und die dadurch immer billiger werdende Kleidung ist das verloren gegangen. Doch seit einigen Jahren ist das – ich bezeichne es so – kreative Nähen stark im Kommen.“ Damit hat sich neben den traditionellen Kategorien, für die eine Nähmaschine benötigt wird, dem Nähen und dem Flicken, eine weitere entwickelt, die aktuellen Gegebenheiten und Ansprüchen entspricht: Dass also Frauen – häufig sind es junge Mütter – das Nähen für sich entdecken, aber nicht um kaputte Kleidung zu flicken oder Alltagskleidung zu nähen, sondern eher Kissenbezüge, Babykleidung oder Taschen selbst zu gestalten. Dieser Trend steigere auch die Verkaufszahlen für Haushaltsnähmaschinen wieder sowie diese ergänzende Geräte wie Stick-, Cover- und Overlock-Maschinen, so Tanzer.
Damit zusammen hängt, dass vermehrt Stoffe in kleinen Mengen verkauft werden. „Allerdings“, sagt Lukas Stadler vom Bozner Unternehmen Stafil, eine Marke im Bereich Basteln und Handarbeiten, „läuft in diesem Segment immer mehr über Online, die Stoffe werden weniger im stationären Fachhandel gekauft.“ Zu den Kunden von Stafil zählen aber beispielsweise einige kleine Handwerksbetriebe – 1-Frau-Firmen – in Südtirol oder auch Stoffgeschäfte.
Der Trend zum Nähen, erzählt Stadler, sei vor allem auf den deutschen Sprachraum beschränkt, im italienischen Sprachraum dagegen sei derzeit Filz sehr gefragt, mit dem dann verschiedenste Dinge gebastelt werden könnten, etwa auch Broschen oder Applikationen für Kleidung und Dekorationen aller Art. Was die Materialien anbelangt, verkaufe sich derzeit Kunst- bzw. veganes Leder gut, aus dem insbesondere Hand- oder Brieftaschen, Schminktäschchen, Brillenetuis, Rucksäcke, Pölster, Modeaccessoires etc. – genäht werden.
Stafil gibt seit Jahrzehnten auch eigene Schnittmuster-Hefte heraus, für die im Unternehmen eigene Designs entwickelt werden. „Der Verkauf dieser Hefte ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen“, so Stadler. „Denn im Internet finden sich nun zahlreiche Möglichkeiten, gratis Schnittmuster und Inspirationen für Projekte zu erhalten – zum Beispiel Tutorials auf der Videoplattform Youtube. Auch Stafil hat einen entsprechenden Youtube-Kanal und einen eigenen Blog, über den neben vielem anderen auch kreative Ideen weitergegeben werden.“
Dass es heutzutage sehr einfach ist, kostenlose Schnittmuster zu erhalten, bestätigt auch Manuela Mazzarella von „Nähspiel“. „Wenn man zum Beispiel über Pinterest, das soziale Netzwerk für den Austausch von Ideen, oder auf Seiten von Bloggern welche findet und herunterlädt, dann ist der Aufwand sehr gering, und für die Umsetzung braucht es nicht mal viel Schneider-Know-how, weil alles Nötige im Detail erklärt wird“, so Mazzarella, die – wie auch Mück – ihre eigenen Schnittmuster erstellt. „Die aus dem Internet heruntergeladenen Schnittmuster kann man dann noch nach seinem Geschmack individuell verschönern bzw. gestalten und damit seiner Kreativität freien Lauf lassen – was die Produkte zu Einzelstücken macht.“
Es ist gerade diese Möglichkeit zur Individualisierung, die zahlreichen Nähenden hierzulande gefällt. „Vom Modell über den Stoff bis hin zu Stickereien und Applikationen, alles kann an die eigenen Wünsche angepasst werden“, sagt Mazzarella. Sie trägt diesem Trend dadurch Rechnung, dass sie für ihre Kunden auch Sonderanfertigungen herstellt, bei denen sie – die nähen kann – vor allem die Ausführung übernimmt.
Zum Megatrend Individualisierung, der sich in selbst gefertigter Kleidung, Taschen & Co. manifestiert, kommt beim Südtiroler Nähhype auch der Trend zur Regionalität zum Tragen: Die Stoffe mögen von auswärts kommen, doch das Design und die Produktion sind „echt Südtirol“. Aber zu dem entwickeln, was er heute ist, konnte sich der Trend „Selbstgenäht“ im Land wohl nur deshalb, weil durch das Internet neue Methoden des Austausches entstanden sind, die sowohl landesweite als auch lokale Communitys geschaffen haben.