SWZ: Die Aktienmärkte haben aufgrund der Leitzinserhöhungen ein schwieriges Jahr 2022 hinter sich und auch heuer gibt es trotz einer Aufwärtstendenz immer wieder Schwankungen. Wird es erst mit sinkenden Leitzinsen wieder zu einem nachhaltigen Bullenmarkt kommen?
Christoph Kaserer: Sicherlich würden sinkende Leitzinsen den Börsen einen Push geben, wobei ich wenig davon halte, auf solche Entwicklungen zu spekulieren. Die Leitzinsen werden erst wieder sinken, wenn wir das Inflationsproblem gelöst haben. Im Moment gehen die Märkte davon aus, dass die Inflation 2024 auf drei Prozent und 2025 wieder auf zwei Prozent sinken wird. Ich bin dahingehend vorsichtig, denn es kann ganz anders kommen. Am Ende sollte man am Aktienmarkt nicht so viel über Timing reden, sondern mit einer langfristigen Perspektive investieren. Dann ist es nicht so wichtig, wann man einsteigt.
Darauf kommen wir später noch zu sprechen. Wagen Sie eine Prognose, wie lange die Inflation noch hoch bleibt?
Im Moment sind wir zu optimistisch. Denn die historischen Erfahrungen zeigen, dass es relativ lange dauert, bis man Inflationserwartungen wieder aus den Märkten bekommt. Zudem ist – rein ökonomisch gesehen – die Lohn-Preis-Spirale erst am Anlaufen. Sie wird sich in den nächsten Monaten verstärken. Und was an der Energiefront passiert, wissen wir nicht. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass wir im nächsten Jahr wieder bei einer Inflation von drei Prozent sein werden.
Fahren die Zentralbanken derzeit die richtige Strategie? Stimmt das Gleichgewicht zwischen Inflationsbekämpfung und Verhindern einer Rezession?
Die Zentralbanken sind in einem Dilemma. Daran zeigt sich, dass man sie mit einem klareren Mandat ausstatten müsste: Aus Sicht der Zentralbanken müsste die Geldwertstabilität über konjunkturellen oder sogar fiskalpolitischen Überlegungen stehen. Die US-Notenbank Fed hat anfangs ja relativ hart reagiert, wird jetzt aber auch vorsichtiger. Wenn man den Zentralbanken einen Fehler vorwerfen kann – vor allem der EZB –, dann dass sie zu spät reagiert haben.
Es war ja absehbar, dass sich die stark erhöhte Geldmenge durch die jahrelange expansive Geldpolitik irgendwann auf die Inflation niederschlagen wird.
Ja, wobei der Auslöser der hohen Inflation die Ukrainekrise war. Aber es zeigt sich, dass in einer solchen Situation nun die Spielräume sehr eng sind. Denn die Auswirkungen auf die Märkte und auf die Stabilität des Bankensektors sind erheblich. Es wäre anders gekommen, wenn die Zinsen schon vorher etwas höher gewesen wären. Die EZB hat zu lange auf diese nicht-konventionelle Geldpolitik gesetzt.
Hat es die US-Notenbank Fed besser gemacht?
Die Fed stieg viel früher schrittweise aus der expansiven Geldpolitik aus. Andererseits: Schon in der zweiten Hälfte 2021 warnten einige Ökonomen vor einem Inflationsschub – lange bevor über einen Ukrainekrieg geredet wurde. Dies begründeten sie mit überzogenen fiskalpolitischen Maßnahmen während der Pandemie. Dadurch staute sich Nachfrage auf, die sich ab der zweiten Hälfte 2021 löste. Die Inflation zog tatsächlich schon vor dem Ukrainekrieg an. Man kann somit auch der Fed vorwerfen, zu spät reagiert zu haben. Aber immerhin reagierte sie früher als die EZB.
War die Nullzinspolitik in der Form, in der sie die EZB betrieben hat, ein Fehler?
Es gibt eine Debatte darüber, was diese Politik am Ende wirklich gebracht hat. Die vielen Studien dazu kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. In der Eurozone waren wir durchaus in einer besonderen Situation: Ohne Einschreiten der EZB würde es womöglich den Euro nicht mehr geben, was ganz andere Folgen gehabt hätte. Dennoch, die EZB ließ ihre Nullzinspolitik viel zu lange laufen. Ab 2016 machte sie sich viel zu wenig Gedanken darüber, welche Risiken sie im Hintergrund aufbaut, wenn die Bilanz der EZB so aufgebläht wird.
Die Bankenpleiten in den USA und jene der Credit Suisse haben Erinnerungen an das Ende der 2000er-Jahre geweckt und gezeigt, wie fragil unser Finanzsystem nach wie vor ist. Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass die jüngsten Pleiten nur der Anfang waren?
Fundamental spricht derzeit nicht viel für eine Bankenkrise. Historisch gesehen gab es Bankenkrisen immer infolge einer Immobilienkrise oder Rezession mit hohen Insolvenzraten bei den Unternehmen. Beides haben wir derzeit nicht, auch wenn manche sagen, es werde am Immobilienmarkt zu einem kräftigen Abschwung kommen. Die Pleite der Silicon Valley Bank ist ein sehr spezielles Phänomen, das mit Defiziten in der US-Regulierung und einem riskanten Verhalten seitens der Bank zu tun hat. Und Credit Suisse war ein Unfall, den es so nicht gegeben hätte, wenn nicht dummerweise die Minikrise in den USA zeitlich mit der Restrukturierung der Bank zusammengefallen wäre.
Zurück zum Investieren: Bleiben Aktien bzw. Aktienfonds und ETFs das Maß aller Dinge, wenn es um eine langfristige Vermögensanlage geht?
Ja – was aber nicht heißt, dass langfristiges Sparen ausschließlich mit Aktien passieren sollte. In vielen kontinentaleuropäischen Ländern – dazu zählt Italien genauso wie Deutschland – wurde jedoch der Fehler gemacht, den Aktien eine viel zu geringe Bedeutung in der Altersvorsorge beizumessen. Das erweist sich heute als gravierender Fehler. Diesen Fehler haben wir wider jeglicher ökonomischer Vernunft gemacht.
In den letzten zehn Jahren haben vor allem die US-Börsenindizes einen Höhenflug hingelegt, während jene der Schwellenländer hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind und Europa keine sehr große Rolle mehr gespielt hat. Werden sich die Verhältnisse in Zukunft ändern?
Die großen Wachstumsmärkte sind – realwirtschaftlich gesehen – in Asien. In Europa haben wir definitiv ein Wachstumsproblem, was sich in der Börsenentwicklung widerspiegelt. Am Ende gilt es, sich beim Investieren rational zu verhalten und möglichst weltweit zu diversifizieren. Dabei spielt Europa weiter eine Rolle.
Die Schwellenländer haben weiter ein großes Potenzial?
Mit Sicherheit, wobei ich glaube, dass das Wachstumspotenzial Chinas aufgrund der veränderten politischen Lage überschätzt wird. Die politischen Risiken in China sind groß. Es gibt aber auch noch Indien, Südamerika, Vietnam. Ganz Südostasien wird über die nächsten zwei Dekaden ein sehr wachstumsstarker Markt bleiben.
In den letzten Jahren haben vor allem die Tech-Aktien dominiert. Wird das so bleiben oder gibt es andere, neue Zukunftstrends?
Technologische Innovationen werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen, wobei die USA diesbezüglich weiter das Zentrum bleiben werden. China etwa ist nicht innovationsstark. Und Europa hat das Problem, dass Innovationen vor allem aus Sektoren kommen, die nicht mehr so stark wachsen werden, etwa die Automobilbranche. Eine dominante Rolle könnte Europa allerdings im Bereich der alternativen Energieträger, Wasserstoff und E-Fuels spielen. Das ist ein riesiger Wachstumsmarkt – in Europa allein schon deshalb, weil es am stärksten von der Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energien abhängt.
Welche Rolle wird Nachhaltigkeit am Aktienmarkt spielen?
Nachhaltigkeit ist ein riesiges Thema. Es gibt keine Konferenz zu Kapitalmärkten, wo nicht darüber gesprochen wird. Die Frage ist, was die realwirtschaftlichen Konsequenzen daraus sind. Diese würde ich nicht überschätzen. Die Unternehmen werden sich anstrengen, im Rahmen der europäischen Regularien als nachhaltig zu gelten, aber das ist mit wenigen Ausnahmen für alle Unternehmen möglich. Es wird vielleicht ein paar Sektoren geben – ich denke an Kohlekraftwerke –, die sich in Zukunft schwerer mit der Refinanzierung tun werden. Aber da Nachhaltigkeit in den USA kein so dominierender Trend wie bei uns ist, werden diese Sektoren auch am internationalen Markt Geldgeber finden.
Durch die Bankenpleiten in den USA hat der Bitcoin einen großen Sprung nach oben gemacht. Viele Menschen suchen zum Sparen nach Alternativen zum Geldsystem und zu Währungen, die laufend inflationieren. Welche Zukunft schreiben Sie Bitcoin zu?
Als Währung im engeren Sinne gar keine. Ich bin sicher, dass sich Bitcoin nicht als Währung durchsetzen wird – aus zwei Gründen: Erstens weil es die Zentralbanken nicht zulassen werden. Und zweitens – und das ist der große Verdienst von Bitcoin – weil die Zentralbanken dazu gezwungen sind, selbst innovativ zu sein: Alle großen Zentralbanken der Welt arbeiten an digitalen Währungen. In Europa reden wir vom digitalen Euro. Danach wird Bitcoin in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Davon unabhängig betrachten muss man die Blockchain-Technologie. Diese wird eine große Bedeutung auch auf den Kapitalmärkten haben. Das ist wiederum ein Verdienst von Bitcoin, wird aber mit dem Namen nichts mehr zu tun haben.
Wie sehen Sie Bitcoin als Anlageform – im Hinblick auf die Knappheit der Bitcoins ähnlich wie bei Gold?
Ich halte von Bitcoin als Anlagegegenstand noch weniger als von Gold. Grundsätzlich kann man das alles als Commodities zusammenfassen. Gold wirft ja keine intrinsische Rendite ab. Wer Gold kauft, spekuliert auf die Preisentwicklung. Das kann langfristig nicht gut gehen – und in der Tat ist die langfristige Performance von Gold schlecht. Bei Gold kann ich noch eine Rationalität darin sehen, es als Versicherung gegen Krisen einzusetzen, aber bei Bitcoin, anderen Metallen und generell bei Commodities sehe ich gar keinen Grund, sie in die langfristige Vermögensplanung miteinzubeziehen.
Wie schaut ein optimal diversifiziertes Portfolio aus?
Erstens diversifiziert über Anlageklassen – Aktien, Anleihen und Immobilien – und zweitens international diversifiziert. Dabei muss man immer auch Währungsrisiken berücksichtigen: Für jemandem im Euroraum wäre es nicht vernünftig, 90 Prozent seines Geldes in den US-Markt zu investieren, selbst wenn es dort gut diversifiziert ist. Also: international diversifizieren ja, aber immer einen Schwerpunkt in der eigenen Währung beibehalten.
Und wie lange sollte der Anlagehorizont mindestens sein, wenn man in Aktien investiert? Sprich wie lange sollte man auf das Geld verzichten können, um nicht durch kurzfristige Schwankungen am Aktienmarkt Verluste zu erleiden?
Der Anlagehorizont ist neben der Diversifikation der zweite Grundsatz in der Vermögensplanung. Geld, das man innerhalb von fünf Jahren brauchen könnte, muss kurzfristig mit entsprechend niedrigeren Renditen angelegt sein. Den Rest kann man in Aktien, Anleihen und Immobilien anlegen, wobei ich bei Aktien eher zehn als fünf Jahre empfehlen würde. Zu Aktien ist auch noch zu sagen: Die westlichen Länder sind in einer Phase – und die wird wahrscheinlich Jahrzehnte dauern –, in der es de facto kaum noch Wirtschaftswachstum geben wird. Ohne Wachstum gibt es auch keinen Realzins. Damit kann aus Anlegersicht die Rendite nur noch aus Risikoprämien kommen. Das ist ein Argument dafür, warum Aktien in Zukunft eine noch größere Rolle in der Altersvorsorge spielen werden als in Vergangenheit. Staatsanleihen mit fünf Prozent Rendite wird es nicht mehr geben – jedenfalls nicht in einem Umfeld mit normaler Inflation. Gleichzeitig überschätzen wir das langfristige Risiko am Aktienmarkt. Wir sehen die kurzfristigen Schwankungen an der Börse, aber diese sind irrelevant, wenn man sein Geld zehn oder 20 Jahre anlegt.
Haben Sie eine Lieblingsaktie?
Nein – und zwar deshalb, weil ich tue, was ich predige: nämlich diversifizieren. Ich weiß nicht einmal, welche Aktien ich in meinem Depot habe, weil dort momentan rund zehn ETFs liegen. Diese ETFs entsprechen wahrscheinlich Tausenden von Aktien.
Sind ETFs somit ein guter Tipp zur Diversifizierung, ohne sich ein Paket an Einzelaktien zusammenstellen zu müssen?
Richtig. ETFs sind extrem einfach und extrem günstig. Wenn die Vermögensverwaltung über eine Bank oder einen normalen Aktienfonds erfolgt, kommt man schnell auf eine Verwaltungsgebühr von 1,5 bis zwei Prozent pro Jahr. Das ist hochgerechnet auf 30 Jahre, oder auch nur auf zehn Jahre, viel Geld. ETFs haben Verwaltungsgebühren von häufig um die 0,2 Prozent. Sie sind aus Sicht eines jeden Anlegers ein optimales Instrument.
Interview: Heinrich Schwarz
Info
Südstern-Fachevent in Bozen
Am Karfreitag fand im Parkhotel Laurin in Bozen das bewährte „Banking & Finance Forum“ statt, organisiert vom Netzwerk Südstern. Als Speaker mit dabei waren Christoph Kaserer, Professor für Finanzmanagement und Kapitalmärkte an der Technischen Universität München, und Walter Sperb, Kapitalmarktstratege bei Flossbach von Storch Invest S.A. Die Themen: die Rolle der Aktien als Vermögensanlage mit Ausblick auf die langfristige Perspektive sowie die Frage, ob sich die Finanzmärkte trotz geschwächter Wirtschaft und restriktiven Zentralbanken erholen können. Im Anschluss gab es eine Podiumsdiskussion mit Ulrich Köllensperger, Partner bei EQT in Zürich, zum Thema Quo vadis, Kapitalmarkt – welche Perspektiven haben Aktien, Anleihen und Private Assets?