Bozen – Regelmäßig macht die Landesregierung Schlagzeilen mit erhofften oder erhaltenen Zugeständnissen aus Rom, die Südtirols Autonomie festigen sollen. Einmal geht es um Sport, ein anderes Mal um Umwelt oder Finanzen und wieder ein anderes Mal dreht sich alles um den Wolf. Oft streifen die Verhandlungen mit den Regierungsvertreter:innen innerhalb weniger Wochen unterschiedlichste Problemfelder. Einen roten Faden hinter diesen Verhandlungen zu erkennen, fällt schwer. Wirkt das nur von außen so?
Unterschätzte Verfassungsreform
Wenn man mit Expert:innen über Südtirols autonomiepolitische Strategie spricht, machen alle zunächst einen Schritt zurück zur Verfassungsreform im Jahr 2001. Diese wurde per Referendum angenommen. 85 Prozent der Wahlberechtigten in Südtirol stimmten damals für die Änderungen, auch aufgrund der Empfehlungen der Mehrheitspartei. Die Auswirkungen für Südtirols Autonomie scheint die SVP aber unterschätzt zu haben. Denn nach und nach stellte sich heraus: Anstatt die Zuständigkeiten des Landes auszubauen, wurden diese durch die Reform beschnitten.
Die Landespolitik konzentriert sich vorrangig darauf, Kompetenzen, die seit der Verfassungsreform von 2001 infrage gestellt werden, wiederherzustellen. Doch der eingeschlagene Weg stößt auf Kritik.
Dies geschah aber nicht aufgrund der Entscheidungen der Regierung oder des Parlaments, sondern aufgrund der Urteile des Verfassungsgerichtshofs. Dieser begann in den Jahren nach der Reform Südtirols Autonomie, genauso wie jene anderer Regionen, anzuzweifeln, wenn sogenannte „transversale Zuständigkeiten des Staates“ betroffen waren, – also Querschnittskompetenzen des Staates, die über die einzelnen Bereiche hinaus gehen.
Eine solche Kompetenz ist beispielsweise der Schutz des Wettbewerbs. „Laut den Urteilen des Verfassungsgerichtshofes müsste zum Beispiel jedes Mal, wenn bei öffentlichen Arbeiten der Wettbewerb betroffen ist, der Staat zuständig sein“, sagt Landeshauptmann Arno Kompatscher. „Und obwohl in der Verfassungsreform von 2001 eine Klausel enthalten ist, die die bis dahin erlangten Zuständigkeiten schützen soll, erachtet der Verfassungsgerichtshof diese Querschnittskompetenzen als vorrangig.“ Für Südtirols Autonomie ist das ein Problem.
Eine schleichende Gefahr
Aufgrund der Reform von 2001 werden viele Kompetenzen, die Südtirol bis dahin von Rom erhalten hat, infrage gestellt. Bis heute bestehe die schleichende Gefahr der Aushöhlung des Autonomiestatuts, so Kompatscher. „Das vorrangige Ziel, das wir verfolgen, ist deshalb die Wiederherstellung und Absicherung der Kompetenzen, die Südtirol vor der Reform von 2001 erhalten hat.“ Nach diesem Ziel richte die Landesregierung ihre Verhandlungen mit Rom aus.
Doch der eingeschlagene Weg stößt auf Kritik. „Auch wenn das Vorgehen nachvollziehbar ist: Anstatt größere Projekte anzugehen, wird stets nur ad hoc verhandelt“, meint der Verfassungsrechtler und Autonomieexperte Francesco Palermo. Was Südtirols Autonomie angeht, bevorzuge die Landesregierung Reförmchen anstatt Reformen anzustoßen.
Mehr als um das Entwickeln von Neuem zielt die Landesregierung auf das Wiederherstellen von Altem ab.
Der Landeshauptmann verteidigt das Vorgehen. „Es stimmt schon, dass wir manchmal das gesamte Gesetz sauber neu schreiben könnten. Dadurch würden wir aber das Risiko eingehen, dass der gesamte Bereich wieder angefochten wird.“ Deshalb versuche man die verschiedenen Bereiche mittels Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut abzusichern.
Mehr als um das Entwickeln von Neuem zielt die Landesregierung also auf das Wiederherstellen von Altem ab. „Für eine Weile ist das auch in Ordnung“, so Palermo. „Mittlerweile wird diese Strategie aber schon seit 20 Jahren verfolgt. Deshalb sollte man sich die Frage stellen, ob es nicht doch an der Zeit ist, sich größeren Fragen zuzuwenden, um größere Schritte nach vorne zu machen.“
Durch die Hintertür
Größere Schritte nach vorne will Südtirols Landesregierung vor allem durch neue Kompetenzen machen. Diese bilden den zweiten Teil der Autonomie-Strategie. „Was neue Bereiche anbelangt, äußern wir zum Beispiel schon seit Längerem die Forderung, Zuständigkeiten im Bereich Umweltschutz zu erhalten“, erklärt Kompatscher. Die Kompetenzen dafür – genauso wie bei anderen Fragen – hofft man, u.a. durch die Hintertür zu erhalten. „Wenn andere Regionen Zuständigkeiten erhalten, können wir ebenfalls danach verlangen“, meint der Landeshauptmann.
Da wären wir also bei den Blumen am Wegesrand. Diese Doktrin geht auf den Vater der Autonomie, Silvius Magnago, zurück. Er selbst umschrieb seine Verhandlungsstrategie gegenüber Rom oft mit dem Ausdruck „die Blumen am Wegesrand pflücken“. Damit meinte er: Gelegenheiten für Zugeständnisse, die sich ergeben, müssen am Schopf gepackt werden.
Diese Herangehensweise sei heute noch Teil der Strategie, erklärt Kompatscher. Die Blumen am Wegesrand werden also gepflückt, wenn sie in Reichweite sind. „Trotzdem heißt das nicht, dass wir ohne Strategie vorgehen. Es bedeutet lediglich, dass wir für unsere Forderungen nicht das Timing diktieren können, und wenn sich eine Tür vor einer anderen öffnet, dann nutzen wir diese Gelegenheit.“
Will Rom oder will es nicht?
Doch gleichgültig, ob es um kurzfristig wachsende Blümchen am Wegesrand geht oder um Kompetenzen, denen sich Südtirol nach der Reform von 2001 nicht mehr sicher sein kann: Entscheidend, ob Südtirol mit seinen Bestrebungen erfolgreich ist, ist ein politisches Umfeld in Rom, das Zugeständnisse machen will bzw. muss. „Erzwingen kann Südtirol, seit es den Pariser Vertrag mit der Streitbeilegung von 1992 vor den Vereinten Nationen für erfüllt erklärt hat, gegenüber Rom nichts mehr“, unterstreicht der Landeshauptmann.
Der Autonomieexperte Francesco Palermo führt aus: „Ob Südtirol in Rom erfolgreich ist, hängt nicht unbedingt von der Farbe der Regierung ab.“ Unter Mario Draghi, der von der SVP geschätzt wurde, ist beispielsweise autonomiepolitisch so gut wie nichts weitergegangen, genauso wie unter den Regierungen Conte I und Conte II (siehe „Kein Herz für Südtirol?“ in SWZ 40/22). „Am meisten erreichte Südtirol in den Legislaturen, in denen die hiesigen Parlamentarier das Zünglein an der Waage waren“, weiß Palermo. Das war in der Legislaturperiode 2013 bis 2018 der Fall, als die Regierungen Gentiloni, Renzi und Letta auf die Stimmen der SVP-Parlamentarier:innen angewiesen waren.
„Più ci lasciate fare, più potremo contribuire“
Derzeit ist das hingegen nicht der Fall. Wird autonomiepolitisch also wenig weitergehen? Das muss nicht sein, so Kompatscher. „Wir versuchen in Rom stets zu überzeugen nach dem Motto: Più ci lasciate fare, più potremo contribuire.“ Südtirol habe sich vor allem dank seiner Autonomie von einem Nettoempfänger in einen Nettozahler verwandelt. „Von mehr Autonomie profitiert am Ende der gesamte Staat“, so Kompatscher.
Wie offen die neue Regierung in Rom für Gespräche zur Autonomiepolitik ist, wird sich noch zeigen. Palermo ist aber der Überzeugung, dass Südtirol nicht für jeden Punkt und jedes Komma zwingend auf ein Okay aus Rom warten muss, denn Südtirol verfüge bereits über viele Kompetenzen, nur nutze es diese nicht. „Um die Autonomie zu stärken, könnte die Landesregierung zum Beispiel jedes Jahr ein bestimmtes Thema zur Priorität erklären und sich aus autonomiepolitischer Sicht damit eingehend befassen“, meint Palermo. Oder sie könne versuchen, die Grenzen der Kompetenzbereiche auszutesten, indem Gesetze in Südtirol verabschiedet werden und dann geschaut wird, ob das Verfassungsgericht diese kippt oder nicht, so der Verfassungsrechtler. „Mit mehr Elan wird auch mehr gelingen.“