Was macht der Mensch im Frühjahr 2020 den ganzen Tag? Offensichtlich: sich langweilen. Zumindest suggerieren das die zahllosen Online-Angebote, die derzeit versprechen, uns vor eben dieser „Langeweile“ zu erretten. Und wer kennt es denn nicht? Man ist eben erst aufgestanden, hat sein Notella-Brot verdrückt und sein Wodka-Red Schnull hinuntergekippt, und schon weiß man nicht mehr, was man mit dem Rest des Tages anfangen soll. Dabei ist es grade mal halb zwei am Nachmittag.
Die Antwort liegt auf der Hand: Fletnix schauen. Man wischt die letzten Brösel der gestrigen Chips-Tüte von der Couch, reißt sich ein neues Päckchen Saletti auf und stürzt sich in die nächste opulente Serie (wobei „stürzen“ natürlich völlig übertrieben ist; man gleitet, man sinkt, man dämmert hinüber). Und während im Autoplay-Modus eine Folge nach der nächsten abgespielt wird, verrauscht der Tag. Binge-Watching nennt man das, und es scheint die letzte Bastion einer völlig am Ende ihrer Kräfte angelangten Menschheit zu sein.
So weit zum Mythos. Nun zur Realität.
Von Leerlauf und Langeweile keine Spur
Als alles dichtgemacht hat, hat der Stress in meinem Bekanntenkreis, aber auch bei mir zu Hause, exponentiell zugenommen. Der eine ist Bauer, der weitgehend ohne landwirtschaftliche Helfer auskommen musste und nun alle Hände voll zu tun hatte. Der nächste ist Apotheker und stand wie meine ehemalige Mitschülerin, die Krankenschwester ist, unter Dauerstrom. Ein weiterer Freund ist stellvertretender Abteilungsleiter und musste nun sein Team von zu Hause aus „managen“. Und noch ein anderer schreibt für ein Weinmagazin und arbeitete an digitalen Angeboten für Winzer und Weininteressierte.
Mein Mann und ich unterdessen mussten für den digitalen Unterricht unser Lehrmaterial anpassen, jede einzelne Lektion sorgfältigst planen, vor- und nachbereiten, hatten Korrekturen bis unter die Nasenspitze und produzierten „nebenbei“ noch Videos für meinen Lyrikkanal auf Youtube (Selmas Poesiealbum, schauen Sie mal rein, was sich da in den vergangenen Wochen getan hat). Es zeigte sich also zumindest in meiner „Blase“ das folgende Bild: Ringsum nur Hektik, Druck und Atemlosigkeit (zum Glück nicht wegen einer Covid-19-Erkrankung). Von Leerlauf und Langeweile keine Spur.
Natürlich wurde zwischendurch trotzdem noch ferngesehen. Auch Fletnix. Aber nicht annähernd in dem epischen Ausmaß, wie es nun in das kollektive Narrativ Einzug gehalten hat. Liest man nämlich Artikel über die Krise, dann springt es einem überall ins Auge: Fletnix. Fletnix. Fletnix. Als gäbe es im Netz keine anderen Streamingdienste und Mediatheken und als sei es völlig undenkbar, dass manche Menschen einfach auch ein Buch lesen – oder genüsslich die SWZ durchblättern. Fletnix hat sich als Stellvertreter-Begriff für alles, was wir in einer Zeit ohne Sportübertragungen oder Tanzveranstaltungen anstellen können, durchgesetzt. Ich halte das für bedenklich. Nicht nur, weil ich mich dadurch nicht repräsentiert fühle (wir schauen zu Hause in erster Linie öffentlich-rechtliche Fernsehsender, da sehen Sie mal das Ausmaß unseres Spießerdaseins). Sondern auch, weil dadurch das Bild unserer Gesellschaft vorgeformt und verzerrt wird. Wer Fletnix hat, ist mit Unterhaltungsprogramm ausreichend versorgt, lautet die Botschaft.
Tatsächlich hat Fletnix in den vergangenen Wochen ordentlich an Nutzern dazugewonnen – was diesem seit Jahren in tiefroten Zahlen steckenden Streamingdienst auch zu vergönnen ist. Aber das ständige Betonen, dass die „Corona-Zeit“ eine Zeit des Fletnix-Schauens sei, verwischt die Realität. Oder um es anders auszudrücken: Der Mensch lebt nicht von Fletnix allein. Die existierenden Online-Alternativen habe ich ja schon erwähnt. Aber ich habe sogar schon von Familien gehört, die angeblich die guten alten Brettspiele wiederentdecken.
Die lokale Kunstszene schmiert gerade gewaltig ab
Und dann ist da noch etwas – und das liegt mir jetzt wirklich am Herzen. Zahlreichen Künstler*innen steht das Wasser durch die langandauernde Krise wortwörtlich bis zum Hals – denn für sie ist die Normalität noch in weiter Ferne. Viele möchten den Kontakt zu ihrem Publikum nicht verlieren und versuchen, mit kleinen Heimvideos, Wohnzimmerkonzerten und Küchenlesungen ein Lebenszeichen abzugeben. Meist arbeiten sie mit bescheidenen Mitteln, filmen mit dem Handy, schneiden den Film mit kostenlosen Programmen – wenn sie ihn überhaupt schneiden. Das sieht natürlich nicht nach Hochglanz aus, da fehlen zur Kinoqualität dann doch ein paar Milliönchen. Wenn wir das dann direkt mit den aufwendig produzierten Serien auf Fletnix und Co. vergleichen, fällt das Urteil vernichtend aus.
Mit anderen Worten: Die lokale Kunstszene schmiert gerade gewaltig ab. Wer braucht schon kleine, handgemachte Handyvideos, wenn er Fletnix hat? Aber lassen wir uns nicht täuschen. Fletnix mag viele Vorteile haben, eines kann es aber nicht: eine lebendige, regionale Kultur ersetzen, die kreativ und kritisch das Zeitgeschehen vor Ort reflektiert und kommentiert, uns Denkanstöße gibt und magische Momente mit Gänsehaut schenkt, bei denen wir mittendrin sind und nicht außen draußen.
Unser aktuell gesteigerter Konsum von digitalen Massenformaten sollte uns nicht vergessen lassen, dass die stachelige, ungeschliffene und allzu oft handgemacht wirkende (weil tatsächlich handgemachte) Kunst diejenige ist, die unserer geographischen und historischen Wirklichkeit am nächsten ist und zu ihren ureigenen Charakteristiken beiträgt. Das muss uns etwas wert sein.
Denken wir daran, wenn sich die Türen zu Theatern, Lesungen und Konzerten wieder öffnen, und sorgen wir schon jetzt dafür, dass wir nicht in eine Welt zurückkehren, in der alles andere außer Fletnix eingegangen ist. Dann nämlich wären wir wirklich alle arm dran.