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Stauforscher Michael Schreckenberg: „Rollen Sie mit“

MOBILITÄT – Gerade in der Ferienzeit steht der Verkehr auf den vollen Straßen irgendwann still. Anders als Ameisen steht der Mensch häufig im Stau. Woran liegt das? Was hilft dagegen? Und: Wie kommt man am besten durch? Stauforscher Michael Schreckenberg gibt Antworten.

Sabina Drescher von Sabina Drescher
30. Juni 2023
in Wissen
Lesezeit: 6 mins read
Stauforscher Michael Schreckenberg: „Rollen Sie mit“

Foto: Shutterstock

Michael Schreckenberg ist Professor an der Uni Duisburg-Essen. Er ist Stauforscher­ und hat den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für „Physik von Transport und Verkehr“ inne. (Foto: Michael Schreckenberg)

SWZ: Es ist wohl schon jedem ­einmal passiert: Wir geraten in ­einen Stau, dann passiert man eine Art unsichtbare Barriere und plötzlich fließt der Verkehr wieder. Was ist da los?

Michael Schreckenberg: Da muss ich etwas ausholen. Prinzipiell unterscheiden wir drei Hauptursachen für Stau: erstens Baustellen, zweitens Unfälle und drittens Überlastung. Baustellen und Unfälle sind für je rund 15 bis 20 Prozent der Staus verantwortlich, Überlastung für rund 60 bis 70 Prozent. Eine weitere Ursache sind widrige Wetterbedingungen – wie tiefstehende Sonne oder aufspritzendes Wasser. Auf ihr Konto gehen etwa zwei Prozent der Staus.

Überlastung haben wir, wenn zu viele Fahrzeuge zur selben Zeit in dieselbe Richtung unterwegs sind. Die Staudynamik ist in diesem Fall immer dieselbe. An manchen Stellen steigt die Dichte, an Anschlussstellen oder an einer Steigung zum Beispiel. Der Verkehr wird dort zähfließend. Wenn dann einer stärker bremst, die dahinter entsprechend noch stärker bremsen müssen, bis sich das Bremsen so verstärkt, dass ein Fahrzeug ganz zum Stehen kommt, entsteht eine Stauwelle.

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Und diese Welle fließt wie eine ­Welle im Wasser?

Ja, mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 Kilometer pro Stunde rückwärts – dem nachfolgenden Verkehr entgegen. Sie kann sich auch eine Stunde lang erhalten. Ihnen kommt dann eine Welle womöglich dort entgegen, wo die Ursache nicht ersichtlich ist. Das Gefährliche daran ist, dass die Stellen zähflüssigen Verkehrs wie Pumpen wirken.

Das heißt?

Es entsteht eine Stauwelle nach der anderen mit einem Abstand von fünf bis zehn Minuten. Zwischendrin fließt der Verkehr wieder beinahe flüssig. Viele fahren aus dem Stau raus, meinen, es sei überstanden, doch dann folgt die nächste Welle. Durch verminderte Aufmerksamkeit kommt es in diesen Situationen häufiger zu Unfällen, das ist tatsächlich ein messbares Phänomen.

Wann hören die Stauwellen auf?

Erst, wenn der Zufluss von hinten geringer wird. Die höchsten Spitzen haben wir Freitagnachmittag. Wenn dann noch Urlaubsverkehr dazu- kommt, sollte man tunlichst vermeiden, um Zentren zu fahren.

Sonst kommt man ins Stehen …

… das ist ein Charakteristikum von Staus. Wären wir Kieselsteine oder würden wir Autoscooter fahren, hätten wir fahrende Staus, so aber haben wir stehende. Über eine interne Geschwindigkeit verfügen sie trotzdem, sie beläuft sich auf zehn Kilometer pro Stunde. Für fünf Kilometer Stau können Sie also etwa eine halbe Stunde Zeit einplanen.

Ist Abfahren auf der Autobahn eine Lösung?

Das Stop-and-Go ist zwar nervig, aber in den meisten Fällen immer noch effektiver als das Fahren auf Landstraßen, selbst wenn uns die eigene Psyche etwas anderes vermittelt. Am besten wäre, alle würden gleichmäßig hintereinanderfahren, doch dafür ist der Mensch nicht geschaffen.

Also sollte man auch nicht auf ­datengetriebene Dienste hören wie Google Maps, wenn die einem vorschlagen, eine alternative Route zu wählen?

Von der Autobahn sollte man nur bei einer Vollsperrung abfahren. Das hat zwei Gründe. Erstens kommen viele zugleich auf die Idee. Zweitens weist das umliegende Verkehrsnetz eine geringere Kapazität auf und ist somit schnell selbst überlastet. Auf diesen Straßen gibt es außerdem Kreuzungen, Ampeln oder Ortsdurchfahrten. Es entstehen dort ebenfalls Staus, die vielleicht noch schlimmer sind. Eine Ausnahme gibt es, und zwar, wenn eine alternative Autobahnstrecke zur Verfügung steht, denn dann ist die Kapazität entsprechend hoch.

Gibt es abgesehen davon weitere Tipps, an die wir uns halten können?

Ich habe drei. Wir sollten erstens kooperativer sein, dann könnten wir uns zehn bis 20 Prozent aller Staus ersparen. Nun ist es aber so, dass Autofahrer nur nach vorne denken, was hinter ihnen passiert, ist den allermeisten egal. Denn selbst wenn ich der Auslöser einer Stauwelle bin, betrifft mich diese nicht. Es gibt also keinen Lerneffekt.

Dazu kommt das Gefühl, dass man selbst immer auf der langsameren Fahrbahn unterwegs ist. Amerikanische Forscher haben das nachgewiesen. Es führt dazu, dass Fahrer häufig die Spur wechseln, obwohl das nichts bringt. Wir haben mal einen Test gemacht mit drei Fahrzeugen, das eine sollte nur rechts fahren, das zweite maximal 130 fahren und das dritte in jede Lücke reinspringen. Die Strecke war 70 Kilometer lang. Das dritte Auto war am Ende drei Minuten schneller, hatte ziemlichen Stress und hat wahrscheinlich selbst kleine Stauwellen ausgelöst, als es in die Lücken fuhr.

Zweitens?

Lassen Sie Abstand zum Fahrzeug vor Ihnen. Wenn es bremst, können Sie das ausgleichen. Und drittens: Nutzen Sie die Beschleunigungsspur, wo vorhanden. Die heißt nicht umsonst so. Manche fahren direkt ein und zwingen andere zum Bremsen, weil sie zu langsam sind. Überhaupt ist ständiges Gasgeben und Bremsen schlecht, und zwar deswegen, weil es Stau auslösen bzw. begünstigen kann. Am besten fahren Sie möglichst gleichmäßig. Rollen Sie relaxed mit dem ­Verkehr mit.

Einfach mitzurollen ist für manche schwierig.

Stimmt, dazu gibt es psychologische Untersuchungen. Im Stau zu stehen ist für manche aber noch schwieriger, gerade auf der Autobahn, weil sie sich wie gefangen fühlen, dadurch dass sie nicht aussteigen können. Das macht manchen große Angst, entsprechend versuchen sie eine solche Situation zu vermeiden.

Nun gibt es aber auch Menschen, von denen man meinen könnte, sie stehen gerne im Stau. Oder wieso fährt man zum Beispiel am ersten Ferientag um 9 Uhr in den Urlaub?

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung habe ich es mal so formuliert: Wenn man ohne Stau in den Urlaub fährt, hat man etwas falsch gemacht. Es ist wie eine Art Tür, durch die man geht. Es entsteht eine Art Wir-Gefühl, wenn man mit all den anderen im großen Stau steht. Sicher, man könnte früher losfahren, ein größeres Zeitbudget einplanen, aber das machen die wenigsten.

Der Verkehr in Südtirol ist in den vergangenen Jahren explodiert, während das Straßen- und Schienennetz nahezu unverändert ­geblieben ist. Ist das eine Ursache für Staus, der kaum beigekommen werden kann?

Das größte Problem ist der Lkw-Verkehr. Die Bahn kann dessen prozentuales Wachstum von zwei Prozent pro Jahr nicht aufnehmen. Und ein 40-Tonnen-Lkw belastet die Straße so stark wie 60.000 Pkw, was zu enormem Sanierungsbedarf führt. Hier werden wir kurzfristig auch keine Besserung sehen, denn dann müsste sich das Konsumverhalten ändern.

Was ist mit den Pendlerinnen und Pendlern?

Die Bahn müsste deutlich attraktiver werden, gerade in Deutschland. Wenn Sie morgens planen, irgendwohin zu fahren, wissen Sie nicht, ob das klappt. Das Angebot ist außerdem nicht mehr an das Arbeitsverhalten der Menschen angepasst. Üblich waren eine Spitze morgens und eine abends. Nun machen viele Homeoffice, arbeiten halbe Tage im Büro, also bräuchte es mittags ebenfalls eine erhöhte Frequenz­ – gibt es aber nicht. Wer seltener ins Büro muss, nimmt außerdem eher das Auto, auch wenn er oder sie vor der Pandemie vielleicht ausschließlich die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt hat.

Ein attraktiveres Angebot bedeutet für mich außerdem bessere Preise, und zwar für Tickets, die für alle Öffis gelten, nicht nur in einem bestimmten Verkehrsverbund. So könnten wir die Einstiegsbarriere deutlich senken.

Insgesamt müssen wir feststellen, dass wir noch nicht den richtigen Weg gefunden haben. Die Frage nach der Mobilität der Zukunft ist schwierig. Es wird ja auch nicht jeder nur mit dem Fahrrad fahren. Menschen kaufen Autos, um damit zu fahren. Das gilt insbesondere auch für E-Autos.

Anders als wir Menschen stehen zum Beispiel Ameisen nicht im Stau. Können wir von der Natur lernen?

Ameisen handeln kooperativ. Wenn sich der Ameisenverkehr verdichtet, beschleunigen sie und laufen dadurch einem möglichen Stau davon. Die langsameren Mitglieder scheren aus, um die schnelleren nicht zu behindern. Wir Menschen machen das Gegenteil, wir arbeiten gegen- statt miteinander. Nicht nur im Bereich der Mobilität – leider. Deshalb werden wir nie wie die Ameisen sein, es sei denn, wir fahren alle automatisiert, also wirklich zu hundert Prozent. Sollte nur ein Mensch mitfahren, bricht das System zusammen. Realistisch betrachtet wird es daher wohl immer Stau geben.

Keine allzu schönen Aussichten.

Die Kapazitäten von Straßen sind endlich. Keinen Stau gibt es nur, wenn sie den Verkehr komplett verbieten – wie in gewissen Innenstädten. Dann stauen sich aber mitunter die Fußgänger oder Radfahrer.

Welchen Rat in Hinblick auf ­Stauvermeidung würden Sie Verkehrsplanenden oder politisch Verantwortlichen erteilen?

Sie sollten keine Zwangsmaßnahmen einführen, also zum Beispiel nicht plötzlich Fahrspuren umwidmen, eine Spur für Autos sperren und nur mehr für Fahrräder, Busse und E-Autos zugänglich machen. Dann staut es nämlich schon auf den Zulaufstrecken.

Sie sollten vielmehr vernünftige Alternativen schaffen, denn sie können den Menschen die Mobilität nicht verbieten, schließlich bedeutet Mobilität Freiheit. Sie sollten deshalb den öffentlichen Verkehr unterstützen, womöglich kostenlos anbieten. Er muss allerdings die richtige Qualität haben. Und: Man muss die Menschen mitnehmen. Wird einfach etwas von oben erlassen, funktioniert es nicht.

Die eine Lösung ist noch nicht gefunden. Ich denke, wir stehen am Anfang einer längeren Entwicklung. Wir leben in einer Art Zwischenzeit. Wir wissen zwar: So weiter wie bisher wird es kaum gehen, aber wir wissen noch nicht, wo wir eigentlich hinwollen.

Interview: Sabina Drescher

Schlagwörter: 25-23free

Ausgabe 25-23, Seite 13

Sabina Drescher

Sabina Drescher

Die Kaltererin hat in Innsbruck und Cagliari studiert. Sie blickt gerne hinter die Fassaden von Gebäuden, noch lieber hinter die von Menschen.

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