Christian Pfeifer meint:
Lasst es uns mit Renzi versuchen!
Ja, ich bekenne offen, dass Matteo Renzi mein gro ßer Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft Italiens ist. Sicher, auch mir erscheint seine populistische Art manchmal verdächtig, zum Beispiel wenn er die Senkung der Politikkosten um eine Milliarde(!) verspricht, wenn er den unverhältnismäßigen Steuerdruck anprangert, wenn er den unerlässlichen Personalabbau im öffentlichen Dienst bemüht – alles schongehärt, oder? Und trotzdem: Lassen wir diesen 38-jährigen Dreifachvater doch beweisen, dass er es besser kann als seine Vorgänger.
Allein Matteo Renzi weiß, ob er selbst an das glaubt, was er sagt. Aber den Versuch ist es wert, finde ich. Wenn ihm gelingen sollte, was er vorerst nur verspricht, wäre das eindeutig ein Hoffnungsschimmer für dieses Italien, in dem immer mehr Menschen verzweifelt sind und in dem auch Südtirol mit drin hängt. Und wenn uns der Mann enttäuscht? Dann weg mit ihm! Aber zunächst hat er sich die Chance verdient. Probieren geht über Studieren.
Im Übrigen, was ist die Alternative? Ich persänlich sehe keine, weder bei den Alten, noch bei den Jungen. Wahrscheinlich ist es auch dieser erschreckende Mangel an brauchbarer politischer Konkurrenz, der diesen Mann so attraktiv macht. Berlusconi, D’Alema, Prodi, Monti und wie sie sonst noch alle heißen, sie alle sind gescheitert. Auch der jüngere Enrico Letta ist gescheitert, so sehr sich die SVP über dessen jüngste Autonomiezugeständnisse freut. Als Letta sich vergangene Woche der Vertrauensabstimmung im Parlament unterzog, schwang er eine große Rede von wegen Aufbruch und Reformen, ganz als wäre er neu im Regierungsamt. Hat er seit April im Sandkasten gespielt? Alle Regierungen der vergangenen 20 Jahre sind an den naheliegendsten Reformen gescheitert, zum Beispiel am Schreiben realitätsnäherer Arbeitssicherheitsregeln oder am Flicken des Verschwendungsfasses ohne Boden oder am Beseitigen anderer allgemein bekannter Missstände. Und die bisherigen Dekrete der Regierung Letta tragen zwar wohlklingende Namen wie „decreto crescita“ und „decreto del fare“, aber Impulse hat niemand gespürt.
Ja, auch Matteo Renzi verspricht den Italienern das Blaue vom Himmel, so wie viele Politiker vor ihm. Aber zumindest hat er noch nicht Wort gebrochen. Nun hegen Skeptiker Bedenken, was ein einzelner Mann – und sei es ein politischer †berflieger wie Matteo Renzi – ausrichten wird können. Die Bedenken sind berechtigt, denn auch in der jüngeren Vergangenheit sind Regierungschefs häufig nicht am eigenen Unvermögen gescheitert, sondern an Widerständen in ihrer Koalition, in ihrer eigenen Partei oder im Beamtenapparat. Aber vielleicht waren die Regierungschefs einfach nicht stark genug, um die Koalition bzw. die eigene Partei geschlossen hinter sich zu scharen.
Enrico Letta beispielsweise ist – Kompetenz hin oder her – schwach. Wie sollte er auch ein starker Regierungschef sein? Er ist nur die Notlösung, weil Pierluigi Bersani keine Regierung zustande brachte. Matteo Renzi hingegen ist kraft seiner knapp 70 Prozent Zustimmung bei den jüngsten PD-Wahlen stark, zumindest noch. Es gelingt ihm, sich als „rottamattore“ aufzuspielen, ohne gleich abserviert zu werden wie gar einige selbsternannte Erneuerer vor ihm. Matteo Renzi besitzt Charisma, und auch das macht ihn zu einem Hoffnungsträger für Italien. Er hat Ausstrahlung wie ein Silvio Berlusconi oder ein Beppe Grillo und daher das Zeug, die Italiener „mitzunehmen“. Unter ihm als Regierungschef würden die Opfer, die die Bürger auf dem Sanierungskurs bringen müssen, wohl nicht weniger werden. Aber vielleicht würde es dem charismatischen Florentiner besser als den vergleichsweise farblosen Vorgängern Monti und Letta gelingen, die Italiener von der Notwendigkeit zu überzeugen.
Noch etwas lässt mich auf Renzi hoffen. Er kommt aus dem Partito Popolare, also aus der politischen Mitte, und tatsächlich lehnt sich der Unternehmersohn mit seinen Aussagen zuweilen weit nach rechts. Den PD lässt der neue Chef solcherart ein bisschen weiter in die politische Mitte rücken.
Also? Dieser 38-jährige Senkrechtstarter, der mit 29 Jahren Präsident der Pro-vinz Florenz und mit 34 Jahren Bürgermeister von Florenz wurde, muss meines Erachtens möglichst schnell Regierungschef werden. Mir ist der Gedanke an vorgezogene Neuwahlen zwar nicht sympathisch, schon allein wegen der Kosten nicht, welche jeder Urnengang verursacht, und wegen der gewählten Südtiroler Parlamentarier nicht. Aber Italien hat keine Zeit mehr, wie in diesen Tagen der Protest der Heugabelbewegung offenbart. Die Methoden mancher „forconi“ sind zu verurteilen, trotzdem handelt es sich um einen ernstzunehmenden Hilfeschrei von Verzweifelten, die vor der Fernsehkamera zuweilen in TrÄnen ausbrechen.
Enrico Letta hatte neun Monate Zeit, sich zu beweisen, es ist ihm nicht gelungen – also weg mit ihm. Der Nächste bitte! Renzi bitte! Dieser mag ein gewagtes Experiment sein, aber als Optimist hoffe ich auf ein Gelingen des Experiments und darauf, dass sich die römische Politik mit ihm endlich wieder den eigentlichen Sorgen der Bürger und Unternehmen annähert.
Mir wäre auch lieber, wenn Italien mehrere Hoffnungsträger hätte. Aber Italien hat derzeit nur einen.
Robert Weißensteiner meint:
Für mich zählen Worte nicht mehr
Ich gebe zu: Matteo Renzi gefällt mir. Vor einem halben Jahr habe ich an dieser Stelle sein Buch „Raus! Politik mit offenem Visier“ vorgestellt, und ich wiederhole meine Aussage von damals: Man kann viel von dem unterschreiben, was Renzi feststellt, was er in deutlichen Worten sagt, wobei er auch den Ausdruck „Verschrotter“ gebraucht, was ein klein wenig an den zweiten politischen Aufsteiger und Aufräumer der jüngsten italienischen Geschichte erinnert, an Beppe Grillo. Matteo Renzi, der „Wunderjunge“, fasziniert mit seiner Art, mit seinen Aussagen und der Tatsache, dass er sich nicht davor scheut, heilige Kühe zu schlachten: Er geißelt das verkrustete politische System ebenso wie die in manchen Punkten unverbesserlichen Gewerkschaften, und man hat den Eindruck, dass er erkennt, an was Italien (und dessen öffentlicher Dienst) krankt, dass er es aber nicht bei der Erkenntnis belässt, sondern etwas unternimmt.
Der „Tony Blair der italienischen Politik“ ist kürzlich mit deutlicher Mehrheit zum neuen Chef des „Partito Democratico“, der bestimmenden Regierungspartei, gewählt worden. Was er, der von der einstigen italienischen Volkspartei des Rocco Buttiglione kommt, in seinen ersten Stellungnahmen nach der Wahl sagte, stimmt zuversichtlich: „Das ist nicht das Ende der Linken, sondern das Ende einer Gruppe von Führungsfiguren der Linken“, urteilte er mit Blick auf die alte Garde, insbesondere Massimo D« Alema. Und weiter: „Die Italiener haben einmal mehr bewiesen, dass sie besser sind als ihr politisches Führungspersonal.“ Wer so spricht, dem ist Applaus sicher. Wer so etwas sagt, läuft Gefahr, Populist genannt zu werden, spricht aber nur aus, was die Menschen schon lange denken.
Es ist fast nicht anders möglich, als alle Hoffnungen in diesen jungen Newcomer zu setzen. Und doch bin ich zurückhaltend mit Vorschusslorbeeren. Diese meine Skepsis mag insofern unangebracht sein, als Italien jetzt Optimismus braucht und Renzi derjenige ist, der Optimismus verbreitet. Aber über 30 Jahre Erfahrung im politischen Journalismus warnen mich davor, euphorisch zu sein. Wer zuerst wechselnde DC-Regierungschefs sowie Bettino Craxi erlebt und den Untergang der alten Parteien im Korruptionsskandal „Tangentopoli“ mitverfolgt hat, wer neue Parteien an die Stelle der verkalkten und verlotterten alten treten gesehen hat, aber miterleben musste, wie die Neuen sogar noch problematischer waren und sich noch unverschämter bedient und noch dreister gelogen haben als die Alten, wer sich erinnert, welche Hoffnungen ein Silvio Berlusconi 1994 zu wecken imstande war und welche Ausreden für sein Versagen er gefunden hat, der ist geheilt, der applaudiert nicht mehr schnell, der hält sich lieber an das Bibelwort „An ihren Taten werdet ihr sie erkennen“ und „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“
Die ersten Aktionen, die Renzi gesetzt hat, stimmen mich zuversichtlich,. Niemand kann etwas dagegen haben, dass er der Regierung seines Parteifreundes Enrico Letta Beine machen will, denn diese hat bisher noch wenig bewirkt und so gut wie nichts reformiert. Aber erst dann, wenn es an das Eingemachte geht, wird sich zeigen, ob er Kraft genug hat, um mit dem Besen in den Augias-Stall zu fahren. Wenn ein neues Wahlgesetz da ist, wenn das Parlament verkleinert und der Senat in eine Kammer der Regionen umgewandelt ist, dann sind das echte Zeichen, dass es geht. Aber es ist zu befürchten, dass es nicht geht – was den Weg für Renzi in den Chigi-Palast freimachen würde, denn dort will er hin.
Aber auch dann, wenn er Regierungschef ist, muss Renzi mit Widerständen rechnen, die ihm das Genick zu brechen drohen und ihn auf den Boden der verworrenen realpolitischen Tatsachen in Italien zurückzuholen drohen. Der PD ist keine sozialdemokratische Partei, wie vielfach angenommen wird, sondern ein Sammelsurium von gemäßigten Linken, alten Kommunisten und ideologischen Nachfahren der Christdemokraten, die sich schwertun, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Einige werden alles unternehmen, um eine radikal neue Politik zu verhindern – aus ideologischen Gründen, aber auch aus sehr persönlichen.
Dazu kommt, dass Renzi und die Regierung (derzeit noch Letta) Mehrheiten brauchen, die sie in diesem Parlament möglicherweise nicht finden. Es ist leider so, dass der Leidensdruck in Italien noch nicht groß genug ist, um die Bewahrer und Verteidiger des Status quo wegzuspu?len. Wenn es erst an die Verfassungsreformen geht, werden viele Hände unten bleiben – dorthin befohlen von den Köpfen und Bäuchen, die am finanziellen Tropf der Politik hängen.
Die Italiener wissen, dass viele Dinge anders werden müssen, und sie treten auch dafür ein, dass dies geschieht. Allerdings sind sehr viele von ihnen in irgendeiner Weise selbst „protetti“, die von Beziehungen profitieren. Wenn es erst darum geht, den öffentlichen Dienst zu reformieren, Schutzzäune einzureißen, Wettbewerb zuzulassen, das hemmende Arbeitsrecht zu reformieren und viele andere Dinge zu tun, die Italien wieder flott machen, kriegen viele Bauchweh, denn Änderungen im eigenen Garten will niemand. Wenn es einmal wirklich ans Ändern geht und es Renzi gelingt, seine Rolle als Verschrotter zu erfüllen, dann werde auch ich applaudieren. Bis dahin bleibe ich skeptisch, denn ich bin ein „politicamente“ gebranntes Kind.