SWZ: Frau Bornmann, die Forderungen nach einer Work-Life-Balance, weniger Wochenarbeitsstunden oder mehr Flexibilität sehen gar einige als Luxusprobleme. Geht es uns zu gut?
Laura Bornmann*: Natürlich können wir diese Dinge fordern, weil wir heute ein höheres Wohlstandsniveau haben. Wenn wir die Evolution der Arbeit ansehen, dann erkennen wir, dass sich die Arbeitsbedingungen kontinuierlich verbessert haben. Wir sehen aber auch, dass es noch große Unterschiede gibt. So gibt es immer mehr Privilegierte, vor allem im akademischen Bereich, aber auch Menschen, die nach wie vor in körperlich anstrengenden Jobs mit schlechten Rahmenbedingungen arbeiten. Das müssen wir differenzieren.
Fakt ist, dass sich natürlich mit hohem Wohlstandsniveau auch die Arbeitsbedingungen ändern. Und sie müssen sich auch ändern, weil unsere Herausforderungen komplexer werden und wir mit traditionellen Arbeits- und Führungsweisen nicht mehr weiterkommen. Fakt ist aber auch, dass nicht alle die Vier-Tage-Woche wollen, auch wenn das oft pauschal so dargestellt wird.
„Gerade in Jobs, die in Zukunft relevant sein werden, ist Zeiteinsatz nicht gleich Leistung.“
Laut einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurde in Deutschland im Jahr 2023 pro Kopf so wenig gearbeitet wie nie zuvor, auch in vielen anderen europäischen Ländern sinkt die Arbeitszeit pro Kopf. Können wir uns das leisten angesichts des Arbeitskräftemangels?
Auch hier ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. In Deutschland haben wir eine der höchsten Teilzeitquoten. Das liegt auch daran, dass wir es nicht schaffen, das Potenzial der Mütter zu nutzen, weil wir fehlende Betreuungsmöglichkeiten haben, weil die Frauen stigmatisiert werden. Darüber hinaus müssen wir berücksichtigen, dass gerade in Jobs, die in Zukunft relevant sein werden, Zeiteinsatz nicht gleich Leistung ist. In immer mehr Jobs spielen Aspekte wie Leidenschaft, Kreativität, Mut oder Netzwerk eine zunehmend größere Rolle.
Dennoch bin ich der Überzeugung, dass wir für die Herausforderungen, die wir in Zukunft haben werden, jede helfende Hand brauchen. Wir brauchen Menschen, die Lust auf Arbeit haben und die bereit sind, auch mal die Extrameile zu gehen. Dafür müssen wir bessere Rahmenbedingungen schaffen.
Das heißt, Sie sind gegen eine pauschale Arbeitszeitreduzierung.
Ja, weil das auch nicht nötig ist. Was eher der Fall ist, ist, dass Unternehmen versuchen müssen, flexibler und individueller auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden zu reagieren. Unternehmen müssen es schaffen, intelligente Lösungen zu finden. Es geht natürlich sehr wohl noch um Leistung – oder mehr denn je – und darum, die wirtschaftlichen Ziele des Unternehmens zu erfüllen, aber es geht auch darum, die Arbeitsanforderungen mit den Bedürfnissen der Menschen in Einklang zu bringen. Diesbezüglich ist heute noch sehr viel möglich, deswegen sehe ich so viele Chancen.
Inwiefern wirken sich New-Work-Arbeitskonzepte wie die Vier-Tage-Woche oder der Sechs-Stunden-Tag auf die Produktivität bzw. Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft aus?
Es gibt diverse Studien, die zeigen, dass unsere Konzentrationsfähigkeit ab einer gewissen Zeit abnimmt und wir irgendwann nicht mehr produktiv sind. Das kennen wir alle ja aus eigener Erfahrung. Es gibt auch erste Experimente, die zeigen, dass eine reduzierte Arbeitszeit die Produktivität sogar steigert, weil Menschen zufriedener, ausgeglichener und gesünder sind. In immer mehr Jobs zählen andere Kriterien mehr als Zeiteinsatz. Ziel sollte es sein, den Zustand zu erreichen, dass möglichst viele Menschen passend zu ihrer Leidenschaft und ihrem Können eingesetzt werden, dann würden weniger Menschen den Wunsch haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren.
Dennoch gibt es Jobs, bei denen die Produktivität sehr wohl mit den Arbeitsstunden korreliert.
Das stimmt, aber die Jobs werden weniger. Aus meiner Sicht ist der Schlüssel zu vielen Herausforderungen, die wir aktuell haben, gute Führung. Ich würde deshalb als Unternehmen in Führung investieren, in die Befähigung von Menschen, zu führen. Wichtig ist auch die Frage: Wie werden Führungskräfte ausgewählt? Diesbezüglich brauchen wir mehr mutige Entscheidungen: Es sollten auch Menschen ausgewählt werden, die nicht die besten Fachkräfte waren, die aber Interesse an Menschen haben und Lust, das Potenzial der Menschen zu nutzen, die Stärken erkennen und wertschätzend sind. Genau dort würde ich investieren und dann werden wir eine Situation haben, in der Menschen wieder mehr Lust haben, zu arbeiten. Vieles steht und fällt mit der Führungskraft.
Das heißt, bei Berufen, bei denen eine Reduzierung der Arbeitszeit nicht möglich ist, sollten die Rahmenbedingungen geändert werden, aber nicht die Arbeitszeit?
Ich glaube, man kann die Arbeitszeit in jedem Job reduzieren. Das ist eine Organisations- und Strukturfrage. Ich bin aber überzeugt, dass wir jetzt die Rahmenbedingungen verbessern müssen, sodass Menschen gar nicht erst das Bedürfnis haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Unternehmen brauchen dann vielleicht mehr Fachkräfte.
„Ich möchte einen Wunsch an Unternehmen äußern: Seid mutig und befördert auch mal Menschen, die nicht die besten Fachkräfte sind, aber umso mehr Social Skills haben.“
Aber woher sollen sie diese Fachkräfte nehmen?
Das ist ein anderes Thema. Es ist ja immer so: Druck erzeugt Innovation und den Blick auf neue Möglichkeiten. Ich habe lange bei Rewe gearbeitet. Wie in vielen anderen Branchen, ist es auch hier schwierig, Fachkräfte zu finden. Eine Lösung ist der Einsatz von Selbstbedienungskassen, die gerade überall eingeführt werden. Neue Technologien bieten viele Möglichkeiten. Und natürlich muss jedes Unternehmen für sich schauen, wie es attraktiv sein kann. Dazu kommt die politische Ebene: Wie können wir mehr Frauen in den Arbeitsmarkt bekommen, wie kann Einwanderung vereinfacht werden? Das ist ein riesiges Potenzial in Deutschland.
Bei Gesprächen über New Work fällt oft das Argument, dass wir, wenn wir in Europa weniger arbeiten, im globalen Wettbewerb den Anschluss verlieren gegenüber Ländern, wo es diese Forderungen gar nicht gibt, beispielsweise China oder Indien. Ist da etwas dran?
Bei den großen Zukunftsinnovationen und Themen, in denen Europa Spitzenreiter ist, geht es weniger darum, viele Stunden zu arbeiten. Da geht es vielmehr um Kreativität oder Mut. Ich mache mir in Deutschland eher Sorgen darum, dass wir nicht mutig genug sind, dass wir zu wenig an uns selbst glauben, dass wir nicht wissen, was wir wirklich gut können und was uns antreibt. Deshalb setze ich mich so sehr für flächendeckende Persönlichkeitsentwicklung ein. All diese Themen werden unterschätzt. Wir sollten hiermit schon im Kindes- und Schulalter beginnen.
Welche drei Maßnahmen sollten Unternehmen umsetzen, wenn sie ihre Mitarbeitenden motivieren und zu mehr Engagement bewegen möchten?
Viele wissenschaftliche Studien kommen zum Schluss, dass die Bindung maßgeblich von Führung abhängt, deswegen würde ich mich mit dem Thema Führung beschäftigen, das ist das Erste. Konkret heißt das: Führungskräfte müssen unterstützt und für neue Skills befähigt werden. Heute ist immer noch oft das Credo verbreitet, Führung könne jeder. Das ist nicht so, Führung ist ein Handwerk. Und wir müssen den Führungskräften die Zeit geben, sich mit Führung zu beschäftigen, was auch bedeutet, dass wir definieren müssen, was wir in Zukunft nicht mehr von Führungskräften erwarten. Diesbezüglich möchte ich einen Wunsch an Unternehmen äußern: Seid mutig und befördert auch mal Menschen, die nicht die besten Fachkräfte sind, aber umso mehr Social Skills haben.
Welchen zweiten Tipp würden Sie geben?
Mehr Flexibilität, also mehr flexible und individuelle Rahmenbedingungen schaffen. Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass sie mit dem Unternehmen vereinbar sind.
Und die dritte Maßnahme?
Die lautet: mal mit einem anderen Menschenbild morgens zur Arbeit gehen, und zwar mit einem positiven. Mit der Einstellung: „Ich glaube, dass die meisten Menschen bei mir im Unternehmen einen guten Job machen wollen, dass sie die Extrameile gehen wollen.“ Wenn ich mit diesem Menschenbild zur Arbeit gehe, dann vertraue ich den Menschen, dass sie im Homeoffice nicht den ganzen Tag auf der Couch sitzen und Netflix schauen.
Beobachten Sie tatsächlich dieses Misstrauen? Und woher kommt das?
Auf jeden Fall. Mir ist schon klar, dass es, je größer ein Unternehmen wird, umso mehr Strukturen, Regeln und Prozesse braucht. Aber ich glaube auch, dass wir mehr vertrauen sollten. Wenn man die richtigen Leute hat, können die sehr wohl entscheiden, von wo aus sie den Job am besten machen. In vielen Unternehmen ist es auch üblich, dass man – überspitzt formuliert – für jeden neuen Bleistift, den man kaufen will, ein Anforderungsformular ausfüllen muss, welches von der Führungskraft unterschrieben werden muss. Das ist Zeitverschwendung. Mehr Vertrauen würde uns guttun, weil wir dann innovativer und schneller sind. Ich habe noch nie ganz verstanden, wieso viele so ein negatives Menschenbild haben, aber jetzt ist es Zeit für ein positives Mindset.
Haben Sie ein Rezept dafür, wie Unternehmen ein positives Menschenbild etablieren können?
Es gibt ein Buch namens „Im Grunde gut“, das kann ich empfehlen. Wir Menschen haben die Angewohnheit, den Fokus eher auf negative Dinge zu legen. So sind wir. Aber man kann etwas dagegen tun, zum Beispiel jeden Abend Dinge benennen, die im Unternehmen gut gelaufen sind und die gezeigt haben, dass die Menschen engagiert sind und einen guten Job machen wollen. Oder mit einer positiven Einstellung in ein schwieriges Gespräch gehen. Da passieren Wunder.
Brauchen wir umgekehrt auch mehr Empathie gegenüber Führungskräften?
Ja, das ist ganz wichtig. Wir fordern heute so viel von den Führungskräften. Wir verlangen von ihnen, Energie zu geben, zu motivieren und zu inspirieren. Aber auch sie müssen Energie bekommen. Genau deswegen müssen wir hier ansetzen und uns fragen, wie wir Führungskräfte besser unterstützen können.
Interview: Silvia Santandrea
* Laura Bornmann ist HR-Expertin, Hochschulrätin sowie LinkedIn Top-Voice und gilt als führende Stimme in Deutschland in den Bereichen New Work und New Leadership. Als Führungskraft hat sie bei Rewe die Personalentwicklung für rund 18.000 Mitarbeitende geleitet.
Info
Bornmann in Bozen
Die HR-Expertin Laura Bornmann ist eine der Vortragenden beim Beam – Hospitality Gamechanger Summit am 6. und 7. Juni in der Messe Bozen. In seiner ersten Auflage stellt die Veranstaltung den Fokus auf das Thema „Empowering Teams and Thrilling Guests“. Es wird der Frage nachgegangen, wie die Rolle der Menschen – sowohl als Mitarbeitende als auch als Gäste – in der Hospitality-Branche gestärkt werden kann. Neben Bornmann referieren unter anderem Sara Abdel Masih, Hotelmanagerin und CEO von Sensory Academy Management, Claus Sendlinger, Gründer der Design Hotels, und Yaël Meier, Mitbegründerin der Agentur ZEAM und Forbes „Top 30 under 30“.
Alle Informationen und Tickets gibt es unter www.fierabolzano.it/de/beam. Die ersten zehn SWZ-Leser:innen erhalten bei Nennung des Vorteilscodes „BEAM24SWZ985MC27“ einen 50-prozentigen Rabatt auf den regulären Ticketpreis.