Das Jahr 2020 war weltweit geprägt von intensiven Bemühungen um die Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus. Schon im Herbst war es so weit. Nacheinander haben mehrere Hersteller Seren zur Zulassung durch die jeweiligen Arzneimittelbehörden vorgelegt. Weil Eile geboten war, haben diese ein Schnellverfahren angewandt, das in Notsituationen zulässig ist. Aber dann war die Entwicklung in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich. Schon als die Russen ihren Impfstoff Sputnik vorstellten und sich der dortige Gesundheitsminister im Fernsehen eine Dosis injizieren ließ, waren die Europäer skeptisch. Die Russen bringen höchstens auf militärischem Gebiet etwas zustande, sonst sind sie aber ergebnisarm und auf Publicity aus, war die vorherrschende Meinung. Inzwischen ist Sputnik im Urteil medizinischer Fachzeitungen ein ausgezeichneter Impfstoff. Aber auch westliche Staaten außerhalb der EU machten sich frisch ans Werk, Staaten, die zuvor aus Brüsseler Sicht alles falsch gemacht hatten, so dass das Virus dort besonders wütete, etwa in den (noch von Trump regierten) USA oder im Brexit-verwirrten Großbritannien von Boris Jonson. Die Israelis haben schon im Herbst Nägel mit Köpfen gemacht, Impfstoffe geordert und mit der Immunisierung begonnen.
Die EU auf der Kriechspur
Inzwischen haben auch die Briten und Amerikaner in Sachen Impfungen die Kontinentaleuropäer deutlich hinter sich gelassen. Die EU-Staaten haben sehr lange (zu lange) für die gemeinsame Zulassung gebraucht und beim Abschluss der Lieferverträge mit den Herstellern geschlampt, so dass uns die früheren Corona-Problemstaaten im Kampf gegen die Pandemie alt aussehen lassen.
Der Grund dafür ist nicht so sehr, dass wir schlechter regiert werden, sondern liegt insbesondere auch in unterschiedlichen Rechtssystemen. In Kontinentaleuropa herrscht das römische Recht, das ursprünglich vom Prinzip ausgeht, alle Entscheidungen aus dem Gesetz ablesen zu können. In der Folge braucht es Juristen, um ein Gesetz lesen zu können, und diese kommen zu anderen Schlüssen als Sprachwissenschaftler, also werden erklärende Rundschreiben verfasst (die die Richter nicht anerkennen) und zuweilen sogar authentische Interpretationen durch den Gesetzgeber notwendig. Das angelsächsische Common Law dagegen ist zwar auch vom römischen Recht beeinflusst, aber sehr viel praxisbezogener und pragmatischer. Man könnte auch sagen: Die Angelsachsen sind lösungs- und zielorientiert, bei den Römern zählen leider zu stark der Weg und die exakte juridische Form.
Ein eklatantes Beispiel für diese Formverliebtheit ist die Dokumentationspflicht, die in alle Bereiche des Berufslebens vorgedrungen ist. Ob Ärzte, Lehrer, Beamte, Lebensmittelhändler oder Banker: Alle müssen Buch führen über Vorgangsweisen, Entscheidungen schriftlich begründen, Verwaltungsschritte penibel einhalten, Hygienemaßnahmen auflisten, sonst droht Ungemach. Und für die eigentliche Arbeit bleibt immer weniger Zeit. Es geht in der Schule nicht mehr darum, einen spannenden Unterricht zu gestalten und Schüler ans Ziel zu bringen (danach fragt leider niemand!), sondern genau aufzuzeichnen, was zu einer bestimmten Bewertung geführt hat und wie der Unterricht geplant worden ist. Ob Lehrpersonen erfolgreich unterrichten oder nicht, zählt wenig. Den Ärzten und vielen anderen Berufsgruppen geht es ähnlich. Und wenn es wie derzeit um Nasentests in der Schule geht, wird nicht gefragt, ob diese Präsenzunterricht ermöglichen oder nicht sinnvoll sind, sondern: Wer trägt die Verantwortung?
Dieses Dilemma zieht sich wie ein roter Faden durch die Privacy, das Vergaberecht, die Arbeitssicherheit, das Arbeitsrecht. Ein Südtiroler Unternehmer hat schon vor Jahren berichtet, dass er einen Baukran im vorgeschriebenen Abstand zu einer Stromleitung aufgestellt, aber eine entsprechende Meldung vergessen hat. Die Folge: eine saftige Geldstrafe. Hätte er den Abstand nicht eingehalten (was gefährlich ist), aber die Meldung gemacht, wäre die Geldbuße geringer gewesen. Die gesamte Verwaltung in Italien handelt nach dem Prinzip, dass formal korrekt vorgegangen werden muss. Du hast dein Ziel nicht erreicht? Egal, Hauptsache, du hast die Prozeduren eingehalten! Anderswo ist es umgekehrt: Die Verwaltung muss ihr Ziel erreichen, und dabei hat sie in der Wahl der Mittel einige Spielräume. Es ist nicht egal, wie jemand zum Ziel kommt (das wäre fatal), aber es muss situationsbezogene Ermessensspielräume geben, die im Falle eines Falles vom Richter nach den Prinzipien des Hausverstandes als zulässig oder eben nicht erkannt werden. Ein Fall Tundo (das ist das Unternehmen, das beim Schülertransport in Südtirol versagt hat, aber aus rechtlichen Gründen wieder beauftragt wurde, bevor jetzt Schluss sein soll) wäre in Großbritannien schwer denkbar, ebenso wenig wie ein Zeitraum von vier Jahren, den eine Verwaltung (die Südtiroler Landesverwaltung) benötigt, um eine Konzession für den öffentlichen Busdienst zu vergeben. Wenn das Prozedere so komplex ist, bleibt das Ziel auf der Strecke.
Das Prozedere zählt, nicht so sehr der Erfolg
Auf Staats- und leider auch auf (Südtiroler) Landesebene werden jede Menge Gesetze produziert und immer wieder abgeändert und ergänzt – und trotzdem sind manche königlichen Dekrete auch 75 Jahre nach Ausrufung der Republik noch in Kraft. Das einst formulierte Ziel, mit jedem neuen Gesetz ein altes abzuschaffen, ist Makulatur geblieben. Mit jeder Norm, welche die Juristen in Verwaltung und Parlament verfassen, wird zwar ein Ziel verfolgt, der Schwerpunkt dann aber darauf gelegt, den Schlaumeiern, die es umgehen könnten, das Handwerk zu legen. Am Ende sind die Opfer etwa der Antimafiabestimmungen und der Antikorruptionsregeln die Unternehmen und Verwalter, die sie anwenden müssen, viel weniger aber die Mafia und die Korrupten. Solche Normen, hat Angelo Panebianco unlängst im „Corriere della Sera“ befunden, verursachen nicht nur Ineffizienz und Verspätungen in der Verwaltung, sondern sie behindern durch ein Übermaß an Bürokratie jene vielen Menschen, die guten Willens sind, während es den wenigen, die schlechte Absichten haben, vielfach gelingt, sie zu umgehen.
Mehr Hausverstand und weniger Paragraphen: Das ist der Impfstoff, den unser Rechtssystem braucht, um die Gesetzespandemie in die Schranken zu weisen.