Seit Jahren bilden Hiobsbotschaften aus dem Nahen Osten einen Gutteil der Nachrichten: Selbstmordattentate und Repressalien, Kriege und Bürgerkriege, Flüchtlinge und Staatsterror. Das war in meiner Kindheit und Jugend anders. Da war das – wie Deutschland und Korea – geteilte Vietnam das vorherrschende Thema, nachdem sich die USA dort 1964 militärisch engagiert hatten, um eine Machtübernahme durch die in Nordvietnam herrschenden Kommunisten auch in Südvietnam zu verhindern. Regelmäßig wurde über Vorstöße der Guerillaorganisation Vietkong berichtet, über amerikanische Bombardements und Aktionen gegen die Kommunisten und über diesbezügliche Gräueltaten. Nachdem klar geworden war, dass die USA den Krieg nicht gewinnen konnten und sich angesichts der Opfer innenpolitisch Widerstand regte, zog Washington nach und nach Soldaten ab und überließ den Bodenkampf der südvietnamesischen Armee. 1969 starb Ho Chi Minh, der legendäre Präsident Nordvietnams, der neben Mao Zedong, Ernesto (Che) Guevara und Fidel Castro zu den Symbolfiguren des Kommunismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört. Er konnte den Triumph seiner Kommunisten über die kapitalistischen Invasoren bzw. deren Statthalter nicht mehr erleben. 1975 fiel Saigon, Südvietnam kapitulierte, und am 2. Juli 1976 wurden Nord- und Südvietnam unter dem Namen Sozialistische Republik Vietnam wiedervereint. Saigon, die ehemalige Hauptstadt Südvietnams, heißt seither Ho-Chi-Minh-Stadt, und die Hauptstadt des geeinten Vietnam ist Hanoi.
Wieso ich das alles erzähle, ist schnell erläutert: Vietnam ist heute ein kommunistischer Staat, die Verfassung legt die führende Rolle der kommunistischen Partei fest. 1986 veranlasste diese jedoch in Anlehnung an die Erneuerung in China wirtschaftliche Reformen, und seit den 1990er-Jahren erlebt das inzwischen etwa 90 Millionen Einwohner zählende Land ein starkes Wirtschaftswachstum, aber keine Demokratie. Vietnam ist ein Schwellenstaat mit allen Problemen, die einen solchen kennzeichnen, aber die Vietnamesen sind fleißig und zuversichtlich – und der Kommunismus ist wirtschaftlich gesehen nicht viel mehr als ein Schein, es gibt ihn also vor allem auf dem Papier, aber kaum in der (ökonomischen) Praxis.
Ein Blick auf die Rankings globaler Aktienindizes seit Anfang 2013 spricht Bände: Der Ho Chi Minh Stock Index der Börse in der gleichnamigen Stadt hat in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres um 21,5 Prozent zugelegt! Dass ausgerechnet für die Bezeichnung des Börsenindex, des kapitalistischsten aller Instrumente, der Name der Stadt und damit jener des Kommunistenführers gewählt wurde, ist vielsagend. Aber die „kommunistischen“ Vietnamesen lassen Ho Chi Minh einen guten alten Man sein und freuen sich darüber, dass die Aktien der 20 größten Unternehmen des Landes den allgemeinen Aufschwung symbolisieren und Vietnam als Produktionsstandort zunehmend interessant geworden ist.
Und Italien? Hier hat die Börse Tradition, hier kocht der Kapitalismus aber auf Sparflamme und wird vor allem als Schimpfwort verwendet, während die Börsenwerte laufend sinken und das Land unfähig scheint, wirtschaftliche (und andere) Reformen voranzutreiben. Der FTS MIB Index der Mailänder Börse hat seit Jahresbeginn um 5,7 Prozent eingebüßt.
Wirtschaftlich scheint das totalitäre Marktsystem Vietnams dem demokratischen Plansystem Italiens, das unter Vorschriften des Staates und der EU erstickt, langfristig überlegen zu sein. Einst legten die Vietnamesen nach Art der Kommunisten hochtrabende Fünfjahrespläne vor, die nie erfüllt wurden, heute haben sie sich de facto längst davon verabschiedet und vertrauen überraschend stark auf die Kräfte des Marktes. Jetzt sind es die Italiener, die ständig neue Pläne vorlegen, insbesondere solche zum Abbau des Staatsdefizits, die aber nie eingehalten werden können. Deshalb wird hierzulande getrickst wie damals in Vietnam, wo die Zahlen gefälscht oder die Kapitalisten im Ausland verantwortlich gemacht wurden, wenn das Land erneut nicht erreicht hatte, was angekündigt worden war. Der italienische Staat schuldet seinen Lieferanten an die 100 Milliarden, sollte aber seine Rechnungen innerhalb von 60 Tagen zahlen und gleichzeitig seine Defizitgrenzen nicht überschreiten. Die Quadratur des Kreises gelingt, indem diese Zahlungen einfach von der Neuverschuldung herausgerechnet werden, oder auch, indem der EU oder dem Euro, also ausländischen Kräften, die Schuld an der Misere in die Schuhe geschoben wird. Wir sind längst mindestens ebenso fantasievoll wie einst die Kommunisten, und zuweilen treibt mich der Schalk zu vermuten, dass der Kommunismus in den westlichen Staaten allmählich seine Wiederauferstehung feiert. In Frankreich ein Spitzensteuersatz von 75 Prozent, in Italien Steuern auf den bloßen Besitz einer Immobilie, ohne dass diese einen Ertrag abwirft, in Zypern der Versuch einer Teilenteignung von Bankeinlagen: das alles sind Zeichen – ja fast Wunder – in einem System, das sich marktwirtschaftlich nennt. Der bekannte italienische Journalist Indro Montanelli hat einst von Christoph Columbus gesagt, dieser sei der erste Sozialist der Geschichte gewesen: Er hatte zwar kein Parteibuch, aber er startete, ohne zu wissen, wo er hinsegelte, er kam zurück, ohne zu wissen, wo er gewesen war – und das alles auf Staatskosten. Wenn Montanelli recht hatte, dann sind unsere heutigen Politiker die letzten Sozialisten, denn auch sie haben keine Rezepte, und da beim Staat kein Geld mehr zu holen ist, holen sie es sich bei uns Bürgern.