Wien – Ihr sei bewusst gewesen, dass „es ein sehr schwieriges Geschäft“ sei – „und ich wäre bereit gewesen, etwas anderes zu machen“, verrät Andrea Götsch. Dennoch hat sie sich für ein Leben mit und von der Musik entschieden. „Mich hat es einfach immer wieder sehr zu ihr hingezogen.“ Andrea Götsch stammt aus Meran und ist Mitglied im Ensemble der Wiener Philharmoniker. So klassisch das Instrument, das sie spielt, so unkonventionell ihr Stand im Orchester: Die 28-Jährige ist die erste Frau an der Klarinette in der über 180-jährigen Geschichte der Wiener Philharmoniker. Der Weg dorthin hat früh begonnen. Heute sagt Götsch, genau das zu machen, „wovon ich mir nicht vorstellen kann, es eher zu lassen als ich muss“.
Am Anfang war nicht nur Musik
In dem Kaffeehaus nahe der Staatsoper im 1. Wiener Gemeindebezirk herrscht reger Betrieb. Andrea Götsch nimmt auf der weichen Sitzbank an einem Ecktisch Platz. Den kleinen Koffer, den sie bei sich trägt, legt sie behutsam auf die dunkelblaue, mit Blumen gemusterte Polsterung neben sich. Darin ihre ständige Begleiterin: die Klarinette. Mit acht Jahren hat sie zum ersten Mal ein solches Holzblasinstrument in den Händen gehalten, von dem sie heute neun Stück besitzt. „Eine Freundin, mit der ich Blockflöte gespielt habe, hat mich damals gefragt, ob ich mit zum Klarinettenunterricht komme“, erinnert sich Götsch. Ihre Mutter habe ihr erst erklären müssen, „was eine Klarinette überhaupt ist“. In der Musikschule Lana begegnet sie Christian Laimer. Dem Klarinettenlehrer gelingt es, die Begeisterung in dem Mädchen zu wecken, die bis heute anhält. „Er hat mir einen wunderschönen Zugang zur Musik und zum Klarinettenspiel vermittelt und ist bis heute ein wichtiger Wegbegleiter“, sagt Götsch über Laimer.
Der Lehrer und Kapellmeister der Musikkapelle Algund erkennt und fördert das Talent der jungen Frau, schickt sie zu Vorspielen und Jugendwettbewerben. Götsch gewinnt nationale und internationale Preise. Doch Priorität haben damals andere Dinge genauso. „Die Schule“, sagt sie, „und der Fußball.“ Ohne Druck oder Drängen vonseiten der Eltern und Lehrpersonen findet Götsch aber immer wieder zurück zum Musizieren, entwickelt „eine extreme Leidenschaft“. Sie wagt und besteht die Aufnahmeprüfung am Konservatorium Claudio Monteverdi in Bozen. Dort beginnt sie, „beim hervorragenden Professor Roberto Gander“ Klarinette zu studieren. 2013 schließt Götsch den Bachelor ab – mit der Höchstpunktezahl cum laude. Der Gang ins Ausland ist naheliegend und reizvoll. Doch nicht einfach.
Ausgezeichnet und aufgenommen
Nach dem Bachelorstudium in Bozen zieht es Andrea Götsch nach Österreich. Sie will ihr Studium vertiefen, „aber mit der Klarinette ist das etwas kompliziert“, meint sie. In Österreich (und Deutschland) wird nach einem anderen System gespielt als im Rest der Welt. „Die Wiener Klarinette hat andere Griffe, Klappen und eine andere Bohrung als die französische, auf der ich gelernt und bis dahin gespielt hatte“, erklärt Götsch. Sie muss umlernen. Der Umstieg auf die neue Spielweise gelingt. 2018 absolviert sie ihren zweiten Bachelor an der „Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien“. Erneut mit Auszeichnung. Weitere Studienzeit verbringt sie in Salzburg und Nürnberg. 2019 folgt der Abschluss des Magisterstudiums an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – wiederum mit Auszeichnung. Im selben Jahr stellt sich Götsch mit 24 Jahren ihrer bis dahin größten Herausforderung: Sie bewirbt sich für das Orchester der Wiener Staatsoper und damit für die Aufnahme in die Wiener Philharmoniker.
Die 1842 gegründeten Wiener Philharmoniker zählen zu den wichtigsten und renommiertesten Orchestern der Welt. Das Ensemble bildet zugleich das Orchester der Wiener Staatsoper. Dort sind die Musiker:innen angestellt, als Wiener Philharmoniker hingegen in einem Verein organisiert und völlig selbstständig. Erst nach drei Jahren werden Musiker:innen des Staatsopernorchesters zu Vereinsmitgliedern und können an Abstimmungen teilnehmen. Über 150 Jahre lang waren in den Reihen der Philharmoniker ausschließlich Männer zu finden. Frauen aufzunehmen war nicht erlaubt. Geändert hat sich das erst 1997. Und zwölf Jahre später hat das Orchester erstmals eine weibliche Besetzung in der Klarinettengruppe: Andrea Götsch. 2019 meistert die Meranerin die hochintensive Aufnahmeprüfung mit mehreren Vorspielrunden vor einer 30-köpfigen Jury. „Ein Traum ist wahr geworden“, sagt sie damals. Nach einem Jahr Probezeit wird sie im Orchester bestätigt. Ab 2022 ist sie vollständiges Mitglied der Wiener Philharmoniker.
Allein, gemeinsam, wandelbar
Wenn Andrea Götsch von ihrem Einsatz im und für das Orchester erzählt, scheint es nicht so, als spräche sie über ihre Arbeit. Dabei ist der Job als Profimusikerin ein harter. An Werktagen stehen meist vormittags und nachmittags Proben an, abends Opernaufführungen oder Konzerte. Am Sonntag gilt es oft am Vormittag ein Konzert der Philharmoniker und am Abend eine Opern- oder Ballettvorstellung zu spielen. „Außerdem sind wir mit den Philharmonikern auch außerhalb von Europa viel unterwegs, im Herbst stets in Asien, Anfang März in den USA.“ Freie Tage erlauben sich die Musiker:innen auf Reisen kaum.
Der große Arbeitsaufwand, die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Frage, „ob es noch zeitgerecht ist, so viel zu arbeiten“, sind immer wieder Thema im Orchester.
Der große Arbeitsaufwand, die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die, „ob es noch zeitgerecht ist, so viel zu arbeiten“, seien immer wieder Thema im Orchester, gesteht Götsch. „Manche wollen auch nicht so viel Lebenszeit in die Arbeit investieren.“ Für sie selbst ist die Tätigkeit im Orchester „ein unglaubliches Geschenk, das ich total zu schätzen weiß“. Daneben tritt sie als Solistin und in Kammermusikformationen auf. Während der Coronapandemie gründet sie mit Freundinnen die Gruppe „Divinerinnen“. Sieben Frauen spielen auf traditionellen Streich-, Zupf-, Handzug- und Holzblasinstrumenten Schrammelmusik, die als Wiener Volksmusik gilt.
Ob sie lieber alleine oder in der Gruppe auftritt? „Weder noch“, antwortet die Klarinettistin nach kurzem Überlegen. „Als Solistin gehört die Bühne dir und du kannst die Musik noch mehr so gestalten und rüberbringen, wie du es willst. Das wahnsinnig Schöne am Orchester dagegen ist das Wechselspiel: einerseits das Beste für das Ganze herauszuholen und andererseits mit solistischen Takten aus dem Ganzen heraustreten zu können, während sich 150 Leute um dich bemühen.“ Anders als viele andere Orchester – auch das der Wiener Staatsoper – haben die Wiener Philharmoniker keinen Chefdirigenten, sondern laden immer wieder verschiedene Dirigenten ein. „Die Person am Dirigentenpult macht einen großen Unterschied – und es auch immer wieder spannend“, sagt Götsch. „Denn man bleibt als Musiker:in flexibel, hört fest auf das Orchester und entwickelt ein Gefühl dafür, was es eigenständig macht, unabhängig davon, was vorne passiert.“
Zum Ausgleich auf den Rasen
Das Kaffeehaus, das sich Andrea Götsch für das Treffen ausgesucht hat, trägt den Namen eines ihrer Vorbilder: Mozart. Die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Wolfgang Amadeus Mozart seine Stücke komponiert habe, beeindrucke sie: „In so jungen Jahren so viele unglaubliche Werke einfach niederschreiben, ohne Korrekturen am Papier!“ Götsch komponiert selbst, auch wenn zuletzt die Zeit dafür gefehlt habe. „Ich möchte das Komponieren wieder intensiver verfolgen. Und auch das Dirigieren würde mich interessieren.“ Ende November wird sie heuer als Dirigentin debütieren – bei einem Konzert in Südtirol.
Regelmäßig läuft sie als Verteidigerin im Frauenteam des Wiener Sport-Club (WSC) in der Zweiten Österreichischen Bundesliga auf.
Bis heute konsequent – und selbst wenn der Job im Orchester zeit- und energieraubend ist – bleibt die 28-Jährige woanders buchstäblich am Ball. Schon als Kind und noch bevor sie auf der Klarinette spielte, tat sie das in einer Fußballmannschaft. Heute ist Götsch im Fußballteam der Wiener Philharmoniker – auch hier als erste Frau – und tritt gegen andere Orchester an. Regelmäßig läuft sie als Verteidigerin im Frauenteam des Wiener Sport-Club (WSC) in der Zweiten Österreichischen Bundesliga auf. Ein Leben ohne Fußball kann sich die Meranerin genauso wenig vorstellen wie eines ohne Klarinette. Der Sport ist Ausgleich zur Musik, beschreibt sie in einem Interview für das Portal des Weltfußballverbandes FIFA: „Vielleicht schaffe ich es beim Fußball manchmal leichter als in der Musik, wirklich komplett abzuschalten. Es gelingt mir manchmal auch in einem Konzert, an nichts anderes mehr zu denken und zu 100 Prozent in der Musik zu sein. Aber ich sitze halt in der Regel auf meinem Platz und kann mich kaum oder nur sehr beschränkt bewegen. Die frische Luft, dieses komplette Auspowern gibt mir extrem viel.“ Der Fußball sei Erholung für Kopf und Körper, bestätigt Götsch und blickt auf die Uhr. Bald muss sie los, in die Staatsoper. „Zugleich ist er hilfreich für die Musik, denn es geht oft um dasselbe: Konzentration, Fokus, Aktion und Reaktion, Überblick – und gemeinsam für etwas kämpfen.“ Anfang Juni sicherten sich die WSC-Damen den Klassenerhalt.
Am Geburtstag in Südtirol
Ob auf dem Rasen oder im Konzertsaal – für Andrea Götsch gilt: „Das Wichtigste ist, dass wir zusammenspielen.“ Abseits ihrer aktiven Musikkarriere ist sie als Lehrbeauftragte für Orchesterliteratur an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien tätig. Ein ganz besonderes Interesse hegt sie für die Erforschung von Klarinettenmaterialien. „Es gibt eigene Werkstätten, in denen neue Materialien hergestellt werden, die eine immense Bereicherung und Erleichterung für eine Klarinettistin sein können“, erklärt sie. „Zahnstellung und Körperbau sind bei jedem Menschen verschieden – und nur minimale Anpassungen am Mundstück, Blatt und Instrument selbst können einen riesengroßen Unterschied machen.“
An ihrem 29. Geburtstag, den sie heuer feiert, wird Andrea Götsch in Toblach auftreten. „Divinerinnen“ gastieren am 16. Juli bei den Gustav Mahler Wochen. Die Musik irgendwann beiseite zu legen, das kommt für die Meranerin nicht (mehr) infrage. „Ich kann mir nicht vorstellen, im Orchester aufzuhören, bevor ich in Pension gehe.“ Was hört sie denn privat so? „Weniger klassische Musik, als man vielleicht meinen möchte“, sagt die Klarinettistin lächelnd, klemmt ihren kleinen Koffer unter den Arm und macht sich auf, zur nächsten Probe.
Lisa Maria Gasser
lm.gasser@hotmail.com
DIE AUTORIN ist freiberufliche Journalistin.
DIE SERIE In der Serie „Jung und hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle bisher erschienenen Artikel aus der Reihe können hier und in der SWZapp nachgelesen werden.