Mit zwei unterschiedlichen politischen Begriffen versuchen Volkspartei und Freiheitliche im Jahr vor der Landtagswahl „visionär“ zu sein. Das Edelweiß blüht der Vollautonomie entgegen, die Rom abgerungen oder gar abgekauft werden soll, die Blauen werfen einen Freistaat Südtirol in die Waagschale der politischen Attraktionen. Beide Konzepte haben so gut wie nichts mit dem zu tun, was allgemein Realpolitik genannt wird.
Die Ausgangslage ist klar: Südtirol wurde 1919 durch einen internationalen Vertrag Italien zugesprochen, und diese damals sicher falsche Entscheidung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt, aber mit dem Pariser Abkommen ergänzt, das integrierender Bestandteil des Friedensvertrages mit Italien ist. Die Erfüllung dieses Abkommens war das Autonomiestatut von 1972, und die Kontroverse wurde völkerrechtlich 1992 mit der Streitbeilegungserklärung Österreichs abgeschlossen. An dieser Faktenlage können nur große Umwälzungen etwas ändern.
Dass mit Blick auf das kranke Italien ein Freistaat Südtirol eine verlockende Idee sein kann, das bleibe jedem unbenommen: die Gedanken sind frei(heitlich). Aber nicht überall findet sich ein Weg, wo ein Wille besteht. Es ist erstens derzeit eine Illusion anzunehmen, man könne die Italiener in Südtirol von der Freistaatidee überzeugen. Und zweitens würde sich Italien einer Loslösung widersetzen und wir verwöhnten Südtiroler könnten im Gegensatz zu den bedrängten Kosovaren mit keiner Hilfe rechnen. Das Freistaatprojekt ist – in der derzeitigen Situation – ein Rohrkrepierer, der obendrein die Autonomie gefährdet.
Recht hoch in den Wolken hängt aber auch die Vollautonomie. Italien ist zu gar nichts verpflichtet – und Rom hat uns in den letzten Jahren auch nichts mehr gegeben. Im Gegenteil: Es nimmt uns etwas, nämlich einen Teil des vielen Geldes, das wir lange Zeit genießen konnten. Autonomiepolitik unter den neuen Vorzeichen heißt, unser Land zu reformieren – so, wie ganz Europa reformiert wird, um einen Kollaps zu vermeiden.
Wir wollen in allen Dingen außer Außenpolitik und Verteidigung selbst entscheiden? Dann muss Südtirol nicht nur Italien, sondern auch die EU verlassen, die in vielen Fragen die Uhren anders stellt, als sie in Südtiroler Köpfen ticken.