SWZ: Herr Zak, verraten Sie uns doch: Wie viel Prozent des Erfolges macht beim Sportklettern die Muskelkraft, wie viel Prozent das technische Können und wie viel Prozent der Kopf – sprich der Wille, die Überzeugung, die Motivation – aus?
Heinz Zak: Ich würde sagen, bei einer ganz normalen Sportkletterroute sind es ungefähr ein Drittel Kraft, ein Drittel Können und ein Drittel Kopf. Bei außergewöhnlichen Herausforderungen – zum Beispiel beim seilfreien Klettern – wird der Kopf immer entscheidender. Da würde ich dem Kopf 80 Prozent Bedeutung beimessen.
Denken Sie, für den Erfolg der Führungskraft könnte man dieselbe prozentuelle Zusammensetzung definieren: 30 Prozent Arbeitseinsatz, 30 Prozent technisches Können, sprich Ausbildung, 30 Prozent Kopf?
Das kann ich mir gut vorstellen – zumindest für die „Standardsituation“, also den ganz normalen beruflichen Alltag. Wenn hinter einer Aufgabe mehr Risiko steckt, wenn etwas Neues gewagt wird, was noch niemand geschafft hat, dann ist der Kopf besonders wichtig – beim Klettern genauso wie im Unternehmen.
Sie ziehen bei Ihren Vorträgen Parallelen zwischen dem Klettern und dem Beruf. Was können Führungskräfte vom Kletterer abschauen?
Eine ganze Menge. Nehmen wir das Wechselspiel zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. Man klettert im Team, genauso arbeitet man im Team – entsprechend sind gar einige Parallelen erkennbar. Bevor ich mich als Kletterer in schwierige Situationen begebe, muss ich mir ein geeignetes Team aussuchen und es auch testen. Denn es ist wichtig, dass sich die Seilschaft gegenseitig voll vertraut. Und es ist wichtig, dass Verantwortungen verteilt werden, auch wenn in letzter Konsequenz – in einer unerwarteten Extremsituation – der beste Kletterer bzw. Führer die Verantwortung übernehmen muss. Die Seilschaft verlässt sich auf ihn. Ähnlich ist es doch beim Führen, oder? Ich könnte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen …
… erzählen Sie.
Vor drei Jahren war ich am El Capitan in Kalifornien mit zwei Freunden unterwegs, deren Lebenstraum es war, eben diesen El Capitan zu bezwingen. 30 Meter unter dem Ausstieg überraschte uns ein Gewitter. Vier Meter von uns entfernt schlug ein Blitz in einer Wasserspalte ein, das Wasser spritzte und wir wurden klitschnass. Wir wussten: Wenn noch ein Blitz kommt, sterben wir. In dieser Situation spürte ich extrem, wie mir die Verantwortung übertragen wurde, obwohl ich eigentlich gar nichts machen konnte. Ich musste trotzdem Optimismus ausstrahlen und ruhig auf die Situation reagieren.
Bei Kletterern fällt auf, dass sie viel Zeit für die Vorbereitung aufwenden, dass sie die Kletterroute in aller Ruhe studieren und sich konzentrieren. Glauben Sie, Führungskräfte wären erfolgreicher, wenn sie nach diesem Vorbild manchmal innehalten würden?
Es wird in der Wirtschaft vollkommen vernachlässigt, was wir Kletterer tun: Wir bereiten uns manchmal jahrelang auf ein Ziel vor. Es sollte zu den Grundprinzipien eines jeden Unternehmens – egal ob groß oder klein – gehören, regelmäßig Ziele zu definieren, kurzfristige Ziele zum einen, langfristige Ziele zum anderen. Oft wird das langfristige, das übergeordnete Ziel vergessen, weil ständig kurzfristigen Zielen hinterhergehechelt wird. Ein Bekannter von mir, der ein großes Unternehmen geleitet hat, nahm sich jedes Jahr die Zeit, einen Brief an sich selbst zu schreiben. Dort hielt er fest, wo er in einem Jahr stehen wollte und wo in zehn Jahren. Das Unglaubliche daran: Er hat erreicht, was er schrieb. Dieses Beispiel lehrt, dass auch in einer dermaßen bewegten Welt wie der unsrigen langfristiges Denken funktionieren kann.
Ist die Ruhe, das Innehalten eine der Ressourcen, die Sie in Ihrem Vortrag „Träume sterben nie. Wege und Mittel, um außergewöhnliche Ziele zu erreichen“ beim Südtiroler Wirtschaftsforum meinen?
Ich habe für meine Ziele oft sehr lange gebraucht. Zum Beispiel habe ich 19 Jahre gebraucht, bis ich mir den Traum erfüllen konnte, die Route „Separate Reality“ seilfrei zu durchklettern. Ich war 1986 als Fotograf dabei, als Wolfgang Güllich die Erstbegehung ohne Seil gelang. 19 Jahre später war ich der Zweite. Ich habe gezielt trainiert, körperlich wie mental.
Bei „Separate Reality“ im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien handelt es sich um eine 20 Meter lange Kletterroute mit einem sieben Meter ausladenden Dach, 200 Meter über dem Talgrund. Wer seilfrei in dieser Route hängt, darf keine Angst haben, sonst ist der Absturz garantiert.
Angst ist ganz wichtig, aber nur vorher. Angst haben heißt nachdenken, und wer keine Angst kennt, wird nicht alt. In der Extremsituation selbst hat Angst aber absolut nichts verloren, dort ist sie tödlich. Man muss sich vorher im Klaren sein, ob man sich das Vorhaben zutrauen kann. Ich bin die Route vorher Hunderte Male im Geiste durchgeklettert, so wie die Skiläufer vor dem Rennen den Kurs durchgehen.
Darf das auch auf Führungskräfte umgemünzt werden: Angst ja, aber nur vorbeugend und ja nicht auf Halbweg?
Ich muss leider feststellen, dass in der Wirtschaft der mögliche Ernstfall viel zu selten vorher durchgespielt wird. Wir Kletterer tun dies ständig. Schauen Sie sich das tragische Schiffsunglück vor der Insel Giglio an. Der Kapitän hat sich aus der Verantwortung gestohlen, während dies in einer Seilschaft in der Kletterwand schlicht nicht möglich wäre. Wahrscheinlich hat dieser Kapitän die Extremsituation vorher nie durchdacht, er war nicht vorbereitet. Bei aller Tragik tut er mir leid.
Wie blenden Sie die Angst aus? Zum Beispiel wenn Sie zwischen Berggipfeln „slacklinen“, mit Hunderten Metern Luft unter sich.
Noch einmal: Ich muss wissen, was ich mir zumuten kann. Ich muss überzeugt von mir sein. Ich muss mental so stark sein, dass ich die Angst ausschalte. Wenn ich nicht spüre, dass ich etwas kann, dann gehe ich ohne Sicherung keinen Schritt. Ich muss das ja nicht tun.
Wieso tun Sie es dann?
Gegenfrage: Warum hängen sich Unternehmer und Führungskräfte so in ihre Arbeit hinein? Sie müssten es in diesem Ausmaß ja auch nicht tun. Jeder Mensch setzt sich Ziele, und der persönliche Antrieb ist es, diese Ziele zu erreichen. Es tut mir gut zu spüren, dass ich irgendwo wirklich gut bin. Wobei ich nicht immer nur gut sein kann. Es ist furchtbar, immer gut sein zu müssen.
Wie meinen Sie das?
Wir haben jetzt ständig über Erfolg gesprochen, das ist bezeichnend. Misserfolg ist genauso wichtig. Nur durch Misserfolge kann sich der Mensch nachher wieder über einen Erfolg freuen. Nur durch Rückschläge erkennt der Mensch den Wert des Erfolges.
Man kann den Erfolg nur richtig genießen, wenn man auch Misserfolge kennt.
Genau. Ich persönlich freue mich immer sehr über meine Erfolge und genieße sie. Nach dem Erfolg gönne ich mir eine Pause. In der Wirtschaft wird das hingegen komplett ignoriert. Ein Ziel ist noch kaum erreicht, da hechelt man schon dem nächsten Ziel hinterher. Eine der Ursachen für die vielen Burnouts liegt darin, dass nicht mehr akzeptiert wird, dass Leistung Kurven braucht. Jeder Mensch muss auch einmal rasten können. Jeder weiß, dass körperliche Höchstleistungen nur möglich sind, wenn dazwischen Pausen eingelegt werden. Eigenartigerweise gestehen wir das dem Geist nicht zu. Im Berufsleben wird davon ausgegangen, dass dauernd Vollgas gegeben werden kann. Erfolge dürfen gefeiert werden. Sie müssen gefeiert werden.