Bozen – Natürlich habe sie die 100 Punkte im Hinterkopf gehabt, erzählt Nora Lantschner. Das Ziel seien angesichts konstant guter Leistungen in den fünf Oberschuljahren „mindestens 90 Punkte“ gewesen, aber je öfter ihr Bekannte gesagt hätten, dass der Himmel nicht herunterfalle, wenn sie den Hunderter nicht packe, desto mehr habe sie dies als subtil artikulierte Erwartungshaltung interpretiert. „Irgendwie hatte ich das Gefühl, nur verlieren zu können: Wenn es 100 Punkte werden, dann ist das selbstverständlich, wenn es weniger werden, dann ist das eine Überraschung“, erinnert sich Lantschner, die sich selbst als „sehr ehrgeizig“ bezeichnet. Am Ende gewann Lantschner trotzdem: Sie beendete ihre Oberschulkarriere mit der Höchstnote „100 cum laude“ und war laut dem Wettbewerb „proexcellentia“ (siehe beigestelltes Info „Leistung lohnt sich“) sogar Südtirols allerbeste der 78 diesjährigen 100-Punkte-Maturanten.
100 Punkte sind nicht gleich 100 Punkte, wenn auch die außerschulischen Leistungen und die Noten aller Oberschuljahre eingerechnet werden. Genau das tun Unternehmerverband, Stiftung Sparkasse und Schulämter mit „proexcellentia“. Der Wettbewerb zeigt, dass es ein grober Fehler ist, die „Jugend von heute“ pauschal als verwöhnte Generation zu brandmarken, die jene Leistungsbereitschaft und Leidensfähigkeit vermissen lässt, die ihre Eltern und Großeltern an den Tag legten bzw. legen mussten. Südtirol hat durchaus intelligente und ehrgeizige junge Menschen, die zwar im Wohlstand aufgewachsen sind, davon aber nicht träge geworden sind – das haben sie sich selbst und auch ihrem Umfeld zu verdanken.
Die Steineggerin Nora Lantschner ist die dritte „Superfrau“ in Folge – und sie ist der vierte proexcellentia-Sieger, mit dem sich die SWZ trifft, um herauszufinden, wie fleißige, leistungsbereite, ehrgeizige Jungsüdtiroler von heute denken und ticken. Wie unterschiedlich sie sind, zeigt ein Blick auf das Quartett: 2009 gewann Christian Seeber aus Sand in Taufers, der das Realgymnasium besucht hatte und zum Studium der Rechtswissenschaften in Trient aufbrach. 2010 folgte Vicky Oberkofler aus Andrian, die von der Fachoberschule für Soziales zum Biologiestudium nach Bologna wechselte. 2011 traf sich die SWZ mit Ines Unterfrauner aus Gais, die nach dem Realgymnasium ein Medizinstudium in Graz aufnahm. Und jetzt also folgt Nora Lantschner aus Steinegg, deren Weg vom Sprachengymnasium in Bozen zum Studium der „Mediazione linguistica culturale“ in Padua führt.
Neben dem Schwerpunkt Sprachen wird sich Lantschner dabei auch mit wirtschaftlichen und rechtlichen Themen auseinandersetzen, was ihr – so glaubt sie – das notwendige Rüstzeug für das spätere Berufsleben verleihen wird. Natürlich mache man sich bei der Auswahl des Studiums Gedanken über die Zukunft, wo doch so viel über die steigende Jugendarbeitslosigkeit zu lesen sei, sagt Lantschner. Macht sie sich Sorgen? „Nein“, lacht sie, „mit einer guten Ausbildung und meinem Ehrgeiz werde ich schon einen Weg finden.“
Nora Lantschner wirkt fröhlich, optimistisch. Sie mag ehrgeizig sein, aber sie hinterlässt gleichzeitig einen wohltuend unkomplizierten Eindruck. Sie redet schnell, als wolle sie die wertvolle Zeit möglichst effizient nutzen. Und sie redet mit kräftiger Stimme, aus der viel Selbstvertrauen spricht. Berührungsängste mit unbekannten Menschen – wie dem Journalisten, der ihr gegenübersitzt – scheint die 19-Jährige nicht zu kennen, und bei der Frage danach, warum sie ausgerechnet nach Padua zum Studieren gehe, kommt ganz zufällig eine mögliche Erklärung ans Tageslicht. „Für mich war klar, dass ich in Italien studiere, weil ich neben der Muttersprache Deutsch auch Italienisch perfekt beherrschen möchte. Das sollte für die Südtiroler eine Selbstverständlichkeit sein“, sagt sie. So weit, so gut, aber dann: „Ich habe im Veneto viele Bekannte.“ Wie das? Lantschner schmunzelt, dann erzählt sie, dass ihr Vater, ein Bankangestellter, ein leidenschaftlicher Motocrossfahrer sei, im Übrigen spuckt ihn die Suchmaschine Google als amtierenden Regionalmeister in seiner Kategorie aus. Also ist die Familie – Vater, Mutter und zwei Töchter – an den Wochenenden mit dem Camper bei Motorradrennen im Trentino und Veneto unterwegs, seit Nora Lantschner denken kann.
„Wenn ich an fünf Wochenenden im Jahr zu Hause bin, ist alles beisammen“, rechnet Lantschner vor. Aha, daher rührt also die Selbstverständlichkeit, mit der die junge Steineggerin Menschen gegenübertritt. Wer glaubt, sie fahre mit der Familie erzwungenermaßen mit, täuscht sich. Laut eigenen Aussagen genießt sie es sogar: „Mir macht das enorm viel Spaß. Erstens gefällt mir der Sport, zweitens treffe ich so viele verschiedene Leute, und drittens empfinde ich jedes Wochenende als kleinen Familienurlaub, bei dem ich komplett abschalte.“ Irgendwann begann Lantschner sogar, als echte Insiderin für eine Motocross-Zeitung zu schreiben. Tatsächlich würde sie der Journalismus interessieren, mit Vorliebe der Sportjournalismus, obwohl sie sich selbst als unsportlich bezeichnet. Ihre Maturaarbeit handelt passend über Sport für Passivsportler. Aber noch hat Lantschner ihr Berufsziel nicht festgelegt: „Ich denke, dass mir mit meinem Studium viele Wege offen stehen, abgesehen davon, dass die Sprachen eine persönliche Bereicherung für mich sind.“
Unter der Woche die Schule, am Wochenende die Motocross-Piste: so sah Nora Lantschners Leben jahrelang aus. Dass sie dadurch nahezu perfekt Italienisch gelernt hat, war für sie, die Sprachen liebt, eine angenehme Nebenerscheinung. Sprachen ermöglichen es, „andere Leute zu verstehen“ – und es ist klar, dass Lantschner mit „verstehen“ nicht allein den reinen kommunikativen Aspekt meint, sondern genauso das Verstehen der jeweiligen Kultur. Also wird sie in Padua ihre Sprachenkenntnisse weiter verbessern. Französisch will sie ganz sicher wählen, weil sie seit einem zweiwöchigen Sprachaufenthalt in Paris im Sommer 2011 von Frankreich fasziniert ist. Auch Portugiesisch würde sie reizen, vielleicht wird es aber doch Russisch, weil diese Sprache in den nächsten Jahren international an Bedeutung gewinnen wird. Da sind sie wieder, die Gedanken über die eigene Zukunft.
Bei alledem ist Lantschner – auch aus Erfahrung – felsenfest davon überzeugt, dass Sprachen allein durch praktische Anwendung wirklich gelernt werden können. Es sei zu einfach, die Verantwortung für vielfach mangelhafte Sprachkenntnisse auf die Schule abzuwälzen, wie dies in Südtirol oft passiert, kritisiert Lantschner. „Jeder muss sich selbst umtun, die Schule kann nur die Grundlagen vermitteln“, sagt sie. Erstaunliche Worte aus dem Mund einer 19-Jährigen. Was eine Schule organisieren könne, sind mehrwöchige Schüleraustauschprogramme. „Ich hätte mir so etwas, wie es die Handelsoberschule anbietet, immer gewünscht“, verrät Lantschner. Fünf- oder Sechstagewoche? „Eindeutig Fünftagewoche, dann hätte ich mir die Busfahrt am Samstag erspart.“
Auf die Frage, was ihr Erfolgsrezept in der Schule gewesen sei, denkt sie eine Weile nach, dann sagt sie: „Sicher hilft es, beim Unterricht aufmerksam zu sein. Auch habe ich zwei, drei Stunden am Tag gelernt. In erster Linie war es aber wohl mein Ehrgeiz, der mich angetrieben hat.“ Und auf die Frage, ob die Oberschule heute Leistung fördere, antwortet sie lachend: „Ich habe mich schon selber motiviert.“
Noch zwei obligatorische Fragen seien der jungen Frau gestellt. Tummelt sie sich auf Facebook? „Ja, jeden Tag. Facebook ist einfach praktischer als das Telefon, wenn in Gruppen kommuniziert werden soll. Man muss halt abwägen, was man auf Facebook preisgeben will und was nicht.“ Interessiert sie die Politik? „Ich lese Zeitungen. Aber ich werde sicher nicht eigens googeln, wenn ich von der Schulden- und Eurokrise höre.“ Dann lässt Lantschner durchblicken, dass sie sich demnächst doch mehr mit der Politik auseinandersetzen wird, weil sie jetzt mitreden darf: 2013 wählt sie zum ersten Mal, und zwar gleich zwei Mal: zuerst bei den Parlamentswahlen im Frühjahr, dann bei den Landtagswahlen im Herbst.