Bozen/Auer/München – Werner Kern, der Chef der Nachwuchssparte des FC Bayern München, in den 1970er-Jahren Co-Trainer der ersten Mannschaft sowie Entdecker von Karlheinz Rummenigge, erzählte am gestrigen Donnerstagabend auf Einladung des FC Südtirol in Auer über die Philosophie des FC Bayern München. Er erzählte von der Philosophie eines Vereins, der zweifelsohne zu den wichtigsten Fußballclubs der Welt zählt. Und er erzählte von der Philosophie eines Vereins, der in enormem Maße polarisiert – überdurchschnittlich stark auch in Südtirol, wo auf der einen Seite unzählige Bayern-Fanclubs existieren, die im Winter zu den Spielen nach München tingeln und im Sommer zum Trainingslager an den Gardasee, und auf der anderen Seite genauso unzählige Menschen eine undefinierbare Genugtuung empfinden, wenn die „großen“ Bayern verlieren. Und so boten die jüngsten beiden Bundesliga-Spieltage für jeden Geschmack etwas: Zuerst krebste der FC Bayern auswärts bei Tabellenschlusslicht Freiburg zu einem kläglichen 0:0, was die Bayern-„Antifans“ in Schadenfreude schwelgen ließ. Dann überrollte der FC Bayern zu Hause Titelmitbewerber Schalke mit 2:0, was wiederum die Bayern-Fans zu Jubelstürmen veranlasste.
Wieso Deutschlands erfolgreichster Fußballverein gerade von den Südtirolern intensiver geliebt und gleichzeitig intensiver gehasst wird als die gleich weit entfernten Mailänder Topvereine Milan und Inter, aber auch als alle anderen Weltvereine, bleibt schleierhaft. Sicher, der Verein ist erfolgreich, und zwar seit Jahrzehnten, und wer erfolgreich ist, muss immer damit leben, dass die Sympathien eher den Schwächeren zufliegen. Aber der FC Bayern ist keineswegs erfolgreicher als andere europäische Spitzenclubs. Im Gegenteil, die letzten Triumphe auf der internationalen Bühne liegen lange zurück: Sie stammen aus dem Jahr 2001, als der FCB zuerst die Champions League und dann den Weltpokal nach München holte.
Eingefleischte Bayern-Kritiker führen gerne ins Feld, dass das arrogante Auftreten der Vereinsführung schuld daran sei, dass der FC Bayern dermaßen polarisiere. Aber selbst als ein Sympathieträger wie Franz Beckenbauer von 1994 bis 2009 Präsident des FC Bayern München war, blieb es dabei: den FC Bayern liebt man, oder man hasst ihn, Gleichgültigkeit ist fast nicht möglich.
Aber egal, wer wie zum FCB und seiner Vereinsführung steht, eines muss jeder anerkennen: Der FC Bayern wird seit Jahrzehnten so gemanagt, wie es sich für ein echtes Unternehmen gehört. Im europäischen Spitzenfußball ist das eine Seltenheit, denn die meisten Topvereine hängen am Tropf eines millionenschweren Mäzens – egal ob dies nun ein europäischer Unternehmer, ein russischer Oligarch oder ein arabischer Scheich ist, die sich einen Fußballclub als Hobby halten. Der FC Bayern finanziert sich hingegen selbst: 328 Millionen Jahresumsatz (ähnlich wie die Rubner-Gruppe, Südtirols Nummer 9), 268 Millionen Euro Eigenkapital, 129 Millionen freie Liquidität, null (!) Schulden, das sind die beeindruckenden Zahlen, die laut Werner Kern bei der jüngsten Jahreshauptversammlung präsentiert wurden. In den vergangenen Jahren wurden mit Ausnahme des Geschäftsjahres 2003/04 immer Gewinne geschrieben.
Zwar liegt der FC Bayern in der Deloitte-Weltrangliste der umsatzstärksten Fußballvereine „nur“ auf Rang vier hinter Real Madrid, FC Barcelona und Manchester United. Aber er ist der einzige schuldenfreie europäische Spitzenclub, während bei anderen Fußballgrößen die Verbindlichkeiten vielfach über dem Jahresumsatz liegen. Zum Vergleich (Zahlen 2009): Schulden in der Höhe von 822 Millionen weist Manchester United auf, auf 817 Millionen kommt Chelsea London, auf 395 Millionen Inter Mailand, auf 485 Millionen Arsenal London, auf 327 Millionen Real Madrid, auf 325 Millionen der FC Liverpool, auf 300 Millionen der AC Mailand, auf 202 Millionen der FC Barcelona und immerhin auf 188 Millionen Juventus Turin. Der schottische Traditionsverein und Rekordmeister Glasgow Rangers hat erst vor wenigen Tagen Insolvenz angemeldet.
Diese hoch verschuldeten Vereine teilen sich jene internationalen Erfolge, denen der FC Bayern seit Jahren vergeblich hinterherhechelt, könnte nun ein süffisanter Einwand aus dem Anti-Bayern-Lager lauten. Und tatsächlich, die britischen und spanischen Fußballclubs, die in den vergangenen Jahren die Hauptrolle auf der europäischen Fußballbühne spielten, stehen in der Schuldenrangliste ganz oben. Heuer aber wurden die britischen Vertreter in der Champions League bisher arg gerupft. Erfolg lässt sich anscheinend doch nicht auf Dauer kaufen. Die Frage ist, ob die Finanzgebarung der Bayern da nicht doch sinnvoller ist – Sympathie hin oder her.
Der FC Bayern ist gewissermaßen der Dagobert Duck des europäischen Fußballs, im unsympathischen genauso wie im sympathischen Sinne: Zum einen sind die Bayern stinkreich (und reich ist in unserer Gesellschaft unsympathisch), zum anderen gehen sie offensichtlich behutsam mit ihrem Geld um, was sie wieder sympathisch macht – rein wirtschaftlich gesehen, versteht sich.
Staunen dürfen aufmerksame Beobachter darüber, wie beim FC Bayern aus ehemaligen Weltklassefußballern fähige Wirtschaftskapitäne werden. Der ehemalige Präsident Franz Beckenbauer, der aktuelle Vorstandsvorsitzende Karlheinz Rummenigge, der Aufsichtsratsvorsitzende Uli Hoeneß, aber auch Sportdirektor Christian Nerlinger waren allesamt Münchner Leistungsträger auf dem grünen Rasen, bevor sie zu Leistungsträgern im engsten Führungsstab wurden. Ist es die langjährige Verbundenheit mit dem Verein, der sie mit dem Bayern-Geld umsichtig umgehen lässt?
Wenn Werner Kern mit der Frage konfrontiert wird, was die Bayern besser machen als andere Vereine, überlegt er kurz, als wäre er von der Frage überrascht, dann antwortet er: Erstens die sportliche Konstanz über Jahrzehnte. Zweitens das Privileg, anders als Dortmund im Ruhrgebiet wenige annähernd gleich erfolgreiche regionale Konkurrenten zu haben – im Süden reicht die Konkurrenzlosigkeit über Österreich und Südtirol sogar bis ins 600 Kilometer entfernte Mailand. Drittens die jahrzehntelange Kontinuität an der Vereinsspitze. Und viertens – endlich – nennt Kern den Faktor Geld: „Andere Vereine geben zu viel Geld für Spieler aus“, stellt Bayerns Nachwuchschef lapidar fest.
Tatsächlich, in Deutschland ist die Nummer eins der ewigen Bundesliga-Tabelle zwar der unangefochtene Krösus und vereint sechs der sieben teuersten Spielereinkäufe der Bundesligageschichte auf sich. International gesehen aber ist der teuerste Bundesligatransfer aller Zeiten – Mario Gomez wechselte 2009 für 30 Millionen Euro vom VfB Stuttgart zu Bayern München – ein kleiner Fisch. 94 Millionen zahlte Real Madrid an Manchester United, um Cristiano Ronaldo zu bekommen, 75 Millionen der FC Barcelona für Zlatan Ibrahimovic, als dieser noch für Inter Mailand spielte, 74 Millionen Juventus Turin an Real Madrid für Zinedine Zidane usw. Mit seinen 30 Millionen für Mario Gomez folgt der FC Bayern unter „ferner liefen“.
Vielmehr investiert der FC Bayern viel Zeit und Geld in junge Spieler, um sie über die verschiedenen Jugendmannschaften und das B-Team in der Regionalliga (vierte deutsche Liga) an größere Aufgaben heranzuführen. Philipp Lahm, Holger Badstuber, Thomas Müller, Bastian Schweinsteiger, oder wie sie sonst noch alle heißen, haben alle diesen Weg genommen. Fünf Eigengewächse stehen durchschnittlich im Bundesligateam, und die halbe Nationalmannschaft kommt aus der Bayern-Schule, erwähnt Kern stolz. „Solche Spieler identifizieren sich mit dem Verein“, so Kern. Und sie müssen für keine 40, 50 oder 60 Millionen eingekauft werden – vielmehr können sie eventuell für gutes Geld verkauft werden. Nur der FC Barcelona kann auf eine ähnliche Talentschmiede bauen.
Es gibt nicht das eine Rezept, das den FC Bayern wirtschaftlich dermaßen erfolgreich macht. Die Summe von Faktoren ist ausschlaggebend. Und so sehr der FC Bayern sportlich polarisiert, so sehr ist er wirtschaftlich ein uneingeschränkt sympathisches Vorbild im Fußball – oder sollte es sein.