Sabina Drescher meint
Steter Tropfen höhlt den Stein
Nachhaltigkeit ist in Europa salonfähig geworden. Viele Menschen denken um, die Klimafrage wird existenziell wahrgenommen. Zumal immer mehr direkt von extremen Wetterbedingungen betroffen sind – auch in Südtirol. In Europa sind zudem die existenziellen Bedürfnisse vieler Menschen befriedigt, weshalb sie übergeordneten postmateriellen Werten nachgehen können – so zumindest formulieren es Soziologen.
Das Zusammenspiel dieser Faktoren führt dazu, dass eine grüne Welle die Politik, die Wirtschaft, aber auch den Alltag erfasst. In Deutschland legten die Grünen bei den jüngsten Wahlen in Bayern (+ 9 Prozent) und Hessen (+ 8,7 Prozent) kräftig zu. In Innsbruck sitzt mit Georg Willi ein grüner Bürgermeister im Rathaus, in Tirol sind die Grünen Teil der Landesregierung. Bei der Landtagswahl in Südtirol musste die Partei Stimmverluste hinnehmen (- 1,9 %), konnte die drei Sitze im Landtag jedoch halten. Das Streben nach einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft beschäftigt aber nicht mehr nur die Grünen. Auch andere Parteien legen einen Fokus auf lokale Kreisläufe und suchen nach innovativen Mobilitätskonzepten. Nachhaltigkeit als politischer Wert fristet längst kein Nischendasein mehr.
Südtirol engagiert sich schon seit mehreren Jahren für den Ausbau erneuerbarer Energieträger. Wasserkraft, Holz, Biogas, Fotovoltaik, Solarthermie, Windkraft und Geothermie sind hierzulande Lieferanten für Strom- und Wärmeenergie. In Italien versorgen sich laut italienischem Umweltbund Legambiente 35 Gemeinden zu hundert Prozent aus erneuerbaren Energiequellen, 23 davon liegen in Südtirol. Bei der Energieeffizienz von Gebäuden nimmt Südtirol seit der Einführung des Klimahaus-Zertifikats ebenfalls eine nationale Vorreiterrolle ein.
Auch viele Unternehmen beschäftigen sich mit dem Thema, zum einen aus Verantwortungsbewusstsein, zum anderen weil die Nachfrage nach entsprechenden Produkten und Dienstleistungen stetig zunimmt. Sie versuchen deshalb, ihr Streben nach Gewinnmaximierung mit ökologischen und sozialen Zielsetzungen abzustimmen. 22 Südtiroler Unternehmen haben sich etwa der Initiative „Klimaneutralitätsbündnis 2025“ angeschlossen, um ihren CO2-Ausstoß zu neutralisieren (siehe SWZ 43/18). Der Bozner Oberalp-Gruppe wurde hingegen vor Kurzem der Status „Leader“ der Non-Profit-Organisation Fair Wear Foundation (FWF) verliehen. Die Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens basiert sowohl auf dem Engagement für die Menschen, als auch auf der Entwicklung nachhaltiger Produkte. Zugleich schlägt der neue swr-Präsident Hannes Mussak ungewohnte Töne an, betrachtet sich als Bruder im Geiste mit Klauspeter Dissinger, Präsident des Dachverbandes für Natur- und Umweltschutz. Beide sind davon überzeugt, dass Ökonomie in Einklang mit der Ökologie funktionieren muss. Immer mehr andere Wirtschaftstreibende teilen diese Meinung, darunter viele Hoteliers. In Südtirol ist zuletzt eine Debatte entbrannt um die richtige Dosierung des Tourismus und um den richtigen Umgang mit Besucherströmen. Es ist klar geworden, dass die Naturschönheit keinem ungebremsten Besucherstrom standhalten kann.
Selbst mit Geldanlagen lässt sich Umweltbewusstsein mittlerweile vereinbaren. Green Investing gehört beinahe schon zum guten Ton. Der Finanzsektor bietet ein breites Spektrum an Produkten an, die nicht nur Rendite bringen, sondern auch für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt stehen, für den Schutz der Menschenrechte und für die Bekämpfung von Korruption. Mit der Technical Expert Group on Sustainable Finance wurde eine Expertenkommission auf EU-Ebene installiert, die Vorschläge ausarbeiten soll, um den Markt für nachhaltige Kapitalanlagen in der EU neu zu regulieren und voranzubringen.
Im Alltag ist nachhaltiges Handeln ebenfalls Trend. Bei der Ernährung achten viele auf Siegel, die biologische oder fair gehandelte Produkte kennzeichnen. Für Vegetarismus oder Veganismus entscheiden sich immer mehr Menschen, nicht nur aus ethischen, religiösen oder ökonomischen Gründen, sondern auch aus ökologischen. Eingekauft wird häufig regional und saisonal. Norbert Niederkofler hat mit diesem Konzept sogar den dritten Michelin-Stern erhalten und verteidigt.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Abfallvermeidung, die sich viele Menschen zu Herzen nehmen. Mehrwegprodukte, Thermobecher oder der Stoffbeutel sind nur einige der Möglichkeiten, um die eigene Abfallmenge zu reduzieren. Einige Gemeinden schreiten als positives Beispiel voran. Nach Meran und Leifers hat jüngst die Gemeinde Kaltern beschlossen, aktiv zu werden und Plastikmüll aus den öffentlichen Einrichtungen zu verbannen.
Es gäbe noch unzählige andere Belege dafür, dass die grüne Welle die verschiedensten Bereiche unserer Gesellschaft erfasst hat. Dabei zählt jede bewusste Entscheidung, sich für den Klimaschutz einzusetzen, auch wenn sie noch so unbedeutend erscheint. Denn oft sind es gerade kleine Veränderungen, die einen großen Effekt haben. Steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein.
Simone Treibenreif meint
Grüne Tupfer sind zu wenig
Wir haben in Meran und Innsbruck grüne Bürgermeister, in Tirol eine grüne Regierungsbeteiligung, in Österreich einen grünen (oder grünennahen, wie es heißt) Bundespräsidenten, und in Deutschland fuhren die Grünen zuletzt bei den Bundesländerwahlen starke Ergebnisse ein. In Südtirol allerdings haben die Grünen ihr drittes Landtagsmandat nur knapp in die nächste Legislatur hineingerettet. Und wo sind die Grünen andernorts? In Italien, Frankreich oder Polen? Die USA – mit einem Anteil von 15 Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen zweitgrößter Klimasünder hinter China (24 Prozent) – haben sogar ihren Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen verkündet.
In vielen Regionen und Staaten sind es andere Themen als die grünen, die die Menschen bewegen: Migration, soziale Ungleichheit, Angst davor, was die Zukunft bringen könnte. Im Zuge dieser Einflüsse rückt die Gesellschaft tendenziell viel eher nach rechts denn nach „grün“.
Sicher, traditionelle grüne Ideen und Einstellungen sind mittlerweile in vielen westlichen Ländern zu gesamtgesellschaftlichen geworden. Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein, Ressourcenschonung – Schlagworte wie diese hört man immer öfter. Doch ein großer Teil der Menschen handelt letzten Endes nicht danach. Sondern viel mehr wird in der Öffentlichkeit gesagt, was gesellschaftlich bzw. politisch erwartet wird, und dann aber das Angenehme getan oder Dinge nicht zu Ende gedacht.
Ein Beispiel: Gesetzliche Standards zwingen dazu, Neubauten dick zu isolieren, sogenannte energetische Sanierungen werden finanziell gefördert. Damit werden sicherlich – in einem bestimmten Maß – fossile Brennstoffe für das Heizen eingespart. Doch wie viel Energie wird für die Produktion der Dämmstoffe aufgewandt? Wie werden unsere Kinder und Kindeskinder, wenn sie die Häuser dereinst abreißen und nach neueren Standards bauen wollen, die Kunststoffdämmmaterialen entsorgen? Wo wir doch schon heute ein immenses Plastikmüll-Problem haben …
Oder Beispiel Nr. 2: Menschen finden, Skifahren sei ökologischer Frevel, sehen aber nichts dabei, übers Wochenende zum Shopping-Kurztripp nach New York zu fliegen oder mit dem Kreuzfahrtschiff zum Whale Watching oder zu einem Blick auf andere vom Aussterben bedrohte Tiere über die Ozeane zu schippern. Die Kreuzfahrtsschiffbranche boomt – doch die Schifffahrt ist der „Klimakiller“ schlechthin, weil Schiffe noch immer zum allergrößten Teil mit Schweröl fahren. „Ein Produkt, das bei der Verarbeitung von Öl übrig bleibt und sehr billig abgegeben wird, da die Raffinerien es sonst entsorgen müssten“, erklärt die ZDF-Umweltredaktion. „Bei der Verbrennung entstehen deutlich mehr Abgase als etwa bei Benzin oder Diesel.“
Allein die fünfzehn größten Hochseeschiffe der Welt, errechnete der NABU Deutschland, stoßen pro Jahr so viele Schadstoffe aus wie 750 Millionen Autos. Zwar soll die Flotte bis 2025 bis zu 30 Prozent weniger CO2 ausstoßen – letztlich aber bleibt das ein Tropfen auf den „heißen Stein“, wenn wir weiterhin Unmengen von Konsumgütern durch die Gegend schippern: Kleidung, Spielsachen, Elektronik – das alles wird in Asien sehr viel billiger hergestellt als in Europa. Auch wenn im Prinzip (fast) jeder gegen eine weitere Umweltverschmutzung ist, nicht alle können oder wollen sich die alternativen Produkte leisten oder finden sie ansprechend genug, um sie zu kaufen.
Und dann gibt es die Staaten, die Menschen, die bis dato unterdurchschnittlich zur Verschmutzung der Umwelt und dem Klimawandel beigetragen haben, die nun aber zu bescheidenem Wohlstand kommen und sich Dinge leisten können, die in den Industrienationen gang und gäbe sind. Und nun sollen sie nicht dürfen, weil wir „Wessis“ die Erde bereits vermüllt und verschmutzt haben? Können wir aus den Industriestaaten es uns herausnehmen, diese Menschen als Umweltverschmutzer anzuprangern?
Es habe, berichtete Spiegel Online Anfang der Woche, in Katowice eine Diskussion darüber gegeben, ob der Klimareport von den Konferenzteilnehmern „zur Kenntnis genommen“, „begrüßt“ oder nicht doch nur die Leistung der Wissenschaftler, die den Report erarbeitet hatten, begrüßt werden sollte. Die Ergebnisse des Reports – in aller Kürze zusammengefasst: Selbst eine geringe Erwärmung von 1,5 Grad berge ernste Risiken – dienten als Grundlage der Verhandlungen.
Eine Kleinigkeit – ein Wort – nur, das die Staatengemeinschaft offenbar fast an den Rand der Verhandlungsfähigkeit gebracht hat. Und das obwohl feststeht, dass nur ein Zusammenschauen und ein gemeinsames Vorgehen Resultate zum Wohl der Umwelt bringen können.
Andererseits: Im Prinzip sind alle Maßnahmen, die angegangen werden sollen, nur Augenauswischerei. Denn auch wenn wir ab morgen aufs Auto und auf geheizte Häuser verzichten würden, die Klimaerwärmung wäre damit längst nicht gestoppt. Dazu käme jede „grüne Welle“ zu spät – und auch das laugrüne Lüftchen, das in Mitteleuropa derzeit spürbar ist, kommt wohl zu spät. Aber wer weiß, was die Wissenschaft in den nächsten Jahren für uns bereithält?