Mailand – Die Aussagen von Vincenzo Macrì ließen aufhorchen: In einem Interview mit dem Corriere della Sera äußerte sich der ehemalige Antimafiastaatsanwalt und gebürtige Kalabrese wie folgt: „Die radikalen islamistischen Terroristen verüben keine Anschläge in Italien, weil sie ein ruhiges Italien brauchen. Eines, in dem sie ihre Drogengeschäfte und den Menschenhandel mit der Mafia unbehelligt abwickeln können.“ Die italienische Mafia, allen voran die kalabresische Vereinigung N’drangheta, sei in Nordafrika sehr präsent und würde die Flüchtlingsbewegungen an die italienischen Küsten steuern, führt Macrì aus. Dabei gebe es eine Art Aufteilung der Einnahmen aus dem Schleppergeschäft zwischen der Mafia und dem IS: Während der sogenannte Islamische Staat beim Drogen- und Menschenschmuggel bis an die libysche Küste verdiene, würde die Mafia mit der Überfahrt und mit der Aufnahme der Geflüchteten in Italien viel Geld machen, indem sie bei den Aufnahmezentren mitmische und die Weiterreise gen Norden mitorganisiere. Das Kokain würde dieselben Routen nehmen.
Die Mafia als unfreiwilliger Schutzpate der italienischen Gesellschaft? Die Worte aus dem Munde des ehemaligen Mafiajägers klingen verwegen. Zwar sind die kriminellen Aktivitäten der Mafia in den „neuen“ lukrativen Geschäftsfeldern hinlänglich bekannt, und auch die Ähnlichkeiten der kriminellen Strukturen von Mafia und IS sind auffällig (die SWZ hat berichtet, siehe Nr. 33/17, nachzulesen auf SWZonline und per SWZapp). Doch ist es wirklich diese wirtschaftliche Kungelei zwischen der italienischen Unterwelt und dem islamistischen Terror, die den Stiefelstaat – im Unterschied zu anderen europäischen Ländern wie Spanien, Deutschland, Belgien und insbesondere Frankreich und Großbritannien (alles Partner in der 2014 gegründeten und von den USA geführten sogenannten „Internationalen Allianz gegen den Islamischen Staat“) – bisher vor Anschlägen verschont hat? Prof. Franz Eder, Politikwissenschaftler und Terrorismusforscher der Universität Innsbruck, zweifelt diese These an. „Internationale Vergleiche zeigen, dass Terrorismus und organisiertes Verbrechen oft eine Art symbiotische Verbindung eingehen. Dennoch glaube ich nicht an die These von Macrì. Zwei Punkte sprechen für mich klar dagegen. Einer betrifft die Art der islamistischen Anschläge, die bisher in Europa verübt wurden. Dahinter steckte keine organisierte Struktur, die zentral koordiniert wurde. Es waren Einzeltäter oder einzelne Gruppen, die sich im jeweiligen Land radikalisiert hatten. Zum anderen ist das Umfeld dieser radikalisierten Gruppen eher auf Kleinkriminalität ausgerichtet – dazu gehört der Handel mit leichten Drogen oder Diebstahl“, so Eder
Der Innsbrucker Politikwissenschaftler hat stattdessen eine andere These: „Italien blieb meines Erachtens deshalb bisher vor Anschlägen verschont, weil das Land attraktiv für den Transit und für die Logistikbedürfnisse möglicher Terroristen ist. Es ist die Hauptroute nach Europa und in den Norden“, so Eder. Zum anderen sei in Italien das Phänomen der „Ghettoisierung“, also die Konzentration von Migranten ohne jegliche soziale oder wirtschaftliche Perspektiven in urbanen Zentren wie in den Pariser Vororten der Banlieues oder im Brüsseler „Problemviertel“ Molenbeek, noch nicht akut. Laut Eder sei die Gefahr aber groß, dass sich das bald ändern könnte, weil die italienische Politik offensichtlich zunehmend nicht in der Lage sei, eine Integration zu organisieren, bei der Menschen nicht in einigen wenigen Zentren, sondern im gesamten Land verteilt werden. Nur so könne laut Eder der Radikalisierung und damit der akuten Terrorgefahr nachhaltig vorgebeugt werden. Ob der von Innenminister Minniti vergangene Woche vorgestellte „piano nazionale integrazione“, der neben vielen Pflichten für Migranten mit Asylstatus auch weitgehende Freiheiten in Sachen Kultur und Religion sowie leichteren Zugang zu Arbeit und Unterkunft und eine entsprechende Verteilung auf die italienischen Provinzen festschreibt, diese Herausforderung stemmen kann, bleibt abzuwarten.