Mailand/Rom – Eigentlich ist die Sache dermaßen wahnwitzig, dass sie nach einem bösen Traum klingt. Aber es handelt sich nicht um einen Traum, sondern um die nackte Wirklichkeit, die sich in Italien hundert-, wenn nicht tausendfach zuträgt. Stellvertretend für ihre Leidensgenossen hat vor Kurzem Maria Lorenzi ihre Geschichte im italienischen Radiosender „Radio 24“ erzählt: Als sie nach einem Besuch bei ihrer alten Mutter nach Hause zurückkehren wollte, fand sie ihre Wohnung im Bezirk Rebibbia in Rom mit ausgetauschtem Schloss vor – von einem Mann mit Frau und Kind besetzt. Zuerst wollte sie ihren Augen nicht trauen, dann wandte sie sich an die Ordnungskräfte. Diese eröffneten ihr, dass sie den Fall einem Richter übergeben würden, dass Lorenzi aber etwas Geduld haben müsse. Geduld? Fremde in der eigenen Wohnung, und die Behörden können sie nicht des Hauses verweisen? Unbegreifliches Detail am Rande: Die neuen Bewohner hatten ganz offiziell ihren Wohnsitz in Lorenzis Wohnung – wie sie zur Bescheinigung gekommen waren, bleibt bis heute ein Rätsel. Nun gut, 21 Tage lang „campierte“ Lorenzi im Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür, und sie musste mit ansehen, wie der Mann unbehelligt ein- und ausging, als handle es sich um seine rechtmäßige Wohnung. Laut Lorenzi trug der Mann sogar Schachteln mit Einrichtungsgegenständen hinein und hinaus, er richtete sich sozusagen in der Wohnung ein. Die Frau verließ die Wohnung derweil nie. Lorenzis Schwiegersohn, der in der Zeit bei der Frau im Treppenhaus blieb, wurde bedroht. Erst als Lorenzi sich mit ihrer unglaublichen Geschichte an die Tageszeitung „Il Messaggero“ wandte, marschierte plötzlich innerhalb weniger Stunden die Vizebürgermeisterin Sveva Belviso (übrigens eine Rechtspolitikerin) samt Ordnungskräften auf und ließ die Wohnung räumen. Seither hat Lorenzi zwar ihre vier Wände wieder. Sie lebt aber in der ständigen Angst, nach dem Einkaufen eine besetzte Wohnung vorzufinden. Und sie stellt sich Fragen: Welcher Rechtsstaat ist das? Warum wurden die Behörden erst aktiv, als sie zur Zeitung gegangen war?
Tatsächlich wirft die Geschichte ein schiefes Licht auf die Behörden, die Sicherheitskräfte, die Justiz, kurzum den Rechtsstaat. Verdient sich Italien angesichts solcher Vorkommnisse überhaupt die Bezeichnung Rechtsstaat? Maria Lorenzis Geschichte ist kein Einzelfall, und sie ist im Grunde nichts wirklich Neues. Allerdings häufen sich letzthin die Fälle, wie die Tageszeitung „Corriere della Sera“ in mehreren Artikeln aufzeigte. Die Fälle werden in Rom, in Mailand, aber auch in anderen Städten Italiens mehr. Allein in Mailand sind laut Corriere 4.084 Wohnungen von Bewohnern besetzt, die eigentlich nicht das Recht dazu hätten.
In der Regel handelt es sich um Sozialwohnungen, aber auch Eigentumswohnungen waren bereits betroffen, wie Radiohörer berichteten, als sie auf Radio 24 die Geschichte von Maria Lorenzi hörten. Einer von ihnen ließ wissen, dass ihm der böse Traum bereits zweimal widerfahren sei. Corriere-Journalist Andrea Galli schlägt Alarm: Das Phänomen habe extreme Ausmaße angenommen. Während in der Vergangenheit „nur“ leerstehende Sozialwohnungen unrechtmäßig besetzt wurden, trifft es jetzt vermehrt bewohnte Apartments. Galli vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen der Räumung von Roma-Lagern in der Peripherie von Mailand und der zunehmenden Zahl von Wohnungsbesetzungen. Tatsächlich handelt es sich bei den Besetzern größtenteils um Roma und Ausländer.
Dass die Ordnungskräfte nichts dagegen unternehmen können (wirklich nicht?), begründen sie damit, dass fast immer schwangere Frauen und/oder minderjährige Kinder zu den Wohnungsbesetzern gehören. Die Wohnungsmafia benutzt sie sozusagen als Waffe, gegen die die Ordnungskräfte laut eigenen Aussagen machtlos sind. Freilich fragen sich die Bürger zu Recht, auf wessen Seite das Gesetz steht. Ein Hörer berichtete auf Radio 24, dass er eines schönen Abends in seiner Eigentumswohnung in Neapel eine schwangere Frau mit zwei minderjährigen Kindern vorgefunden habe und daraufhin einen monatelangen Kampf um seine Wohnung ausstehen musste – obwohl auch er selber, der rechtmäßige Besitzer, minderjährige Kinder hat.
Vergangene Woche hat sich Innenminister Angelino Alfano zum Phänomen geäußert und wörtlich gesagt, so etwas sei „inakzeptabel“ und „wir sind bereit einzugreifen“. Das hat die Politik aber schon oft versprochen. Die Bürger greifen inzwischen zur Selbsthilfe. Der Corriere berichtet von einem noch jungen Fall in Mailand, wo zwei schwangere Roma-Frauen, die eine Wohnung widerrechtlich besetzt hatten, die Polizei riefen, um heil aus der Wohnung zu kommen. Die Nachbarn hatten gedroht, die Tür aufzubrechen und sie aus der Wohnung zu prügeln. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist erschreckend.
Der Corriere berichtet auch von einer 31-jährigen Roma, die in den vergangenen Jahren zwölfmal aus einer widerrechtlich besetzten Wohnung entfernt werden musste. Sie wurde jedes Mal angezeigt, mehr aber auch nicht. Eine Festnahme sieht das Gesetz für solche Vergehen nicht vor. Viva l’Italia!(cp)