Bozen/Seattle – Mit dem Kindle Fire bringt Amazon überraschend einen Tablet-PC auf den Markt, der als erster dem Apple iPad 2 Marktanteile kosten könnte. Das handliche Gerät mit dem sieben Zoll großen Touchscreen ist im Gegensatz zu den bisherigen Kindle-Ebook-Lesegeräten ein waschechter Tablet-PC. Es verfügt neben dem Multi-Touchscreen über acht GB internen Speicher, drahtloses Internet nach 802.11n-Standard, einen USB 2.0-Anschluss, Audio-Anschlüsse und integrierte Lautsprecher. Als Betriebssystem kommt Googles Android zum Einsatz. Amazon hat dessen Benutzeroberfläche allerdings derart angepasst, dass es als solches nicht mehr zu erkennen ist. Die Benutzeroberfläche ist vollständig auf das Durchforsten und Konsumieren von digitalen Inhalten, wie E-Books, Musik und Videos ausgelegt. Die Batteriedauer gibt Amazon mit acht Stunden im ständigen Einsatz und 7,5 Stunden bei der Wiedergabe von Videos an. In der ersten Version, die soeben in den USA erschienen ist, befindet sich allerdings noch kein 3G-Modul mit an Bord. Surfen funktioniert damit nur dort, wo drahtlose Netzwerke zur Verfügung stehen.
Bei der Hardware ist insbesondere der Touchscreen eine Besonderheit: Extrem beständig, kratzfest und beschichtet, hat Amazon ein alltagstaugliches Gerät geschaffen, das im Prinzip auf die von iPad & Co. gewohnte Schutzhülle verzichten kann. Laut Unternehmensangaben ist der Touchscreen 20-mal steifer und 30-mal härter als Plastik und besonders gegen Kratzer von Schlüsseln, Schläge und Stürze zu Boden resistent. Daneben wurde er chemisch so behandelt, dass er Reflexionen weitestgehend eliminiert. Anders als viele andere Tablet-PCs ist das Kindle Fire dadurch auch für den Einsatz im Freien geeignet.
Betrachtet man nur die Hardware, fällt es auf den ersten Blick schwer, das Kindle Fire in der Flut von Tablet-PCs und ähnlichen Geräten einzuordnen. Es ist ein relativ kleines, handliches Gerät, das teilweise auch für den Einsatz draußen geeignet ist. Die erste Besonderheit des Kindle Fire ist die perfekte Integration mit Amazons Online-Inhalten. Eine weitere Besonderheit ist der niedrige Anschaffungspreis von gerade einmal 199 US-Dollar (rund 148 Euro). Spätestens bei diesem Punkt können viele Tablet-PCs nicht mehr mithalten. Vergleichbare Geräte kosten in der Regel mehrere Hundert US-Dollar mehr – und sind damit nicht mehr konkurrenzfähig mit dem Kindle Fire. Schließlich greifen Kunden bei ungefähr gleich teuren Produkten tendenziell zu bereits etablierten Geräten. Das Kindle Fire behebt zudem einigermaßen den Schwachpunkt aller Tablet-PCs, den Einsatz draußen. Sowohl iPad 2 als auch Galaxy Tab sind weniger resistent und reflektieren mehr. Auch im Vergleich zu Hybridgeräten zwischen Smartphone und Tablet-PCs, wie dem soeben erschienenen Samsung Note, kann das Kindle Fire punkten: Zwar kann man damit nicht telefonieren, dafür bietet der Formfaktor von sieben Zoll einen guten Kompromiss zwischen Größe und Lesbarkeit von E-Books oder der Bedienung des mobilen Browsers.
Dass Amazon diesen Schritt geht, scheint nicht weiter verwunderlich:
Amazons Position im Markt der Online-Unterhaltung: 17 Millionen Lieder, drei Millionen Bücher, davon zwei Millionen frei verfügbar. Dazu gesellen sich Hunderttausende Filme und weitere Unterhaltungsangebote. Amazon schafft mit dem Kindle Fire also nichts anderes als die logische Konsequenz zu seinem Arsenal an Online-Unterhaltungsangeboten: ein Gerät, das maßgeschneidert auf die Inhalte ist, die der Konzern schon seit Jahren über das Internet anbietet. Um diese beziehen zu können, steht den Nutzern ein eigener Amazon App Store namens Amazon Prime zur Verfügung. Nur über diesen können Inhalte bezogen werden. Android Market hingegen kann nicht genutzt werden – dafür sind die Eingriffe zu groß, die Amazon am mobilen Betriebssystem vorgenommen hat. Käufer in den USA erhalten derzeit einen Monat lang kostenlos die Möglichkeit, Amazon Prime zu nutzen. Die Synchronisation der Inhalte funktioniert dabei über beliebige drahtlose WLAN-Verbindungen. Komfortabel ist dabei, dass das Kindle Fire nicht an einen Rechner angeschlossen werden muss, um etwa Inhalte zu übertragen. Es funktioniert völlig autonom von PC-Hard- und Software. Damit entfällt auch die von iPhone und iPad bekannte Aktivierung über Apples proprietäre Software iTunes. Dieser Punkt war und ist vielen Anwendern nach wie vor ein Dorn im Auge – den sehr guten Verkaufszahlen von Apple zum Trotz.
Eine Besonderheit stellt der Browser des Kindle Fire dar: Amazon Silk haben ihn seine Schöpfer getauft, was zu Deutsch „Seide“ bedeutet. Genauso geschmeidig und reibungslos läuft auch das Surfen im Internet mit dem Tablet-PC ab. Da Amazon ohnehin große Teile seiner Rechenlast in der Cloud, also in über das Internet zugängliche Rechenzentren betreibt, kommt diese Infrastruktur aus dem Internet auch dem Kindle Fire zugute. Die Arbeitslast für das Laden und den Aufbau von Internetseiten wird dabei zwischen dem Tablet-PC und der Cloud aufgeteilt. Anders formuliert: Jede aufgerufene Internetseite wird teils auf dem Kindle Fire berechnet und teils im Internet, auf Amazons Servern. Bei aller Leistungsfähigkeit könnte die Benutzeroberfläche des Browsers dennoch einige Polituren vertragen. Besonders das Querformat wird nicht besonders ausgenutzt Aufbau und Darstellung von Webseiten hingegen funktionieren aufgrund der Arbeitsteilung schnell und leichtgängig. Beim Surfen kommt zudem Amazons künstliche Intelligenz zum Einsatz, die speziell für das Auffinden von Büchern und Musik entwickelt wurde. Anwender erhalten Vorschläge, welche Inhalte und Webseiten sie vielleicht als nächstes aufsuchen wollen. Die Software ermittelt anhand der besuchten Inhalte sozusagen die Vorlieben seiner Anwender – und schlägt Inhalte vor, die mit dieser Historie in Verbindung stehen.
Die Rechnung könnte für Amazon aufgehen, obwohl der Start des Tablet-PCs auf den ersten Blick ein Verlustgeschäft erscheint: Die Analysten des Marktforschers IHS iSuppli haben errechnet, dass Amazon bei der Herstellung jedes Gerätes etwa zehn US-Dollar Verlust macht – allein das belastbare Display kostet im Einkauf 87 US-Dollar. Mit den restlichen Komponenten kostet ein Gerät den Konzern rund 210 US-Dollar und liegt damit über dem Verkaufspreis. Dennoch kann sich der Verkauf des Kindle Fire für Amazon durchaus bezahlt machen. Schließlich müssen die Nutzer Inhalte wohl oder übel über Amazon beziehen. Dieses Modell hat sich bereits in der Vergangenheit beim Apple App Store als mehr als erfolgreich erwiesen. Ein Hindernis für die Akzeptanz des Gerätes erwartet der Konzern damit nicht.
Zudem erhält der Nutzer die Wahl, wo er seine gekauften Inhalte speichern möchte. Der vergleichsweise kleine lokale Speicher von acht GB (davon 6,5 GB für Nutzerinhalte verwendbar) reicht gerade für die wichtigsten Daten aus. Alle weiteren Inhalte müssen hingegen in die Amazons Cloud verlagert werden. Dieser Dienst ist kostenlos. Spezielle Abonnements erleichtern den Kindle Fire-Nutzern den Kauf von E-Books, Musik und das Ansehen von Videos in der Cloud. Für 79 US-Dollar pro Jahr bekommen sie einen Flatrate-artigen Zugang zu allen Inhalten.
Zweifellos wird das Kindle Fire seine Abnehmer finden. Es ist zwar hardwaretechnisch in mancherlei Hinsicht unterlegen: Geringerer Speicher und ein kleineres Display werden von anderen Geräten bereits seit einiger Zeit übertroffen. Was Amazon allerdings auf der Habenseite hält, ist eine perfekte Integration mit einer Unmenge an Unterhaltung und Inhalten, die problemlos online beziehbar sind. Das Unternehmen hat seine Nutzer bereits seit vielen Jahren daran gewöhnt. Dazu gesellt sich der Kampfpreis unterhalb der magischen Marke von 200 US-Dollar. Im Vergleich mit dem iPad 2 sparen die Kunden also mehr, als sie für das Kindle Fire ausgeben. Laut einer Umfrage des Wirtschaftsmagazins Fortune gehen iPad-2-Bestellungen von Kunden deutlich zurück; stattdessen steigen die Vorbestellungen des Kindle Fire enorm. Bei Amazon jedenfalls gibt man sich zuversichtlich: Zum Weihnachtsgeschäft 2011 hat das Unternehmen rund fünf Millionen Geräte bestellt, und in den USA wurde mit der Auslieferung bereits begonnen. Sollte sich das Kindle Fire als verkaufsfähig erweisen, wird es 2012 auch seinen Weg nach Europa finden, dann voraussichtlich für unter 200 Euro, so Amazon.