SWZ: Herr Lewitan, Stress kennen wir alle: bei der Arbeit, im Privaten, in der Freizeit. So weit kein Problem. Was zeigt uns, dass wir zu viel davon haben?
Louis Lewitan: Man muss unterscheiden zwischen dem positiven und dem negativen Stress. Es gibt den Stress, der beflügelt, und den, der destruktiv wirkt. Stress wirkt vor allem dann negativ, wenn er nicht steuerbar ist oder, besser gesagt: wenn wir nicht die Instrumente in der Hand haben, ihn zu steuern. Dann stellt sich ein Gefühl von Hilflosigkeit und Überforderung ein. Davon ist dann jede Portion zu viel.
Aber wie äußert sich dieser negative Stress dann konkret?
Hier gilt es, vier Ebenen zu unterscheiden. Auf der kognitiven Ebene äußert er sich so, dass ich abgelenkt, konfus oder verwirrt bin. Man steht dann vor einer geistigen Leere oder vor einer geistigen Wand, die man nicht überspringen kann. Dann gibt es die emotionale Ebene, auf der sich Stress in Form von Hilfslosigkeit, Angst oder Panikzuständen äußert. Gestresste Menschen empfinden hier auch Ärger oder Wut. Die dritte Ebene ist die körperliche: Die Person fühlt sich ausgelaugt, schwach, antriebslos oder auch krank. Effektiv steigt die Anfälligkeit für Krankheiten, weil die Immunfähigkeit des Körpers unter dem Stress leidet. Man fühlt sich im Körper nicht mehr wohl und entwickelt Symptome, die von Nackenverspannungen über klassische Rückenprobleme bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder psychosomatischen Beschwerden reichen können. Die vierte Ebene ist die Verhaltensebene. Haben wir den Stress nicht mehr im Griff, verändern wir unser Verhalten. Wir kritisieren dann schärfer, schimpfen lauter als nötig, werden insgesamt aggressiver oder beginnen, andere zu mobben. Auf diesen vier Ebenen lässt sich messen, ob eine Person einen positiven oder negativen Stress entwickelt.
In Ihrem Buch hab ich ein provokantes Wortspiel gefunden: Mussturbation. Was verstehen Sie genau darunter?
Das Wortspiel verweist auf die gedankliche Bürde, immer etwas zu müssen, und geht zurück auf Albert Ellis, dem Begründer der rational-emotiven Verhaltenstherapie. Die Man-muss-Gedankenfalle geht so: Ich muss perfekt sein, ich muss pünktlich sein, ich muss fehlerfrei sein, ich muss herausragende Leistung bringen oder ich muss die besten Verkaufszahlen überhaupt liefern. Es ist eine Art des Müssens, die man ohne viel Zutun verinnerlicht und nicht reflektiert hat. Oft hieß es bei vielen ja schon in der Schule: Du musst besser werden als die anderen Mitschüler. Oder: Du musst alle anderen übertrumpfen, ansonsten erreichst du nichts im Leben. Das ist selbst auferlegter Leistungsdruck.
Wie kann aber ein Mitarbeiter gelassen bleiben, wenn ihm der Vorgesetzte Druck macht, die Verkaufszahlen zu erreichen, und ihm zu verstehen gibt, dass alles darunter nicht viel wert ist?
Natürlich kann man gelassen bleiben und gleichzeitig Ziele erreichen. Gelassen bleiben heißt ja nicht, eine Aufgabe auf die leichte Schulter zu nehmen oder faul rumzuliegen. Gelassenheit heißt, anzuerkennen, dass man die Perfektion nie erreichen kann. Gelassenheit heißt auch Selbstvertrauen. Ich habe ein Vertrauen, in wichtigen Momenten, in denen extern eine Leistung gefordert wird, alle Kompetenzen gebündelt abrufen zu können und die Leistung zu erbringen. Aus dieser Sicht heraus kann ich ganz entspannt an ein Projekt herangehen. Wenn ich jedoch Zweifel habe, pessimistisch denke und mir trotzdem sage, dass ich diese Leistung erbringen muss und dabei sogar noch der Beste sein muss, dann ist das selbstauferlegter Stress. Niemand verlangt, dass Sie überall der Beste sein müssen.
Aus der Finanzwelt der Banker und Broker etwa kennen wir mittlerweile aber andere Realitäten.
Es ist überall so, dass der Druck, zu performen, erst mal von außen kommt. Es geht um die Art des Drucks. Nichts wäre schlimmer als überhaupt kein Druck. Denn man wächst auch an Aufgaben. Gefährlich wird es dann, wenn aus kurzfristigem Stress anhaltender Stress wird. Gefährlich wird es zudem, wenn die Ziele nicht realistisch sind.
Können Sie das genauer erklären?
Wenn jemand 15 Prozent mehr Umsatz machen soll als im vergangenen Jahr, wo bereits ein Plus von zehn Prozent erzielt wurde, muss man sich schon fragen: Gibt der Markt dieses Ziel überhaupt her? Hier sind Frustration und unnötiger Stress vorprogrammiert.
Sie haben mit Persönlichkeiten wie Reinhold Messner, Giovanni di Lorenzo, Ottmar Hitzfeld oder Karin Göring-Eckardt über ihre Wege zur Gelassenheit und den Umgang mit Stress gesprochen. Was haben Sie dabei gelernt?
Dass man nicht für alles zuständig sein kann und dass nicht immer alles perfekt sein muss. Auch das Beharrungsvermögen ist wichtig. Unser Berufsleben ist eher ein Marathonlauf denn ein kurzer Sprint. Deshalb sollten wir nicht so schnell aufgeben, auch wenn es mal nicht so gut läuft oder stressig ist. Bei vielen der Personen war auch der Gedanke sehr präsent, dass man das Leben als Chance verstehen sollte. Mit Niederlagen können wir wachsen.
Stichwort Marathon: Dass ausgerechnet hochbeschäftigte Manager in ihrer Freizeit auch noch übermäßige Leistung bringen, ist kein Zufall, oder?
Nein, das ist kein Zufall. Das ist Stress, der allein vom Leistungsgedanken her kommt. Ich habe einen Manager kennen gelernt, der allein für einen Marathon von München über London nach New York gereist ist. Nach dem Marathon musste er sich fit spritzen lassen, um überhaupt wieder die Heimreise antreten und am Montag wieder tatkräftig im Büro sein zu können. Das ist pervers. Hier gilt es zu hinterfragen, welche Art von Erfolg das ist. Das ist nicht nachhaltig, weil man mit einer unglaublichen Härte seinem Körper Schaden zufügt. Da sind wir wieder beim Thema. Eine Nacht durchmachen, weil eine Arbeit fertig werden muss oder ein Ziel erreicht werden muss, ist völlig in Ordnung. Aber zwei durchwachte Nächte hintereinander oder sogar vier sollten schon die Frage aufwerfen: Was stimmt mit dem System nicht, dass ich so arbeiten muss?
Sie schreiben in Ihren Büchern von Humor als wirksamem Mittel gegen Stress. Wird in den Chefetagen zu wenig gelacht?
Ganz sicher, auf jeden Fall. Der Humor entspannt und öffnet Perspektiven, indem Selbstverständliches verrückt wird. Wir kennen das alle: Wenn in einer angespannten Situation gelacht werden kann, entspannt das alle deutlich. Die Verbissenheit und die geistige Enge weichen dann. In den Chefetagen gibt es oft viel zu viel Ernsthaftigkeit, Selbstbeherrschung und Verbissenheit. Wer zu verbissen ist, kann nicht lachen. Das ist bildlich gemeint. Nicht umsonst leidet eine Vielzahl von Managern unter Bruxismus, d.h., sie reiben die Zähne kontinuierlich aneinander. Am Tage merken sie nichts vom Zähneknirschen, in der Nacht schon. Ein humorvoller Mensch in einer Führungsposition ist eine Ausnahme. Humor ist dabei nicht mit Witzmachen zu verwechseln. Humorvolle Menschen haben Herzenswärme und die Größe, über sich selbst zu lachen. Witzige Leute hingegen können zwar über die Kollegen und Mitarbeiter lachen, jedoch nicht über sich. Ein israelischer Schriftsteller hat einmal geschrieben: Der Diktator hat keinen Humor.
Das heißt, stressige Situationen wie Bewerbungsgespräche, Gehaltsverhandlungen oder Bilanzpräsentationen können durchaus auch in Gelächter enden?
(lacht) Das kommt darauf an, wer mir gegenübersitzt. Wenn eine Person Herzenswärme besitzt und dafür empfänglich ist: auf jeden Fall. Intelligente Personen sind das in den meisten Fällen – im Unterschied zu einfältigen Menschen. Für die ist alles konkret, und das Konkrete ist oft schwer. Humor dagegen hat Leichtigkeit.