Rom/Bozen – Das Thema Arbeitssicherheit bleibt in Südtirol ein Dauerbrenner, und einige tragische Unfälle mit Todesfolge – vor allem in der Landwirtschaft – haben es medial wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatten gebracht. Ein etwas besseres Verständnis dafür ergibt sich, wenn die Zahlen betrachtet werden.
Die im August dieses Jahres veröffentlichte Unfallstatistik des Inail für den Bezugszeitraum 2018 enthält einige interessante Daten zu Südtirol. Insgesamt haben sich hierzulande im Vorjahr 16.084 Arbeitsunfälle ereignet. In der Provinz Trient waren es lediglich 8.344 und auf gesamtstaatlicher Ebene 645.049. War die Anzahl der Arbeitsunfälle in Südtirol von 2014 bis 2017 noch im Sinken begriffen (von 15.849 Unfällen im Jahr 2014 auf 15.414 im Jahr 2017, im Jahr 2015 waren es sogar nur 15.027), gibt es jetzt einen markanten Anstieg. In Trient (2014: 9.233 Unfälle) und auf gesamtstaatlicher Ebene (2014: 663.039 Unfälle) bewegen sich die Zahlen hingegen weiterhin auf einem tieferen Niveau als noch vor fünf Jahren.
Bei den tödlichen Unfällen liegt Südtirol hingegen 2018 (acht Todesfälle) unter dem Vierjahresdurchschnitt (zehn Todesfälle pro Jahr). Trient hingegen liegt genau im Mittelwert der Vorjahre (sieben Todesfälle). Auf gesamtstaatlicher Ebene haben sich 2018 insgesamt 704 tödliche Arbeitsunfälle zugetragen (in der Zahl sind auch die Unfalltoten beim Einsturz der Morandi-Brücke in Genua enthalten).
Etwas relativiert werden die vergleichsweise hohen Zahlen in Südtirol beim Betrachten der Anzahl der Arbeitsunfälle mit einer Invalidität (menomazione – zwischen einem und hundert Prozent). Insgesamt sind es 659 Fälle, davon 330 mit einem Grad von lediglich bis zu fünf Prozent.
Trotzdem stellt sich die Frage: Warum tragen sich immer noch so viele Arbeitsunfälle zu – trotz des vom Gesetzgeber vorgesehenen immensen Aufwandes für die Arbeitssicherheit, trotz des Abschreckungspotenzials durch die horrenden Strafen (insgesamt ca. 1.000 Bestimmungen, für welche eine Sanktion vorgesehen ist) und trotz der hohen Haftungsrisiken? Sind die derzeitigen Maßnahmen nicht ausreichend, oder sind neue Ansätze erforderlich, damit dieser harte Sockel sinkt?
Arbeitssicherheit immer mehr Thema von gerichtlichen Auseinandersetzungen
Durch die Verschärfung der Bestimmungen mit dem Einheitstext zur Arbeitssicherheit (GVD Nr. 81/2008), als Reaktion auf eine Reihe von tragischen Ereignissen (unter anderem im Dezember 2007 die sieben Toten im Stahlwerk der Thyssen Krupp in Turin), sind in erster Linie die Bußgelder und Strafen in den Mittelpunkt gerückt worden. Dieser repressive Ansatz zur Lösung der zweifellos vorhandenen Probleme hat die Arbeitssicherheit aber auch vermehrt zu einem Thema der Justiz gemacht und damit die Arbeit der Techniker als weniger bedeutend eingestuft. Mit anderen Worten: Repression vor Lösungsansatz. Viele Fälle werden daher Gegenstand von strafrechtlichen Verfahren und die Grundsätze der Arbeitssicherheit sogar über den Strafprozess definiert.
In der Folge einige Beispiele dafür, wie schwer es ist, Rechtssicherheit zu garantieren, und wie weit mittlerweile die Haftung gehen kann.
Schutz der Arbeitsbedingungen
Eine wesentliche Bestimmung, die den Arbeitgeber stark in die Haftung nimmt, ist der Artikel 2087 ZGB (Schutz der Arbeitsbedingungen), welcher die Verpflichtung enthält, beim Betrieb des Unternehmens die Maßnahmen zu treffen, die nach der besonderen Art der Arbeit, nach der Erfahrung und dem Stand der Technik zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der geistigen Persönlichkeit der Arbeitnehmer notwendig sind. Es handelt sich also um eine sehr offene und dynamische Formulierung, die den Arbeitgeber zwingt, sich ständig auf die Suche nach der technisch und erfahrungsgemäß besten Maßnahme zur Vermeidung eines Arbeitsunfalls zu machen.
Der Kassationsgerichtshof (Urteil Nr. 20364/2019) hat heuer den Anwendungsbereich zwar etwas eingegrenzt, allerdings bleibt noch viel Interpretationsspielraum offen. Die Richter haben zwar befunden, dass keine absolute Pflicht besteht, jede mögliche Sicherheitsmaßnahme zur Anwendung zu bringen, um einen Schaden abzuwenden, allerdings bleibt ein großer Ermessensspielraum. Wenn aufgrund der technischen Sicherheitsbestimmungen eine Maßnahme erforderlich ist, dann ist es für den Arbeitgeber leichter, dies nachzuvollziehen bzw. die Auflagen einzuhalten. Schwieriger ist es, wenn keine solche direkte Bestimmung technischer Natur besteht, sich jedoch ein Arbeitsunfall ereignet und der zu Schaden gekommene Arbeitnehmer aufgrund der offenen Formulierung des erwähnten Artikels 2087 klagt. Um die Schadenersatzforderung zu vermeiden, muss in diesem Fall der Arbeitgeber nachweisen, dass er trotzdem die – gemäß der Erfahrung und dem Stand der Technik – möglichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen hat. Im behandelten Fall wollte ein Mitarbeiter nach einem Überfall Schadenersatz, weil der Arbeitgeber lediglich Panzerglas und eine doppelte Tür gegen Raubüberfälle vorgesehen hatte, und nicht auch einen bewaffneten Sicherheitsdienst oder Videoüberwachung. Das Höchstgericht wies die Forderung allerdings zurück und hielt die getroffenen Maßnahmen für ausreichend.
Außenstehende Dritte sind zu schützen
Während klar ist, dass Arbeitnehmer und eine ganze Reihe von gleichgestellten Mitarbeitern (gemäß der Definition im Artikel 2, Absatz 1, Buchstabe a, GVD Nr. 81/2008) des Arbeitgebers bzw. Auftraggebers in die Schutzbestimmungen des Einheitstextes zur Arbeitssicherheit fallen, wird außenstehenden Dritten (Kunden, Technikern usw.), die sich innerhalb von Baustellen, Produktionseinheiten oder Arbeitsstätten befinden, zumeist wenig Beachtung geschenkt. Stößt diesen allerdings etwas zu, kann wiederum der Arbeitgeber in die Haftung genommen werden.
In einem heuer gefällten Urteil des Kassationsgerichtshofes (Nr. 32521/2019) ist ein Arbeitgeber wegen der Fahrlässigkeit eines Mitarbeiters strafrechtlich verurteilt worden, und zwar wegen Köperverletzung (Artikel 590 Strafgesetzbuch – lesioni personali colpose). Der Arbeitnehmer hatte auf einer Baustelle Bretter entfernt, und die Ehefrau des Auftraggebers war deshalb in ein Loch gestürzt und hatte sich verletzt. Anstatt die Frau in die Haftung zu nehmen (sie hat auf der Baustelle absolut nichts zu suchen), ist jedoch der Arbeitgeber angeklagt worden. Letzterer hatte im Rekurs angeführt, dass lediglich Arbeitnehmer in den Anwendungsbereich der Bestimmungen zur Arbeitssicherheit fallen. Die Richter haben aber – auch mit Bezug auf frühere Urteile – befunden, dass diese Schutzbestimmungen auch für Dritte gelten, die nicht Teil der Arbeitsorganisation sind. Die Schuld des Arbeitgebers bestand darin, seiner Aufsichtspflicht gegenüber dem Arbeitnehmer nicht ausreichend nachgekommen zu sein. Nicht behandelt wurde in diesem Fall eine eventuelle Haftung des Arbeitnehmers für Verstöße gegen den Artikel 20, GVD Nr. 81/2008 (Pflichten des Arbeitnehmers).
Haftung des Auftraggebers
Wenig klar ist die Position eines privaten Auftraggebers bei Arbeitsunfällen, also von jemandem, der nicht berufs- oder gewerbsmäßig Aufträge vergibt oder eine unternehmerische bzw. freiberufliche Tätigkeit ausübt. Besorgniserregend ist allerdings die Tendenz, auch diese in die Haftung mit einzubeziehen. So ist im Vorjahr eine Frau in letzter Instanz (Kassationsurteil Nr. 40922/2018) strafrechtlich dafür verurteilt worden, dass sie im Rahmen eines Umbaus ihres Hauses keine Risikobewertung erstellt oder einen Verantwortlichen für die Arbeiten ernannt hatte und damit ihrer allgemeinen Pflicht, den Auftragnehmer unter sicheren Bedingungen arbeiten zu lassen, nicht nachgekommen ist. Etwas abgemildert wurde diese Haftung heuer in zwei Urteilen des Kassationsgerichtshofes (Nr. 10039/2019 sowie 34893/2019), bei denen zwischen dem privaten Eigentümer einer Immobilie und dem eigentlichen Auftraggeber unterschieden wurde. Diese müssen nicht automatisch dieselben sein, es haftet daher nicht der private Eigentümer (sofern er sich nicht eingemischt hat), sondern der wirkliche Auftraggeber der Arbeiten.
Anweisungen von Dritten
Strafrechtlich haftbar ist der Arbeitgeber auch, wenn Dritte Arbeitsanweisungen geben und die Bestimmungen zur Arbeitssicherheit nicht eingehalten werden. So ist ein Arbeitgeber in der Landwirtschaft wegen Körperverletzung verurteilt worden, weil der Arbeiter während der Olivenernte vom Baum gefallen war und sich erhebliche Verletzungen zugezogen hatte. Letzterem wurde für die Ausführung dieser Arbeiten keine Leiter zur Verfügung gestellt, obwohl dies so vorgeschrieben ist. Der Arbeitgeber wollte jedoch seinen Vater dafür verantwortlich machen, denn dieser hatte die entsprechenden Anweisungen gegeben. Die Richter (Kassationsurteil Nr. 37148/2019) haben ihn trotzdem für schuldig befunden, denn er ist seiner Aufsichts- und Kontrollpflicht nicht nachgekommen.