Bozen – Die Ausgangslage ist klar: Inzwischen leben auf unserem Planeten acht Milliarden Menschen, und es werden noch mehr. Deren Ernährung ist eine gewaltige Herausforderung, insbesondere deshalb, weil der Konsum von Fleisch und Fisch rapide zunimmt. Er wird sich laut heutigen Prognosen bis 2050 beinahe verdoppeln, da die Entwicklungs- und Schwellenländer mit ihrem Verbrauch allmählich zu den hoch entwickelten Gesellschaften aufschließen, in denen der Konsum stagniert, da die in Wohlstand lebenden Menschen dort gesundheits- und umweltbewusster werden. Die Entwicklung ist problematisch. 70 Prozent der weltweit angebauten Nutzpflanzen werden schon heute als Futtermittel für Tiere verwendet, es werden Urwälder gerodet, um neue, mit Pestiziden behandelte Anbauflächen zu gewinnen, für die Herstellung von einem Kilo Rindfleisch werden 16 Kilo Getreide als Futtermittel benötigt und 118 Badewannen voll Wasser. Auch ist die Landwirtschaft einer der großen Produzenten von Treibhausgasen. Wiederkäuer wie Rinder oder Schafe scheiden bei der Verdauung Methan aus, das ein um 25-mal höheres Treibhauspotenzial hat als CO2. Dazu kommt, dass die Meere stark überfischt sind und längst auf Massenfischzucht umgestellt worden ist, um den Bedarf zu decken.
Die Forschung hat schon vor gut 30 Jahren begonnen, und 1999 wurde das erste diesbezügliche Patent angemeldet.
Es überrascht daher nicht, dass nach Lösungen für dieses Problem gesucht wird. Die einen meinen, das Ernährungs- und Umweltproblem lasse sich dadurch beheben, dass die Menschheit ihren Verbrauch weitgehend auf pflanzliche Produkte umstellt. Die anderen halten ein solches Ziel für weder kurz- noch mittelfristig erreichbar und suchen nach technisch-wissenschaftlichen Auswegen. Die Forschung dazu hat schon vor gut 30 Jahren begonnen, und 1999 wurde das erste diesbezügliche Patent angemeldet. Dabei geht es um die Herstellung von Fleisch im Reagenzglas, die sogenannte In-vitro-Produktion.
Die In-vitro-Methode
Was ist dies? Bei diesem Verfahren wird einem Tier – etwa einem Rind – invasiv ein wenig Muskelgewebe entnommen, aus dem Stammzellen gewonnen werden. Diese müssen dann in einer Nährlösung aus Aminosäuren, Hormonen, Zucker, Mineralien, Vitaminen unter Zusatz eines Wachstumsserums vermehrt werden, und zwar bei einer Temperatur, die der Körpertemperatur des entsprechenden Tieres entspricht. Das Wachstumsserum musste lange Zeit aus dem Blut lebender Föten gewonnen werden, wofür das Muttertier geschlachtet wurde. Inzwischen ist es Forschenden gelungen, die fötale Komponente zu ersetzen, etwa mit Extrakten aus Algen. In einer Art Fleischwolf werden die Fasern dann zu einer Fleischmasse, die sich durch Beimengung von Fett als Geschmacksträger zur Herstellung etwa von Burgern oder bestimmten Wurstwaren eignet. An die 20.000 Muskelzellen braucht es, um das Fleisch für einen Burger zu erzeugen. Inzwischen ist es gelungen, durch dreidimensionale Verfahren bzw. unter Einsatz von 3-D-Druckern größere, ansehnliche Fleischstücke herzustellen.
Von 250.000 auf 50 bis 100 Dollar
Das erste In-vitro-Fleisch, das im Jahr 2013 präsentiert wurde, war eine Sensation. Der Burger, der damit erzeugt hätte werden können, hätte im Handel an die 250.000 Euro gekostet! Inzwischen hat die Forschung gewaltige Fortschritte erzielt. Die Qualität der Produkte wurde stark verbessert, die Preise sind gesunken. Geflügelfleisch, so wird berichtet, lässt sich heute bereits für 50 Euro das Kilo herstellen, Rindfleisch für 100 Dollar. Tendenz: sinkend!
Das erste In-vitro-Fleisch, das im Jahr 2013 präsentiert wurde, war eine Sensation. Der Burger, der damit erzeugt hätte werden können, hätte im Handel an die 250.000 Euro gekostet!
Seit das Unternehmen Mosa Meat vor zehn Jahren das erste technisch erzeugte Fleisch präsentiert hat, ist viel geschehen. Die Zeitschrift „Nature“ berichtete, dass es 2021 bereits 50 Unternehmen gab, die Fleisch und Fisch im Labor produzieren oder produzieren wollen. Und das Good Food Institute, eine gemeinnützige Denkfabrik, die das globale Nahrungsmittelsystem verbessern will, hat schon vor zwei Jahren 107 Start-ups aufgelistet, die daran arbeiten, verschiedene tierische Produkte (neben Fleisch und Fisch auch Milch bzw. Käse und Eier) auf Basis einer als „zellulär“ bezeichneten Landwirtschaft herzustellen.
In der Branche herrscht Aufbruchstimmung, denn inzwischen sind auch große Lebensmittelkonzerne auf den fahrenden Zug aufgesprungen und beteiligen sich mit Milliarden-Beträgen (allein 2021 waren es 1,9 Milliarden Dollar) an Unternehmen, die bereits über Know-how verfügen. Zu den Kapitalgebern gehören Microsoft-Gründer Bill Gates und Sergey Brin, der Mitbegründer von Google. Auch der in Umweltfragen engagierte Schauspieler Leonardo DiCaprio hat laut Zeitungsberichten vor zwei Jahren in ein Branchenunternehmen investiert. Längst treiben nicht bloß junge Pioniere die Entwicklung voran, sondern potente Mitspieler aus der Fleisch- und Pharmabranche. Zu Burgern und Chicken-Nuggets haben sich deshalb schon Rinderfilets gesellt. Ein Rindersteak, das preislich erschwinglich wäre, gibt es zwar noch nicht, aber das sei, so wird erwartet, nur eine Frage der Zeit.
In-vitro-Fleisch in den USA und Singapur zugelassen
Tatsache ist, dass In-vitro-Fleisch bereits von der US-amerikanischen Lebensmittelbehörde (FDA) zugelassen worden ist oder dass es in Singapur verkauft wird, dem Land, das neben Israel und den USA die größten Forschungserfolge aufweist. Bei der EU wurde bisher noch kein Antrag auf Zulassung gestellt. Europa hinkt ein wenig hinterher, aber es gibt auch hier Firmen, die die Initiative ergriffen haben, so in Dänemark und Deutschland. Herausgefunden worden ist unter anderem, dass die Herstellung von Fisch weniger energieintensiv ist, weil die Köpertemperatur dieser Tiere viel niedriger ist als etwa jene von Rindern.
Europa hinkt ein wenig hinterher, aber es gibt auch hier Firmen, die die Initiative ergriffen haben, so in Dänemark und Deutschland.
Derweilen ist eine hitzige öffentliche Debatte darüber entstanden, ob In-vitro-Lebensmitteln wirklich die Zukunft gehört und sie dazu beitragen, die vielen mit der Tierzucht verbundenen Probleme zu lösen. Die Befürworter:innen sagen: Obwohl es noch keine Studien dazu gibt, ist In-vitro-Fleisch mit großer Wahrscheinlichkeit gesundheitlich nicht bedenklich. Im Gegenteil: Es handle sich nicht um künstliches, sondern um natürliches Fleisch, das obendrein keine Krankheitserreger und keine Rückstände von Antibiotika enthält. Aus einer kleinen Gewebeprobe lassen sich bis zu 80.000 Burger herstellen, für die sonst viele Tiere gefüttert und geschlachtet werden müssten. Es gebe weit weniger Ressourcenverbrauch, weniger Ausstoß von Methan, das Tierwohl sei besser garantiert.
Bald viel Fleisch, Fisch und Käse aus dem Labor?
Dem gegenüber steht die Feststellung, dass die Umweltbilanz nicht so gut ist wie behauptet, weil die Herstellung sehr energieintensiv ist. Auch seien gesundheitliche Folgen nicht auszuschließen, das Tierwohl sei nicht garantiert, solange lebende Föten benötigt werden, der oft verwendete Begriff „clean meat“ (sauberes Fleisch) sei irreführend, und außerdem sei das Ganze noch Zukunftsmusik. Die Bedenkenträger:innen meinen, es sei weit besser, auf vegetarische Gerichte zu setzen als auf künstlich erzeugtes Fleisch. Als Gegner der Methode hat sich auch der Südtiroler Bauernbund geoutet, und die italienische Regierung hat ein Forschungsverbot verhängt (siehe SWZ 13/23, nachzulesen hier oder in der SWZapp).
Allerdings gibt es viele Zeichen, dass die Entwicklung weitergeht und nicht aufzuhalten sein dürfte, sofern noch offene Frage geklärt werden und die Produkte erschwinglich und von den Verbrauchern und Verbraucherinnen angenommen, ja gewünscht werden. Manche Fachleute schätzen, dass bis zur Mitte des laufenden Jahrhunderts bis zu 60 Prozent unseres Fleisches und Fisches, vielleicht auch unserer Eier, unserer Milch und unseres Käses aus dem Labor kommen.