Nach einer siebenstündigen Fahrt stoppt der Bus. Wir sind in Kumasi angekommen. Es ist stockdunkel – in der gesamten Stadt ist, wie so häufig, der Strom ausgefallen. Im Dunkeln folge ich Imanuel zu einem Taxi. Wir sind während der Busfahrt ins Gespräch gekommen und er hat mir angeboten, mich bis zu meiner Herberge zu begleiten. Ich muss mich auf mein vages Gefühl verlassen, dass ich ihm trauen kann. Wir fahren im Taxi durch eine verlassene Einfahrt. Links und rechts erkenne ich schattenhaft hohe Häuser, aber die Straße sieht eher wie ein Feldweg mit tiefen Schlaglöchern aus. Langsam kommt in mir der Gedanke hoch, dass ich mich vielleicht gerade in einer gefährlichen Situation befinde. Doch im Licht der Autoscheinwerfer erkenne ich schließlich ein Haus mit der gerade noch leserlichen Aufschrift „Volcom Hostel“. Hier verabschiede ich mich wortreich und erleichtert von Imanuel. Er wünscht mir viel Glück und hat eine Bitte an mich, die ihm sehr am Herzen liegt: „Versprich mir, dass du häufiger in die Kirche gehst.“ Dass jemand nicht praktizierender Katholik oder Muslim ist, ist für die Ghanaer unvorstellbar, wie ich später erfahre.
Kumasi ist die zweitgrößte Stadt Ghanas und liegt etwa 300 km im Inland. Für ein zweimonatiges Praktikum im Rahmen meines Medizinstudiums hatte ich Ghana ausgewählt, weil es eines der am stärksten entwickelten und sichersten westafrikanischen Länder ist. Ich wollte mir den Alltag in einem afrikanischen Krankenhaus ansehen, war neugierig auf exotische Erkrankungen und auf bei uns seltene Krankheitsstadien. Und natürlich war auch eine gehörige Portion Abenteuerlust mit im Spiel.
Kumasi ist für seinen Keitja-Market, den größten Markt Westafrikas, bekannt. Wer in den verzweigten Gassen dieses Markts landet, verliert schnell den Überblick. Menschenmassen drängen an einem vorbei. Verkäufer preisen lautstark ihre Waren an, sie halten einen auch mal gerne am Unterarm fest und versuchen unsanft, ihr Opfer zu ihrem Geschäft zu ziehen. Der Gestank von getrocknetem Fisch, Gosse und Abgasen ist unerträglich. Schnell muss man beiseite springen, wenn einem ein voneinem laut schreienden Händler gezogener, schwer beladener Wagen entgegenrollt – er ist so schwer, dass die Männer ihn nicht abbremsen könnten. Allzu schnell kann man so in Ghana sein Bein verlieren. Und eines ist sicher: Man will in Kumasi auf keinen Fall auf der Unfallchirurgie landen. Dort liegt man tagelang auf unbezogenen Matratzen und schmort in seinen eigenen Säften – während einer Operation fällt schon mal der Strom aus.
So schwarz sieht für mich dieses Land in den ersten Wochen aus. Noch dazu ist das Essen ungenießbar: Das Nationalgericht Fufu schmeckt für mich wie eine wässrige Suppe, gekocht mit allem, was ein altes Schaf so hergibt, kombiniert mit einer weißen, vollkommen geschmacksneutralen Substanz mit der Konsistenz von Zahnpasta. Ich empfinde die Menschen zunächst als ruppig, absolut unhöflich, reserviert und argwöhnisch. Und die Hitze drückt unbeschreiblich schwer auf meinen Kreislauf.
Nach und nach verändert sich das Land jedoch in meinen Augen. Ich finde tolle Gerichte, bei denen mir immer noch das Wasser im Munde zusammenläuft: Gegrillter Fisch, bedeckt mit Tomaten und Zwiebeln. Frittierte Jamwurzel, Yokogary (Kochbanane mit Bohnen). Der Markt verliert seinen Schrecken und wird zu einem entspannten Treiben zwischen bunten Stoffen, aufgetürmten Ingwerknollen und Erdnusscreme. Mit zwei, drei ghanaischen Floskeln wird man sofort überall ins Herz geschlossen und kommt so erst in den Genuss von echter, afrikanischer Herzlichkeit. Ich besuchte die drei Museen von Kumasi, allesamt sehr informativ über die Geschichte der Ashanti-Region und spannend erklärt von hochmotivierten Guides.
Aber so richtig lieben lerne ich Ghana erst auf den Reisen, die ich teils alleine, teils mit drei deutschen Medizinstudenten unternehme. Die Strände von Cape Coast, aber noch mehr die Strände westlich der Stadt Takoradi sind traumhaft. Palmen, heller Sand, gegrillter Hummer – hier kann man die Seele baumeln lassen. Die Hotels liegen direkt am Strand; es gibt viele sehr einfache Bungalow-Anlagen für die low-budget Urlaubskasse, aber auch einige kleine boutique-ähnliche Hotels unter ausländischer Führung, in denen es selbst dem verwöhnten Reisenden an nichts fehlt. Hier gibt es 24 Stunden lang fließendes Wasser und Strom: Der Anblick des oft nur vor sich hin blubbernden, weil wasserlosen Hahns in Kumasi ist schnell vergessen.
Ich besichtigte die zwei ehemaligen Sklavenhandel-Burgen nahe Cape Coast mit ihrer düsteren Geschichte – eine beängstigende, ergreifende Sehenswürdigkeit. Empfehlenswert ist auch die Wanderung im Kakum National Park, wo man auf dem „Canopy-Walk“ auf 20 Meter hohen Hängebrücken dem Urwald und seinen Geräuschen nahe kommt – ohne dabei die Wildnis zu zerstören.
Außerdem verbringe ich ein Wochenende am fast unberührten Bosumtwi- See nahe Kumasi. Obwohl die meisten Ghanaer frenetisch überzeugte Christen sind, ist der See für sie ein Heiligtum. Kein Motor und kein Werkzeug aus Metall dürfen mit dem Seewasser in Berührung kommen, denn so gebieten es die Naturgötter.
Um hier in einem der drei Hotels zu übernachten, müssen wir einen etwa einstündigen Fußmarsch hinlegen, denn es gibt keine befahrbare Straße. An den wenigen Lehmhütten zweier Dörfer vorbei ist dieser Spaziergang wie der Schritt in eine längst vergangene Zeit (Bild oben links). Kinder laufen aufgeregt hinter uns her und rufen „O`Bruni“, das ghanaische Wort für „Weiße“. Die Dorfbewohner mustern uns interessiert und lachen herzlich, wenn eines der Kinder frech wird und versucht, uns unsere Wasserflaschen zu entwenden. Die Kinder von Ghana sind es auch, die mir am meisten in Erinnerung bleiben werden. Ihre „O´Bruni“.
Rufe begleiten mich auch heute überall hin.
Ich besuche mit zwei anderen Praktikanten einige Male das Kinderheim der „Perfect Peace Foundation“. Das Heim befindet sich auf dem Gelände des Schrottplatzes von Kumasi. Auch wenn es mit viel Liebe geführt wird, sind doch die Mängel des Gebäudes und die Knappheit an proteinhaltigem Essen zu groß, um von einem angemessenen Ort für verwaiste oder vernachlässigte Kinder zu sprechen. Viele der 30 dort lebenden Kinder sehen aus wie Zweijährige – sind jedoch sechs oder sieben Jahre alt. Die jahrelange Mangelernährung zu der Zeit, als sie noch bei ihren Familien wohnten, lässt sich nicht rückgängig machen. Und auch wenn Mary, die herzliche, emotionale Leiterin des Heimes sich Mühe gibt –
satt werden die Kinder von dem Essen, das sie von spärlichen Spendengeldern und ihrer eigenen Rente bezahlt, nie.
Deshalb sind bei unseren Besuchen die wertvollsten Geschenke stets Bananen, Brot und natürlich Süßigkeiten. Ein heilloses Durcheinander entsteht, wenn man versucht, das Essen gerecht auszuteilen, schnell fliegen die Fäuste. In der Eile vergesse ich, eine Bananenschale abzuziehen, bevor ich die Frucht einem Jungen gebe. Aus Gier isst er die Schale mit. Erst abends, nachdem die Kinder der Reihe nach im staubigen, teils mit Schweröl vom Schrottplatz verdreckten Innenhof gewaschen werden, wird es ruhiger. Zwei Kinder auf dem Schoß, ein kleineres in afrikanischer Art auf den Rücken gebunden, drei andere an mich gekuschelt, erfahre ich noch einmal, wie anhänglich sie sind.