SWZ: Es sieht aus, als ob in der Welt nichts Börsenrelevantes passiert wäre – dennoch hat es in der letzten Woche erhebliche Korrekturen an den Börsen gegeben. Reagieren die Investoren zu empfindlich auf die verschiedenen geopolitischen Krisen? Oder stellen die Finanzmärkte fest, dass aktuelle Börsenwerte nicht mehr die schwachen Perspektiven auf wachsende Profite widerspiegeln?
Mondher Bettaieb-Loriot: Es sind weder die geopolitischen Krisen, noch zu hohe Börsenwerte daran schuld. Die Investoren sind verunsichert darüber, ob die EZB und die US-Zentralbank Fed jetzt die richtigen Dinge tun – und zwar der mangelnden Investitionsfreude der Märkte mit zunehmend unkonventionellen Mitteln, sprich mit QE (Quantitative Easing, Anm. d.R.) gegensteuern. Und ob QE überhaupt noch wirksam genug ist! Es ist nun mal so, dass 50 Prozent der Börsenbewegungen von Gefühlen bestimmt sind. Die Investoren haben lange darauf gehofft, dass die Zeiten höherer Wachstumsraten zurückkehren. Weil das aber nicht passiert, halten sich viele Unternehmen bei Investitionen zurück, und das drosselt das Wachstum. Wenn die Zinsen durch die Zentralbanken tief gehalten werden, wird die Situation zumindest nicht schlimmer. Einen nachhaltigen Anstoß können sie damit aber nicht bewirken. Dass die Aktienmärkte überbewertet wären, sehe ich nicht. Wir haben schließlich erst die Börsenwerte erreicht, die wir 2008 schon einmal hatten.
Wir können also nicht von einer Blase sprechen?
Auf keinen Fall. Es ist wichtig, diese Entwicklung nicht nach bisherigen Mustern zu bewerten. Es handelt sich primär um Ängste. Weil die Welt sich verändert hat, folgt auf eine Krise heute nicht automatisch und unmittelbar wieder Wachstum – und das schafft Unsicherheit.
Woran liegt es, dass sich die Märkte nach einer Krise nicht mehr so leicht selbst korrigieren? Die Welt hat sich mit der Globalisierung grundlegend verändert. Der Westen hat darauf gesetzt, die Emerging Markets zu entwickeln, hat dort investiert, auch um neue Märkte für die eigenen Produkte zu schaffen. Man hat aber gleichzeitig auch die Konkurrenz hochgezogen, die nun billiger produziert. Parallel dazu sind die westlichen Länder weniger konkurrenzfähig – außer in ganz spezialisierten Branchen –, weil alles überreguliert ist. Dieser Wirtschaftskrieg hat uns billigere Preise, aber auch die Disinflation beschert, also den Rückgang der Inflation, mitsamt dem Risiko, dass daraus eine Deflation wird – und die löst meist eine Abwärtsspirale aus. Die reduzierte Wettbewerbsfähigkeit verstärkt sich in Italien zudem durch die unflexiblen Arbeitsmärkte. Die Maßnahmen von Matteo Renzi lassen ja nunmehr hoffen, dass dieses Problem gelöst wird. Die schwache Wettbewerbsfähigkeit ist aber nur einer der Gründe, warum wir nicht erwarten können, dass das Zinsniveau in den kommenden Jahren wieder ansteigt.
An welche anderen Gründe denken Sie?
Abgesehen von den Arbeitslosen, die die Staatskassen belasten und keine Luft für Investitionen in Infrastrukturen erlauben, bremst die fehlende Zuversicht auch all jene, die noch Arbeit haben, in ihrer Konsumfreude. Das ist ein Teufelskreis, den es zu unterbrechen gilt. Ein weiteres Problem des europäischen Arbeitsmarktes ist die mangelnde Flexibilität und Mobilität der Menschen. Wer in seinem Land keine Zukunftsperspektiven sieht, sollte bereit sein, woandershin zu ziehen, wo Arbeit verfügbar ist. Dazu muss man natürlich auch andere europäische Sprachen sprechen.
Wenn selbst unkonventionelle Maßnahmen der Zentralbanken nicht wirklich eine Konjunktur anstoßen können, welche Aussichten haben wir dann, die jetzige Lage in den Griff zu bekommen?
Sehr vielversprechend finde ich den Vorschlag von Jean Claude Juncker, der 300 Milliarden Euro in europäische Infrastrukturprojekte investieren will. Dazu leiht sich die EU-Kommission Geld von der EZB. Das sind Mittel, die in die Taschen der Bürger gelangen, was dann wiederum die Konjunktur beflügelt. Gute Infrastrukturen wiederum machen die Unternehmen wettbewerbsfähig, auch gegenüber Amerika, das jahrelang zu wenig in Infrastruktur investiert hat. Man braucht sich nur die Stromleitungen in den USA anzusehen, die uralt sind.
Sie sagten, dass die Zinsen und ebenso die Inflation sehr niedrig bleiben werden. Das bringt doch schließlich auch Vorteile mit sich …
Natürlich, denn während ein italienisches KMU vor zwei Jahren noch 6 Prozent für einen Kredit zahlte, sind es jetzt nur noch 3,5 %. Es macht es zumindest leichter, dann zu investieren, wenn man hoffen kann, dass die Investition eine angemessene Rendite erzeugen wird. Dies zeigt, dass die EZB-Maßnahmen greifen. Das Problem ist jetzt nur, dass nicht jedes Unternehmen diese Zuversicht besitzt.
Sie betonen gerne, dass sich die älter werdende Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht auf die Wirtschaft und das Zinsniveau auswirkt.
Das ist richtig. Zum einen konsumieren ältere Menschen nicht mehr so viel wie Familien. Dies wird den Märkten in den nächsten Jahren rund sechs bis sieben Prozent des Konsums kosten. Zum anderen werden die Pensionszahlungen den Staaten in den nächsten zwanzig Jahren zwischen einem und drei Prozentpunkten der eigenen Staatsschuldenquote kosten. Dies ist nicht mehr zu stemmen. Deshalb haben die Regierungen Pensionsfonds gefördert, in die die Menschen einzahlen und auf die sie später wieder zurückgreifen können. Auch dies sind Geldmittel, die dem Konsum entzogen werden. Diese Fonds investieren ihr Geld meist in Anleihen, weil sie nur geringe Risiken eingehen dürfen. Man hat berechnet, dass Pensionsfonds in den nächsten zwanzig Jahren nach Anleihen im Wert von sieben Billionen US-Dollar verlangen werden – das sind im Jahr mehr als 200 Milliarden Euro. Auch diese hohe Nachfrage wird dazu beitragen, dass die Zinsen niedrig bleiben.
Erwarten Sie sich, dass Italien wegen seiner hohen Verschuldung an einem Schuldenschnitt nicht vorbeikommt?
Absolut nicht! Wenn die Zinsen beiseite gelassen werden, hat Italien einen ausgeglichenen Haushalt. Außerdem steht der Staatsverschuldung ein gleich hohes Vermögen des privaten Sektors gegenüber. Kein Grund zur Sorge also.
Deutschland blockiert immer noch die EZB, wenn Draghi davon spricht, auch eventuell Staatspapiere aufkaufen zu wollen. Ist das nicht kurzsichtig, wenn man bedenkt, wie abhängig die Märkte untereinander sind?
Absolut, denn wenn alle Länder rund um Deutschland unter Deflation leiden, dann werden sie auch keinen Audi oder BMW oder andere deutschen Produkte mehr kaufen. Gerade Exportländer wie Deutschland würden besonders darunter leiden. Das beobachtet man ja jetzt schon.
Würden Sie jetzt in Aktien investieren oder erwarten Sie ein weiteres Nachgeben der Börsen?
Es ist immer so gut wie unmöglich, kurzfristige Reaktionen der Börsen vorherzusagen. Wenn ich aber an die widersprüchlichen Aussagen des Mitglieds der US-amerikanischen Zentralbank, James Bullard, denke, dann erwarte ich mir, dass die Talsohle der Korrektur noch nicht erreicht ist. Denn zuerst hat Bullard angekündigt, dass die Anleihenkäufe Mitte nächsten Jahres zu Ende gehen, eine Woche später hat er das zurückgenommen, weil man den Termin doch auf 2016 verschieben will. Man erkennt daran auch, dass die Zinsen noch eine Weile sehr niedrig bleiben müssen, weil das Problem der Wettbewerbsfähigkeit noch nicht gelöst ist.
Wie würden Sie ein Investment-Portfolio heute aufbauen?
Ich würde 30 Prozent in Aktien halten, 25 Prozent in Staatsanleihen und die übrigen 55 Prozent auf Anleihen von Unternehmen und Schwellenländern aufteilen. Und in der aktuellen Lage würde ich davon absehen, solide Aktien zu verkaufen – ich würde investiert bleiben.
Welche Bedeutung messen Sie ETFs zu, wie es der DAX einer ist, die also gewisse Börsenindizes oder Branchen widerspiegeln?
Keine. Ich finde es unbedingt sinnvoll, einem Fondsmanager das Vertrauen zu geben, der die besten Aktien auswählt und die Performance der Unternehmen permanent im Auge behält.