Meran/Bozen – Um all das umzusetzen, was sie vorhat, müsste der Tag von Selena Milanovic länger als 24 Stunden sein. Die 28-Jährige ist Strategieberaterin im Bereich Gesundheitsversorgung bei Siemens Advanta Consulting, einer weltweit tätigen Beratungsfirma von Siemens, hält Reden auf Konferenzen auf der ganzen Welt und engagiert sich darüber hinaus sozial. „Manchmal sollte ich wahrscheinlich weniger Eile haben, meine Vorhaben umzusetzen. Das würde mir guttun“, sagt sie von sich selbst.
Doch einen Gang zurückschalten, das kommt für die gebürtige Meranerin nicht in Frage, ebenso wenig, ein Ziel auf später zu verschieben. Denn das wäre so ähnlich wie Aufgeben. Und Aufgeben ist für sie keine Option. Das war es noch nie.
Als lernen noch uncool war
Schon während ihrer Schulzeit gehört Milanovic zu den Schüler:innen, die gerne lernen. Es fällt schwer, der heute selbstsicher auftretenden, gesprächigen und offenen Frau zu glauben, dass sie in jener Zeit noch schüchtern war. „Ich habe viel gelesen und gelernt. Das wurde von den meisten meiner Schulfreunde nicht als cool angesehen“, sagt sie.
Die gebürtige Meranerin – ihre Eltern stammen aus Serbien – besucht die Grundschule in italienischer Sprache, die Mittelschule auf Deutsch und wechselt dann wieder an die italienische Schule. In der dritten Klasse der Oberschule verbringt sie vier Monate bei einer Gastfamilie in Deutschland. Zum ersten Mal ist sie im Ausland auf sich allein gestellt. Sie merkt, dass es ihr Spaß macht, neue Menschen, neue Sichtweisen und Lebensgewohnheiten kennenzulernen – daran hat sich bis heute nichts geändert. Nachdem sie zum ersten Mal diese „internationale Luft“ geschnuppert hat, zieht es sie immer wieder ins Ausland.
Die vierte Klasse der Oberschule verbringt sie in Irland. Das sei nur dank eines Stipendiums des Landes Südtirol möglich gewesen, hebt sie hervor. Dieses Bewusstsein und die Dankbarkeit für die Chancen, die sie erhalten hat, sich aber auch durch schulische Leistungen erarbeitet hat, kommt im Gespräch mit der SWZ immer wieder zum Vorschein. Milanovic ist eine dankbare Person, gegenüber ihren Eltern, dem Land sowie dem Staat. „Ich habe viele Chancen bekommen und möchte deshalb auch etwas zurückgeben“, sagt die 28-Jährige.
Mit 17 an die Uni
Nach dem Erasmusjahr in Irland geht sie nicht mehr an die Oberschule zurück (in Irland wird die „Maturaprüfung“ bereits in der vierten Klasse absolviert), sondern inskribiert sich an der Uni Bozen. Anders als die meisten Gleichaltrigen hat sie schon einen Weg vor Augen: Sie will später einen Job haben, der etwas mit Technik zu tun hat, am besten einen, der Technik, Biologie und Medizin verbindet. Ein passendes Studium ist schnell gefunden: Maschinenbau an der Universität Bozen.
Zu diesem Zeitpunkt ist sie erst 17 Jahre alt. Damit ist sie in den Hörsälen die Jüngste. Auch später noch findet sie sich immer wieder in Positionen und Situationen wieder, in denen alle um sie herum einige Jahre älter sind.
Das zweite Studienjahr verbringt sie in Bremen. Auf einer Karrieremesse lernt sie eine Medizintechnikfirma aus den Niederlanden kennen – und entscheidet sich prompt für ein Sommerpraktikum bei dieser. Mit einem Anruf teilt sie ihren Eltern mit, dass sie im Sommer doch nicht in Meran sein werde, sondern direkt von Bremen nach Groningen weiterfahren werde.
„Für unseren technischen Fortschritt müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Es ist effizienter, Vorgänge aus der Biologie zu studieren und die Erkenntnisse zu nutzen. Denn die Natur löst Probleme so effizient wie der Mensch es nie können wird.“
Erkenntnisse aus dem Weinberg kommen der Medizin zugute
Nach ihrer Rückkehr arbeitet sie an ihrer Bachelorarbeit. Sie studiert die Mechanik hinter der Ausbildung der Ranken von Rebpflanzen und deren Hochklettern an den Drähten entlang. Die Erkenntnisse sind für die Optimierung robotischer Hände hilfreich, erklärt sie. Deshalb wird ihre Arbeit in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht. Selena Milanovic, die Autorin, ist 20 Jahre alt.
Diese Arbeit hat ihre Leidenschaft für Biologie, Mathematik und Technik und insbesondere deren Zusammenspiel noch verstärkt. „Für unseren technischen Fortschritt müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Es ist effizienter, Vorgänge aus der Biologie zu studieren und die Erkenntnisse zu nutzen. Denn die Natur löst Probleme so effizient wie der Mensch es nie können wird.“ Deshalb nutze man etwa Erkenntnisse aus dem Flugverhalten von Bienen für die Optimierung von Drohnen.
Wenn Milanovic über ihr Fachgebiet spricht, ist die Begeisterung spürbar, ihre Augen strahlen. Teilweise wechselt sie ins Englische. Man hört beinahe, wie sich die Worte in ihrem Kopf überschlagen. Ihr Enthusiasmus wirkt ansteckend, auch wenn es sich um ein recht trockenes Fachgebiet handelt.
Doktorat an der Universität Oxford: Ein jump in the dark
Nach ihrem Bachelorstudium in Bozen entscheidet sie sich für ein Double-Degree-Masterstudium im Bereich medical engineering. Ein Jahr studiert sie in Wien, das zweite in Brno in Tschechien. Und dann schafft sie etwas, das nur sehr wenige in ihrem Lebenslauf vorweisen können: Sie wird für ihr Doktorat an der Universität Oxford aufgenommen. „Das war ein Wow-Moment. Ich konnte es kaum glauben. Gleichzeitig war es aber auch ein jump in the dark (ein Sprung ins Ungewisse, Anm. der Red.)“, erinnert sich die 28-Jährige.
In Oxford erlebte Selena Milanovic etwas, das sie bis heute prägt: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich dort gefragt, ob ich genug bin.“
In Oxford erlebt sie etwas, das sie bis heute prägt: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich dort gefragt, ob ich genug bin.“ Bis zu ihrer Zeit in Großbritannien ist es die Meranerin gewohnt, immer alles zu schaffen. Erfolge fliegen ihr – wenn auch Einsatz notwendig ist – beinahe zu. „Plötzlich war ich aber nur noch von den Besten der Besten umgeben.“
Die ersten Monate seien nicht einfach gewesen, ans Aufgeben habe sie aber nie gedacht, sagt sie. „Irgendwann nahm ich die Chance dieses Umfelds wahr: Ich war umgeben von lernwilligen Leuten, von Menschen, die Lust haben, ständig besser zu werden.“ Das, was anfangs einschüchternd wirkte, stellte sich als stimulierend heraus.
Präsentation der Studienergebnisse in Westminster
In Oxford setzt sie sich mit der Mechanik hinter den Blutflüssen im Gehirn auseinander. Dank ihrer Erkenntnisse soll die Medizin Alzheimer und Demenzerkrankungen besser verstehen. Im Gespräch mit Milanovic fällt immer wieder auf: Sie schafft es, komplexeste Prozesse so zu erklären, dass sie auch für Laien verständlich sind. Genau diese Fähigkeit war und ist immer wieder bei ihren Präsentationen rund um den Globus gefordert.
Etwa als sie die Erkenntnisse ihrer Doktorarbeit im britischen Parlament vorstellen durfte. Ausgewählte Doktorand:innen der Universität Oxford, erklärt Milanovic, dürfen ihre Studienergebnisse in Westminster präsentieren. Sie selbst war eine davon. Anschließend war sie einige Monate lang Teil der Forschungsgruppe, die die britischen Parlamentarier:innen in Sachen Corona beraten hat.
„Ich möchte früher oder später auch in Italien auf nationaler Ebene etwas bewegen, denn ich möchte meinem Land etwas zurückgeben.“
Seither hat sie auf zahlreichen weiteren Kongressen gesprochen, u.a. in Saudi-Arabien und Pakistan. Menschen aus ihrem Umfeld attestieren ihr ausgezeichnete Präsentationskompetenzen. „Ich möchte nicht nur forschen. Fortschritte erreichen wir nur, indem Leader aus der Politik, der Industrie und Forschung zusammenarbeiten.“ Und genau das macht sie in ihrem derzeitigen Job.
Sie ist strategy consultant bei Siemens Advanta Consulting und bietet Strategieberatung im Bereich der Gesundheitsversorgung an. Ihre Kund:innen sind beispielsweise Regierungen, die eine Strategie in der Gesundheitsversorgung ausarbeiten und etwa neue Sanitätskarten einführen wollen, oder Pharmaunternehmen, die ihre Produktion effizienter gestalten wollen.
Zweimal schafft sie es auf die Top-30-Under-30-Liste von Forbes
Neben ihrem Job bei der Firma von Siemens engagiert sie sich als global shaper des World Economic Forum (WEF) sozial. Beispielsweise hält sie PC-Kurse für andere oder versucht junge Mädchen für MINT-Fächer zu begeistern.
Ihr soziales Engagement war, neben ihrer Forschung und ihrer Reichweite, die sie mithilfe der Konferenzen hat, Mitgrund dafür, dass sie es im vergangenen Jahr auf die Top-30-Under-30-Liste von Forbes geschafft hat. Und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal: zunächst auf jene von Forbes Italia und vor wenigen Monaten noch einmal auf jene von Forbes Deutschland.
Die Preisverleihung von Forbes Italia war für Milanovic, die derzeit in München lebt, eine Chance, sich in Italien ein Netzwerk aufzubauen. „Ich möchte früher oder später auch in Italien auf nationaler Ebene etwas bewegen, denn ich möchte meinem Land etwas zurückgeben“, sagt Milanovic. Vor allem den Leuten, die unter weniger glücklichen Umständen leben.
Viele Jahre sei sie auf der Suche nach einem Weg gewesen, wie sie einen footprint, einen Fußabdruck, hinterlassen kann, bis sie ihn mit der Medizintechnologie und ihrem Ziel, die Erkenntnisse daraus so vielen Leuten wie möglich zugänglich zu machen, gefunden hat. „Ich liebe dieses Gefühl, dass ich etwas schaffen und hinterlassen kann. Das treibt mich an.“
Und wie geht es weiter?
Zeit für sich selbst hat die 28-Jährige wenig. Neben ihrem Job bei Siemens Advanta Consulting, ihrem Engagement als global shaper des WEF und den Konferenzen, die sie besucht und auf die sie sich vorbereiten muss, bleibt wenig Zeit für Hobbys. Wenn sie dann doch ein paar Stunden findet, ist sie gerne im Freien, wie sie sagt, geht wandern, klettern, oder skifahren.
Und was sind ihre nächsten Ziele? Die Arbeit mit den drei verticals, also Leadern aus Politik, Wissenschaft und Industrie, möchte sie noch verstärken, sagt Milanovic. Wie genau, weiß sie zwar noch nicht, aber stillsitzen kommt nicht infrage. „Mit einer Persönlichkeit wie meiner ist man nie vollständig irgendwo angekommen.“
DIE SERIE In der Serie „Jung und hungrig“ stellt die SWZ junge Menschen in und aus Südtirol mit den verschiedensten Lebensläufen vor. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie sind jung und hungrig nach Erfolg. Alle bisher erschienenen Artikel aus der Reihe finden Sie hier.