SWZ: Herr Prof. Malik, Sie sind nach wie vor der Meinung, dass die eigentliche große Krise noch vor uns liegt?
Fredmund Malik: Ja, die großen Herausforderungen liegen noch vor uns. Denn Regierungen, Währungsfonds, Notenbanken haben bisher zu wenig oder das Falsche getan. Dabei meine ich nicht irgendeine Krise, sondern die weltweite gesellschaftliche Umwandlung, die ich die „Große Transformation 21“ nenne. Erstmals darüber geschrieben habe ich in den frühen 1990er-Jahren. Es ist der Übergang von der bisherigen alten Welt zu einer neuen Welt und Weltordnung. Die vielen heutigen Krisen in Politik, Wirtschaft und Finanzen hängen alle zusammen, sie gehören zu dieser weltweiten Transformation und können am besten verstanden werden als die Geburtswehen dieser neuen Welt (s. auch SWZ 28/13, Anm. d. R.).
Ist Pessimismus deshalb angesagt, damit die Menschen ja nicht zu früh Licht am Ende des Tunnels sehen, noch bevor einschneidende Strukturreformen durchgezogen werden?
Das ist eine sehr gute Frage, mit der ich ein Missverständnis aufklären kann. Dazu ein Beispiel: Wenn im Winter nach langen Schneefällen und starkem Wind die Experten vor großer Lawinengefahr warnen, so werden sie umso eindringlicher und öfter warnen, je mehr sie annehmen müssen, dass unerfahrene Tourengeher vor lauter Freude leichtsinnig werden und sich in Gefahr begeben, wenn das Wetter wieder besser wird, weil sie von Lawinen zu wenig verstehen. Mit ihrem eigenen Pessimismus oder Optimismus hat das nichts zu tun, sondern mit der Stimmung von anderen, die ihren Selbsttäuschungen erliegen können.
Den Lawinenexperten geht es um die objektive Beurteilung der gegebenen Lage. Genauso ist es mit der Beurteilung der Wirtschafts- und Gesellschaftslage. Zu dieser objektiven Lagebeurteilung gehört aber auch die psychologische Stimmungslage der Menschen. Die Stimmung in den Medien, besonders in den USA, aber auch großer Teile Europas sowie der Bankenberater war in den letzten zwölf Monaten so positiv wie selten zuvor. Die Stimmungsindikatoren haben historische Höchststände verzeichnet, worüber in vielen Medien berichtet wurde. Dies allein ist schon ein Warnsignal ersten Ranges. Die wirklichen Tatsachen in der realen Wirtschaft sind aber leider schlechter, und nicht besser geworden.
Sie sagen, es gibt längst neue Lösungen für den Umgang mit solchen Wirtschaftskrisen, wie sie auch Südtirol erreicht hat. Welche sind das?
Man braucht nicht auf Krisen zu warten, um innovative Lösungen anzuwenden. Ein erfolgreiches Bespiel für das weltweit immer wichtiger werdende Prinzip der Vernetzung ist der Super Dolomiti Skipass. Damit ist das größte Schigebiet der Welt entstanden und die innovative Nutzung eines enormen Potenzials, das früher brachlag. Als man damit im Jahre 1974 begonnen hat, haben sich die meisten Schigebiete im Alpenraum bis aufs Messer bekämpft, statt zu kooperieren.
Die Vernetzung von vorher getrennten Bereichen ist aber nur eine von vielen innovativen Methoden, die wir übrigens von der Natur abschauen können, wo das hervorragend funktioniert. Die Wissenschaft dafür heißt Bionik.
Warum wenden die Menschen diese Vernetzungsmethoden dann nicht an?
Sie werden immer öfter angewendet, bisher bereits rund 700-mal – mit zum Teil von den Anwendern als sensationell bezeichneten Erfolgen. Anwendungen gibt es zum Bespiel in Firmen, für Städte, Regionen und Krankenhäuser, im Energiesektor, für Innovations-Cluster und für viele weitere Organisationen. Ein exzellentes Beispiel ist die deutsche Stadt Fürth in Bayern. Von über 50 Millionen Euro Schulden im Juli 2010 ist die Stadt mithilfe solcher Methoden inzwischen nachhaltig auf 5 Millionen heruntergekommen. Im Bayerischen Rundfunk wurde darüber kürzlich unter dem Titel „Das ‚Wunder‘ von Fürth“ berichtet.
In der Wirtschaft werden mit diesen Methoden regelmäßig 2-stellige Ergebnisverbesserungen erzielt, wie etwa in einem der großen Energiekonzerne Deutschlands. Aber auch kleine Firmen können davon profitieren.
Sie äußern sich sehr kritisch gegenüber den Universitäten. Warum?
Ja, aber ich beziehe mich dabei nur auf mein eigenes Fach – Ökonomie und Management.
Ich finde es – höflich gesagt – bemerkenswert, dass eine der größten Finanz-und Wirtschaftskrisen in der Geschichte heraufziehen konnte, ohne dass die Ökonomen diese rechtzeitig entdeckten.
Die größte Fehlentwicklung haben wir leider in einigen Kernbereichen der Betriebswirtschaftslehre. An den Business Schools Europas hat man unkritisch die amerikanischen Irrlehren nachgebetet und damit ein Management und eine Gouvernance verbreitet, die zu den Hauptursachen für die heutige Finanzkrise zählen. Man kann das aber andererseits zum Glück auch sehr schnell ändern.
Worin besteht der große Wandel in den Organisationen konkret? Worauf müssen wir uns einstellen?
Unter anderem entsteht die erwähnte „neue Welt“ wegen der enormen Fortschritte in vielen Wissenschaften, vor allem in den Biowissenschaften und in der Informatik. Dies ermöglicht ein neues Funktionieren von Organisationen auf einer höheren Effizienzebene. Die meisten Organisationen werden sich daher in den kommenden Jahren neu aufstellen – auch die kleineren.
Eine der erfolgreichsten Methoden ermöglicht eine Strategie der perfekten Spezialisierung, so dass man eine Alleinstellung im Markt aufbauen kann, so wie ja auch Lebewesen hochspezialisiert sind.
Dazu kommt, dass man sich nach dem Muster von lebendigen Organismen organisieren wird. Wir wissen heute, wie man das macht. Dadurch werden Organisationen um Faktoren leistungsfähiger, schneller, produktiver und flexibler. Mit neuer Informationstechnologie kann man durch Frühwarnsysteme Gefahren und Chancen viel schneller entdecken. Die explosiv steigende, weltweite Komplexität wird man als Chance erkennen und als Rohstoff für intelligentere Lösungen nützen.
Dies führt auch zu grundlegenden Änderungen in den Lehrplänen von Schulen und Universitäten. Das vernetzte Denken wird mit neuen Lehrmethoden zum Standard schon für die Grundschulen, wie es andernorts bereits geschieht.
In Ihrem neuen Buch „Wenn Grenzen keine sind. Management und Bergsteigen“, das in Kürze erscheint, verbinden Sie diese beiden Disziplinen. Wo liegen die Gemeinsamkeiten?
Es ist ein Buch über einige meiner Erfahrungen in beiden Gebieten. Man muss aber kein Alpinist sein, um ein guter Manager zu sein, und umgekehrt sind nur wenige Führungskräfte auch gute Bergsteiger.
Viele Herausforderungen im Management sind aber jenen im Alpinismus sehr ähnlich. Ich hatte das Glück, beides erleben zu können. Besonders nahe kommen sich diese beiden Gebiete dort, wo Menschen Schwierigkeiten nicht als Grenzen akzeptiert haben, sondern als eine Chance, über diese hinauszugehen. Im Management sind das zum Beispiel technologische Innovationen, und im Bergsteigen ist es die Eröffnung von Schwierigkeitsgraden, die man bis dahin für unüberwindbar gehalten hat. Gerade in Südtirol ist dazu weltweit einzigartige alpinistische Geschichte geschrieben worden.
Sie sagen, Drei- und Fünfjahrespläne in den Unternehmungen haben ausgedient, weil sich Wandel immer schneller vollzieht. Wie können Manager dann ihre Strategie definieren?
Für die richtige Strategie muss man in offenen Zeithorizonten denken. Die strategische Schlüsselfrage muss lauten: Wie muss ich jetzt handeln, damit das, was ich tue, so lange richtig ist, bis die Umstände sich grundlegend ändern.
Immer mehr Firmen müssen viel schneller und flexibler sein, als es mit Dreijahresplänen möglich ist. Ihre Strategiefrage lautet: Wie muss ich das Geschäft einrichten, damit ich schneller bin als jeder Konkurrent?
Für andere Firmen wiederum sind fünf Jahre viel zu kurz, denn sie müssen längere Zeithorizonte überblicken – zehn Jahre und mehr, weil ihre Produktentwicklung lange dauert und weil ihre Investitionen sie so lange binden – zum Beispiel im Tourismus, bei Bergbahnen und im Wein- und Obstbau. Viele Firmen müssen sogar beides sein – einerseits immer schneller und gleichzeitig richtig aufgestellt auf die lange Sicht. Die rigiden Planungssysteme von heute leisten das nicht.
Sie sind kein Freund von hoher Fremdfinanzierung. Hat sich die Lage etwas gebessert, jetzt wo Unternehmer zweimal überlegen, bevor sie investieren, und Banken dreimal hinsehen, bevor sie einen Kredit gewähren? Es gab ja auch eine gewisse Marktbereinigung …
In der Wirtschaft ist die Lage besser geworden. Dafür hat sie sich aber im Staat und bei vielen Kommunen zum Teil dramatisch verschlechtert. Die Unternehmer sind jedoch vorsichtig geworden mit der Aufnahme von Krediten, denn viele haben inzwischen die unerbittliche Schuldenmechanik und ihre enormen Risiken begriffen. Lieber wächst man etwas langsamer und dafür gesünder, als sich zu verschulden. Es gibt also eine Rückkehr zu soliden Maßstäben des Wirtschaftens. Im Vergleich zu den Gesamtsummen, die im Finanzsystem weiterhin täglich um den Globus geschoben werden, ist das aber erst ein zögerlicher Anfang.
Sie sagen, die heutige Form der Demokratie habe ihre Problemlösungskraft eingebüßt und man müsse sie tiefgreifend umbauen. Welche Alternative schwebt ihnen vor?
Die heutige Praxis der Demokratie kommt immer häufiger an die Grenzen der realen Komplexität der heutigen Welt. Lösungen erfordern heute weit mehr Bürgerbeteiligung, als die herkömmlichen Methoden der Demokratie dies bewältigen können. Für die Probleme von heute braucht man Lösungen mit dem größten Maximalkonsens statt Minimalkompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Vor allem muss die Demokratie auch viel schneller werden, denn sie wird vom Wandel laufend überholt, weil sie sich selbst blockiert und lähmt.
Vor zwei Jahren haben Sie davor gewarnt, dass wir vor einem Kollaps der Finanzmärkte stehen – die Aktienmärkte sind stattdessen kräftig gewachsen. Ist der Crash nun überfällig?
Die Aktienmärkte sind nur noch mit einer gewaltigen Neuverschuldung gewachsen. Zu den Finanzmärkten gehören aber auch die Rohstoffmärkte und die Edelmetalle sowie die Immobilienmärkte. Überall sind die Preise zum Teil bereits dramatisch zurückgegangen – Gold um 40 Prozent, Silber um 60, Kaffee um 70 Prozent. Südeuropäische und irische Immobilien sind zum Teil um 80 Prozent gefallen und viele finden überhaupt keine Käufer mehr.
Ein Rückgang auch der Aktienmärkte ist überfällig und Crashes sind wahrscheinlich. Aber das Wichtigste ist die Gesamtbeurteilung. Diese lautet: Deflation! Die meisten Ökonomen halten diese noch immer für unmöglich. Dabei ist sie längst in vollem Gange.
Der „neoliberale Egoismus“, wie Sie ihn nennen, hat ausgedient – der Gemeinsinn wird in Zukunft an Wert gewinnen. Steht uns eine Revolution bevor, der den Kapitalismus aus den Angeln hebt?
Der heutige Kapitalismus bringt sich selber um, da braucht es keine Revolution, denn er ist eine verhängnisvolle Fehlentwicklung, die mit einer echten Marktwirtschaft fast nichts zu tun hat.
Wir brauchen eine grundlegende Erneuerung der unternehmerischen Markwirtschaft. Und wir brauchen auch Kapital, im Sinne von Realkapital. Das sind Fabriken, Material, Maschinen, Wissen und Patente. Damit hat der neoliberale Kapitalismus so gut wie nichts zu tun, denn es geht dort fast ausschließlich um Geld und nicht um reale Werte. Es ist eine weitgehend künstliche Welt, in der keine wirkliche Wertschöpfung entsteht.
Info
Fredmund Malik ist an der Universität St. Gallen habilitierter Professor für Unternehmensführung, international ausgezeichneter Managementexperte sowie Gründer und Chairman von Malik St. Gallen. Mit rund 200 Mitarbeitern, internationalen Niederlassungen und Partnerschaftsnetzwerken für Kybernetik und Bionik ist Malik St. Gallen eine der renommiertesten Wissensorganisationen für systemkybernetische Managementsystemlösung und bildet jährlich Tausende von Führungskräften weiter oder berät sie in der Anwendung kybernetischer Managementlösungen. Malik St. Gallen hat Tools entwickelt, die Malik Management Systeme®, die für das zuverlässige Funktionieren von Organisationen eingesetzt werden.