Südtirol ist ein schönes und ein reiches Land. Immer wieder bescheinigen uns Statistiken und Umfragen, dass es uns gut geht. Auch im Bereich des Klimaschutzes sind wir ganz vorne dran. Es gibt eine Klimalandstrategie. Die Bevölkerung verfügt über Sensibilität in Fragen der Umwelt und bei sozialen Themen. Das „Wann ist genug?“ wird laut und deutlich diskutiert. Alles in allem beste Voraussetzungen, um dem globalen Klimawandel entgegenzutreten. Oder?
Gleichzeitig ist Südtirol ist ein Land unter vielen. Südtirol besitzt 7.400 km² der Erdoberfläche, die restlichen 510.092.600 km² können wir nur bedingt beeinflussen. Es liegt deshalb nahe, sich ausschließlich auf unsere Wirklichkeit zu konzentrieren. Aber die Welt ist ein System mit Menschen, die verbunden sind. Jeder kennt jeden und jede über 6,6 Ecken. Dies ist das unglaubliche Resultat verschiedener Gesellschaftsstudien. Die Globalisierung der Wirtschaft und die der Kommunikation hat diese Vernetzung in den vergangenen Jahren deutlich gemacht. Aus diesem Grund, weil wir uns nicht nur um uns kümmern können und dürfen, sollten wir uns einige Fragen etwas näher anschauen.
Laut Klimahausagentur erzeugt jeder von uns Südtirolern 4,2 Tonnen CO² im Jahr. Ist das gut oder schlecht? Im Verhältnis zu anderen Europäern ist es gut. Ein deutscher Bundesbürger erzeugt im Schnitt zehn Tonnen, ein Italiener 7,2 Tonnen. Aber wieso? Wo liegt der Unterschied? Sind die Deut-schen nicht Umweltmeister und die Italiener tun sich eher schwer damit? Die Zahlen erzählen nicht die Gesamtumstände. So ist es in Italien beispielsweise deutlich wärmer als in Deutschland und die durch das Heizen verursachten Emissionen sind deutlich geringer als im Norden. Und Südtirol? Auch Südti-rol hat mit seiner Wasserkraft, mit den kurzen Arbeitswegen und vielem mehr einfach sehr gute Voraussetzungen. Würde ein Südtiroler nach Deutschland umziehen, dann würde sich auch sein CO²-Fußabdruck deutlich erhöhen.
Paris war ein Meilenstein, und die Richtung stimmt. Laut den meisten Experten sind die getroffenen Vereinbarungen aber immer noch zu wenig.
Zurzeit verbraucht die gesamte Menschheit jährlich 35 Mrd. Tonnen CO² pro Jahr. Sollten wir nichts gegen den Anstieg tun, erreicht dieser Wert im Jahr 2050 65 Mrd. Tonnen. Dies würde wiederum eine Welt bedeuten, die rund sechs Grad Celsius wärmer als jetzt wäre – eine Horrorvorstellung. Nach den Berechnungen der Wissenschaft würden durch das großflächige Abschmelzen der Polkappen ganze Inselstaaten verschwinden und das globale Klima sich in einer Art und Weise ändern, dass abrupte Eiszeiten durch Verschiebungen von Meeresströmungen möglich werden.
Das Klimaabkommen von Paris soll dem konkret entgegenwirken. In Paris wurden deshalb zwei Dinge beschlossen. Erstens konkrete Zusagen zur Reduzierung der CO²- Emissionen. Mit diesen Zusagen erreicht man aber leider nur die Eingrenzung des Temperaturanstieges auf vier Grad Celsius. Aber auch die Auswirkungen mit vier Grad wären enorm. Schauen wir uns Südtirol an, dann könnten folgende Szenarien im Jahr 2050 aufgrund der Erderwärmung Wirklichkeit sein:
Wintertourismus: So, wie wir ihn kennen, gibt es ihn nicht mehr. Es gibt kaum ein Skigebiet, das überlebt. Auch Gletschergebiete gibt es kaum mehr. Die besten Technologien verschaffen höchstens Zeit. Die Frage ist, was uns dieser Einsatz wert ist. Nur noch eine kleine Elite fährt Ski.
Landwirtschaft: Schon jetzt beginnt die Blütezeit in Südtirol um zwei bis drei Wochen früher Große Teile der heimischen Wälder werden 2050 den landwirtschaftlichen Gründen Platz gemacht haben, denn wir müssen mit unseren Äpfeln & Co. höher hinaus. Die Temperaturverschiebungen, speziell im Winter, stellen die Kulturlandschaften vor neue Herausforderungen. Wenn es im Winter nicht mehr richtig kalt wird, überleben Schädlinge und Parasiten.
Sommertourismus: Die Berggebiete profitieren im Sommer, die Tallagen werden sich neu orientieren müssen.
Handel und Handwerk: Beide hängen eng mit dem Tourismus zusammen und werden entsprechend in Mitleidenschaft gezogen.
Verarbeitendes Gewerbe: Die bestehenden Unternehmen arbeiten gut bis sehr gut und sind international gut aufgestellt. Der Export wird daher (je nach Branche) unabhängiger sein von den lokalen Veränderungen und sogar in seiner Wichtigkeit für den Gesamtwohlstand Südtirols noch zunehmen. Das heißt aber auch, dass wir noch abhängiger von internationalen Ereignissen sind. Angesichts solcher Szenarien hat sich Paris zum Zweiten ein weiteres Ziel gesetzt: Die Begrenzung auf ein Plus von zwei bzw. 1,5 Grad Celsius. Nachdem es aber dafür keine konkreten Umsetzungsstrategien gibt, wurde dies als sogenannte Zielvorgabe definiert. Mit einer „ambition gap“, einer Ambitionslücke, die es zu füllen gilt. Doch wie soll das gehen?
Jeder, der glaubt, mit der Reduktion unserer Emissionen würde die Zielvorgabe erreicht, dem sei ein einfaches Rechenbeispiel vor Augen geführt. Zurzeit haben wir in Europa einen Durchschnittswert des CO²-Ausstoßes pro Einwohner von 9 Tonnen pro Jahr. Um das Zweigradziel bis 2050 alleine über Reduktion der Emissionen zu erreichen, müsste dieser Wert auf eine Tonne pro Jahr pro Einwohner sinken. Das ist unmöglich ohne einen sehr schmerzhaften Wohlstands-Einbruch. Auch in Südtirol müssten wir unseren Ausstoß um 75 Prozent senken.
Aus diesem Grund erscheint eine andere Strategie geeigneter, die Ambitionslücke zu schließen: die Kompensation. Eine Kompensation ist, vereinfacht gesagt, die Investition in ein Projekt, welches entweder CO² der Atmosphäre entzieht oder CO² gar nicht entstehen lässt, indem fossile mit erneuerbarer Energie ausgetauscht wird.
Kein Satz könnte falscher sein als dieser. Von einem Freikauf kann überhaupt nicht die Rede sein. Sogar wenn ein Unternehmen keinerlei Reduktion betreibt, aber all seine CO²-Emissionen mittels hochwertiger Klimaschutzprojekte kompensiert, leistet er für das Weltklima mehr als ein Unternehmen, dass „nur“ reduziert. Radikale Reduktion ist sicherlich der Königsweg hin zur Klimaneutralität. Aber sie hat ihre Grenzen und dauert, zudem sind viele gewerbliche Emissionen auf Dauer unvermeidbar. Reduktion ist wichtig für die Kos-tenseite, für die Sensibilisierung und für die Bewusstseinsbildung. Zusätzliche Kompensation ist entscheidend für die Senkung des weltweiten Gesamt-CO²-Ausstoßes.
Damit eine Kompensation wirklich zu einer Veränderung führt, muss sie einem hohen Standard entsprechen. Der „Gold Standard“ ist einer der angesehensten Standards, wenn es um Klimaschutzprojekte geht. Die Messlatte für Klimaschutzprojekte liegt dabei durch besonders strenge Zertifizierungsrichtlinien für Klimaschutzprojekte sehr hoch. Der Gold Standard ist Frucht einer Zusammenarbeit von über 40 Organisationen zum Thema, darunter auch der World Wide Fund for Nature (WWF).
Investitionen in Klimaschutzprojekte müssten schon rein aus ethischen Gründen eine Selbstverständlichkeit sein. Dahinter steht die Frage, wieso wir in der westlichen Welt zu so einem Wohlstand gelangen konnten. Produkte sind bei uns zu einem Spottpreis zu erstehen, während sie in den Ländern, in denen sie produziert wurden, verhältnismäßig sehr teuer sind. Dort werden Menschen und Ressourcen ausgebeutet, hier sind die Produkte rund um die Uhr verfügbar. Allein deshalb wäre es an der Zeit, etwas konkret zurückzugeben – auch über solidarische Unterstützung wenn es um Klimaschutz geht.
Ein Punkt, der in der Klimadebatte leider oft vergessen wird, ist die Tatsache, dass Migration und Klima sehr eng zusammenhängen. Sollte es in Südtirol um einige Grad wärmer werden, wird es nicht einfach, aber wir können zuversichtlich sein, dass wir es irgendwie doch hinkriegen würden, ohne unsere Heimat verlassen zu müssen. Aber was ist mit Gebieten auf dieser Erde, die jetzt schon am Rande ihrer Existenz operieren? Was ist mit den weiten Teilen Afrikas, wo Hungersnöte, Dürren und Wetterkatastrophen jährlich zunehmen? Gleichzeitig wird der größte Bevölkerungszuwachs auf der Welt für Afrika prognostiziert. Dort leben zurzeit 1,2 Milliarden Menschen, und bis zum Ende des Jahrhunderts werden es vier Milliarden sein. Haben alle Menschen dort eine Chance zu leben, wo sie geboren wurden? Oder machen Sie sich auf den Weg in eine bessere Zukunft? Wohin? Wir beginnen zu ahnen, welche Probleme und Herausforderungen die Migration im großen Stil mit sich bringen könnte. Derzeit muss Europa „nur“ mit ca. 1 Mio. Flüchtlingen fertig werden und gerät jetzt schon in soziale Schieflage. Was, wenn es zehnmal oder hundertmal mehr werden?
Den Menschen vor Ort eine Grundlage für ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, muss unser aller Ziel sein. Klimakompensation ermöglicht beides: das Klima zu retten und den Menschen vor Ort ein besseres Leben zu ermöglichen. Und es würde auch die Gerechtigkeitsfrage beantworten: Dass wir in unserer sogenannten „ersten Welt“ in solch einem Wohlstand leben, hat entscheidend damit zu tun, dass uns die „dritte Welt“ Rohstoffe und andere Ressourcen billig zur Verfügung stellt. Es müsste unser aller ethischer Anspruch sein, diesen Menschen mit unserem Geld ein besseres, eigenständiges Leben zu ermöglichen.
Wir brauchen Zeit, und zwar einige Jahrzehnte. Kompensationen sind ein Mittel, um uns Zeit zu kaufen. Zeit, um Bewusstsein zu schaffen und Technologien hervorzubringen, die es uns ermöglichen, anders auf diesem Planeten zu leben. Mit anderen Ressourcen, mit anderen Lebensstilen, aber nicht mit weniger Wohlstand. Dazu müssen wir allen Menschen auf diesem kleinen Planeten die Möglichkeit geben, Wohlstand, Bildung und Sinn in ihrem Tun zu erreichen. Klimaschutzprojekte sind so eine Möglichkeit. Packen wir es an!
Zum Autor: Klaus Egger ist Mitarbeiter des Terra Institutes in Brixen und koordiniert das „Klimaneutralitätsbündnis 2025 – Region Südtirol“, bei dem sich Unternehmen in Österreich und Italien freiwillig der Herausforderung stellen, klimaneutral zu werden. Informationen zur Initiative: www.klimaneutralitaetsbuendnis2025.com