Als ich in den 1960er-Jahren die Volksschule besucht habe, gab es noch nicht so viel Verkehr. Trotzdem mussten wir uns von Eltern und Lehrern immer und immer wieder die Grundregel für unser Verhalten beim Überqueren einer Straße anhören, bis wir sie verinnerlicht hatten: an den Straßenrand treten, nach links und rechts schauen und nur dann rasch über die Fahrbahn auf die andere Seite wechseln, wenn kein Auto in Sicht ist oder wenn der Fahrer anhält. Für das Gehen auf der Straße galt folgendes Gebot: immer so weit wie möglich am Rand gehen, und zwar gegen die Fahrtrichtung der Autos, also auf der linken Seite. Auf diese Weise hat man die Fahrzeuge im Blick, die einem entgegenkommen, und man kann reagieren. Was von hinten kommt, das sieht man nicht! Und: Wenn es dunkel ist, nie ohne Taschenlampe gehen, denn Autofahrer können Fußgänger, von denen keine Lichtquelle ausgeht, insbesondere bei Gegenverkehr und damit Gegenlicht schwer ausmachen.
Die gleichen Vorschriften galten für uns auch auf Zebrastreifen: immer zuerst schauen und dann gehen. „Du hast“, pflegten meine Eltern zu sagen, „zwar Vorrang, aber das nützt dir wenig, denn du bist immer schwächer als das Auto, das da vielleicht daherkommt. Was nützt es dir, im Recht zu sein, wenn du überfahren wirst?“
Bis heute habe ich das Gefühl, unter Beachtung dieser Regeln als Fußgänger sicher unterwegs zu sein, und wenn ich lese oder höre, dass jemand beim Überqueren einer Straße überfahren worden ist, denke ich mir oft: das hätte mir nicht passieren können. Mir ist bewusst, dass das eine trügerische Gewissheit ist, da es in der Praxis unzählige Sondersituationen gibt, gegen die niemand gewappnet ist. Man kann es eilig haben, in Gedanken versunken sein, abgelenkt werden, einem Raser zum Opfer fallen oder von einem Betrunkenen auf dem Gehsteig überfahren werden. In der Regel sind es die Autofahrer, die nicht die nötige Vorsicht und Umsicht walten lassen, wobei es dafür Erklärungen gibt, wenn auch keine wirkliche Entschuldigung – vom Zorn nach einem Streit über die Übermüdung nach einem langen Arbeitstag bis zur Ablenkung durch eine attraktive Radfahrerin auf dem Radweg neben der Straße.
Allerdings – und damit wären wir wieder beim schwächsten Glied unter den Verkehrsteilnehmern – sind auch Fußgänger zuweilen einfach unvorsichtig (diese Aussage ist aber allgemein und bezieht sich auf keinen der einleitend genannten Unfälle) oder gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sich die Autofahrer an die Regeln halten. Und die Kinder werden diesbezüglich leider zu sehr verwöhnt. Wer vor Schulbeginn und nach Unterrichtsschluss durch größere Ortschaften fährt, weiß, wovon ich spreche. Es ist ja gut, dass es die „nonni vigili“ gibt, die Rentner, die den Schülern über die Straße helfen. Aber die Art und Weise, wie manche von ihnen dies tun, ist schlechte Verkehrserziehung. Kaum ist ein Kind in Sicht, springt der „nonno“, der eben noch scheinbar unbeteiligt am Straßenrand stand, auf den Zebrastreifen und zwingt die Autofahrer zu einem abrupten Stopp, und die Schüler rennen – ohne auch nur kurz anhalten zu müssen – über die Straße. Wenn sie das bei anderen Gelegenheiten genauso tun, kann dies ins Auge gehen, auch wenn das Recht auf ihrer Seite ist.
Die häufigen Unfälle der letzten Zeit sind Auslöser eines neuen Aktionismus. Landesrat Florian Mussner, der für die Straßen zuständig ist, hat die verstärkte Installation von Blinkwarnsystemen angekündigt, welche die Autofahrer warnen, wenn jemand einen Zebrastreifen betritt. Ein diesbezüglicher Test im Überetsch soll positive Ergebnisse gezeitigt haben. Allerdings ist zu befürchten, dass die Kosten hoch sind, die Sicherheit aber nicht wirklich verbessert wird. Bewusstseinsbildung durch Verkehrserziehung (sprich: zuerst schauen und dann gehen) wäre vermutlich billiger und wirksamer. Es ist zu begrüßen, dass es Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt, dass Autofahrer anhalten müssen, wenn jemand einen Zebrastreifen betritt, dass Alkoholsünder mit saftigen Strafen rechnen müssen, denn viele Unfälle sind auf die Fahrzeuglenker zurückzuführen. Aber alle Regeln für Autofahrer dürfen Fußgänger nicht sorglos machen, denn sie sind die potenziellen Opfer, denen nicht mehr dadurch geholfen werden kann, dass der Schuldige wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wird.
In manchen Entwicklungs- und Schwellenländern herrscht auf den Straßen das Recht des Stärkeren. Bei uns gibt es gottlob eine Straßenverkehrsordnung mit klaren Rechten und Pflichten. Nur: Wer als Fußgänger in der Praxis darauf pocht, lebt gefährlich, und ich staune oft, wie unbekümmert Mütter den Kinderwagen auf den Zebrastreifen schieben. Tausend Mal probiert, tausend Male nix passiert? Aber es gibt auch das tausend und erste Mal. Nein: Ich vergewissere mich auch bei grüner Fußgängerampel, ob alle Autofahrer überrissen haben, dass sie halten müssen, bevor ich als Erster auf die Fahrbahn trete. Am meisten vertraue ich mir selbst.