SWZ: Die neue Regierung ist mittlerweile einige Wochen im Amt. Welches Zwischenurteil fällen Sie?
Peter Gliera: Man muss der Regierung 100 Tage geben. Die gute Meloni bemüht sich zurzeit, wobei es von einigen Mitarbeitern bereits gewisse Entgleisungen gab. Aber wenn sie gewisse Prinzipien einhält und sich gegenüber der EU konstruktiv verhält, dann kann es so schlimm nicht werden.
Häufig werden bei einem Regierungswechsel in Italien früher getroffene Entscheidungen widerrufen oder abgeändert, was für Unmut sorgt und bestimmte Entwicklungen bremst. Erachten Sie die Ankündigungen der Regierung in den unterschiedlichsten Bereichen als positiv oder wird etwas kaputtgemacht, was gut funktioniert?
Das müssen Sie die Kollegen der anderen Verbände fragen, denn wir sind es sowieso gewohnt, dass Gesetze ständig geändert oder zurückgenommen werden. Positive Gesetze etwa, die Hilfen für Unternehmen bedeuten, werden in Italien seit vielen Jahren einfach boykottiert – Beispiel ACE, eine Begünstigung, wenn ein Unternehmen die Gewinne thesauriert anstatt sie auszuschütten: Diese Maßnahme bringt erst nach drei bis vier Jahren etwas, sobald es um viele tausend Euro an eingesparten Steuern geht, sie wurde aber ständig geändert, sodass man immer wieder bei null anfangen hat müssen. Auch der 110-Prozent-Superbonus hat keinen Bestand, er wird dauernd schwieriger gestaltet und nun gekürzt. Große Änderungen sehe ich mit der neuen Regierung derzeit noch nicht. Die Anhebung der Bargeldobergrenze von 2.000 auf 5.000 Euro etwa halte ich für einen Witz – das ist keine Maßnahme. Ob eine große Abänderung der Steuerregelung und -verwaltung kommt, weiß man nicht.
Die Bürokratie wird – egal in welchem Sektor – als sehr belastend empfunden. Das werden Sie als Experte im Steuerrecht nur zu gut wissen. Wie schlimm ist die Bürokratie in Italien wirklich?
Sie ist ein Wahnsinn. Ein Beispiel: Für die heurige Steuererklärung hat es ein Rundschreiben von über 500 Seiten nur über die Absetzbarkeit der kleinen Spesen gegeben. Das ist total überflüssig. Weiters ist heute für alles Mögliche ein Formular auszufüllen. Die Bestimmung, dass man Daten, die einem Amt bereits vorliegen, nicht noch einmal hinterlegen muss, wird dauernd ausgehebelt. Und der Übergang von analog auf digital wird ohne Rücksicht auf die ältere Bevölkerungsschicht, die in Italien immer noch vorherrschend ist, durchgezogen. So braucht es in vielen Fällen den Spid. Dessen Beantragung können Kinder für ihre Eltern aufgrund der strengen rechtlichen Bestimmungen aber nur schwer übernehmen. Das ist ein Ignorieren der Realität. Es ist absolut illusorisch zu glauben, dass es mit der Bürokratie irgendwann besser wird.
Die Versprechungen der jetzigen Regierung, die Bürokratie abzubauen, sind also wenig glaubwürdig?
Sie sind absolut unglaubwürdig. Ich mache meinen Beruf seit fast 50 Jahren und viele Dinge, die zu machen sind, halte ich für sinnlos. Meine jüngeren Kollegen sind es gewohnt, zudem erleichtert die Technik vieles. Nur ist es so, dass die Bürokratie immer ein bisschen schneller wächst als sich die Technik entwickelt. Nach jeder technischen Neuerung kommt eine neue Bestimmung, damit es nicht mehr schneller geht.
Früher fragte ein Angestellter zuerst, wie viel er verdient und welche Aufstiegsmöglichkeiten er hat. Heute lautet die erste Frage, ob Freitagnachmittag gearbeitet wird.
Laut einer aktuellen Erhebung des Staates hinterziehen Freiberufler und Unternehmer:innen 69 Prozent der Einkommensteuer Irpef. Das wird zum Teil auf die Flat Tax zurückgeführt, weil Einnahmen über der 65.000-Euro-Schwelle häufig versteckt werden. War die Einführung der Pauschalbesteuerung von 15 Prozent ein Fehler?
Die Steuern der Freiberufler werden per Kassakompetenz bezahlt. Das heißt: Wenn ich für eine Arbeit von heuer erst im nächsten Jahr die Bezahlung erhalte, muss ich auch die entsprechenden Steuern erst nächstes Jahr zahlen. Nun haben sich die Freiberufler schnell an die Flat Tax von 15 Prozent gewöhnt, sodass sie, falls sie etwa im September die Umsatzschwelle erreichen, keine Rechnungen mehr ausstellen. Manche haben beim Kassieren inzwischen zwei Jahre Rückstand. Das könnte man sehr wohl verhindern: Besteuert man die Freiberufler genauso wie die Betriebe, indem durchgeführte Arbeiten demselben Steuerjahr zugerechnet werden, in dem sie erbracht werden, wäre das Phänomen weg. Es gibt in Italien Steuerhinterziehung, ja, aber aufgrund der elektronischen Rechnung in einem immer geringeren Ausmaß. Erhebungen zeigen, dass die Hinterziehung in Italien 22 Prozent des BIP ausmacht – in Deutschland sind es 21 Prozent. Die immer größer werdenden Fortschritte in der Informationstechnik werden zur Bekämpfung beitragen. Hier ist Italien federführend: Wir waren mit Australien das erste Land, in dem Steuererklärungen telematisch verschickt werden können. In Deutschland ist das erst seit wenigen Jahren möglich.
Sie gehen davon aus, dass die Steuerhinterziehung sinken wird?
Ja, sie sinkt bereits. Das geht aber nicht von heute auf morgen, auch weil in Teilen Italiens die elektronische Fakturierung nicht funktioniert, da die technologischen Voraussetzungen fehlen. Die Steuerhinterziehung wird sinken – ganz aufhören wird sie nie.
Wie gut ist Südtirols Wirtschaft und Politik aufgestellt?
Die lokale Wirtschaft ist sehr gut aufgestellt, denn sie hat den Grundpfeiler Tourismus, der Handel und Handwerk mitzieht. Und unsere Industrie ist prinzipiell stark. Außerdem können wir sehr zufrieden mit unseren Mitarbeitern sein – die Produktivität ist nicht einmal in Deutschland so hoch. Zum aktuellen Thema IDM: Sie hat sich stark gebessert und leistet super Arbeit. Im Tourismus hatte die IDM in den letzten zwei Jahren große Erfolge in der Unterstützung der schwachen Saisonen. Auch die Zusammenarbeit zwischen Tourismus und den landwirtschaftlichen Produkten läuft gut. Und Südtirol ist durch IDM zu einer regionalen Marke geworden. Immer mehr Menschen kennen Südtirol und seine Qualitätsgarantie. Zu verbessern ist immer etwas, aber die erneute Trennung der IDM-Strukturen wäre ein Fehler. In der Politik sehe ich zurzeit eine gewisse Schwäche. Es sind zu viele Kochtöpfe auf dem Herd: Die Landespolitik will es allen recht machen. Das passt grundsätzlich, aber irgendwann muss sie sich auf wichtige Dinge konzentrieren. Das Vorhaben etwa, jedem Landesrat einen Pressesprecher zur Seite zu stellen – ich weiß nicht, ob es umgesetzt wurde –, halte ich für hinausgeschmissenes Geld. Ebenso die geplante DNA-Kontrolle von Hundekot. Stattdessen könnte man Polizisten in Zivil einsetzen, die bei liegengelassenem Hundekot saftige Strafen ausstellen, dann hört das in zwei Monaten auf. So etwas traut sich die Politik nicht.
Es gibt also immer wieder Entscheidungen der Landesregierung, über die Sie den Kopf schütteln?
Ja. Thema Fotovoltaik: Früher war es überall verboten – jetzt müssen wir schnell Anlagen bauen. Vor einigen Wochen kam eine erste Bestimmung, in der – wieder typisch – nur gesagt wird, wo Fotovoltaik verboten ist. Man hätte nur den Satz hinzufügen müssen, dass alles andere erlaubt sei. Somit könnte man schon jetzt beginnen und müsste nicht bis März warten, sobald man weiß, was die Landesregierung machen will. Sie muss in gewissen Dingen Courage zeigen. Windenergie etwa ist bisher tabu gewesen. Jetzt müssen wir aber gewisse Tabus aufbrechen.
Im neuen Klimaplan des Landes ist von Windenergie die Rede.
Es braucht jedoch auch entsprechende Gesetze und Durchführungsbestimmungen. Das dauert. In der Urbanistik etwa sind von 60 vorgesehenen Maßnahmen erst 22 getroffen worden. Da müssten wir couragierter werden.
Wie steht es um die Qualität der Südtiroler Gesetze?
Sie ist zurzeit schlecht. Wir Freiberufler müssen jeden Tag mit diesen Gesetzen arbeiten, doch keines ist hieb- und stichfest. Es gibt Gesetze, in denen für einen Begriff drei verschiedene Bezeichnungen stehen. Damit kann man nicht arbeiten. Techniker sagen mir weiters, dass Baugesetze in vielen Gemeinden verschieden interpretiert werden.
Das Land muss immer stärker den Rotstift ansetzen, weil die finanziellen Notwendigkeiten immer größer werden. Wo sehen Sie Sparpotenzial?
Da bin ich kein Fachmann. Spontan fällt mir ein: Wofür brauchen wir eine Sanitätsabteilung beim Land, wenn wir den Sanitätsbetrieb haben? Gewisse Dinge werden doppelt verwaltet. Zudem könnten Hilfsmaßnahmen vereinfacht werden, denn die Kontrollen sind überzogen. Zig Leute haben nur die Aufgabe zu kontrollieren, ob jemand in eine Förderungsmaßnahme hineinfällt. Da wäre mir lieber, bei Problemen schnell zu reagieren und dafür in Kauf zu nehmen, dass einige Antragsteller Schindluder treiben.
Macht Arno Kompatscher seine Sache gut?
Er macht seine Sache eigentlich sehr gut. In seiner ersten Legislatur, als er für die Wirtschaft verantwortlich war, war er wirklich ausgezeichnet. Jetzt habe ich den Eindruck, dass er die Courage verloren hat. Er müsste gewisse Dinge einfach entscheiden. Zum neuen Urbanistikgesetz etwa wurde ein Jahr mit der Bevölkerung gesprochen. Man kann mit den Menschen durchaus reden, nur irgendwann muss man etwas durchziehen. Dafür ist ja der Landtag da – dieser sollte mehr einbezogen werden. Ich bin für die indirekte Demokratie: jemanden wählen, der dann entscheidet. Wenn alle mitreden, verzetteln wir vieles. Und in letzter Zeit hat der Landeshauptmann zu viele mitreden lassen.
Wie groß sehen Sie die Gefahr einer Rezession?
Von einer Rezession spricht man bereits, wenn die Wirtschaftsleistung zwei Trimester in Folge sinkt. Und auch wenn wir auf die Wirtschaftskraft von 2016 zurückfallen: Damals ging es uns wunderbar. Ich sehe es also nicht so tragisch. Auch nach der letzten Finanzkrise ging es relativ schnell wieder aufwärts. Als großes Problem sehe ich vielmehr die Wandlung in der Einstellung der Gesellschaft, die Einstellung zur Arbeit – und damit zusammenhängend den Arbeitskräftemangel. Als meine Generation jung war, war es das Wichtigste, einen sicheren Arbeitsplatz zu finden. Heute stehen Lebensqualität und Freizeit an erster Stelle. Früher fragte ein Angestellter zuerst, wie viel er verdient und welche Aufstiegsmöglichkeiten er hat. Heute lautet die erste Frage, ob Freitagnachmittag gearbeitet wird. Jetzt kommt sogar die Vier-Tage-Woche auf.
Sehen Sie das als Fehlentwicklung?
Ja, das ist eine Fehlentwicklung. Ursprünglich hieß es, dass Arbeitsplätze fehlen werden, weil alles automatisiert wird. Allerdings wird der gesamte Fortschritt der Automatisierung von höheren bürokratischen Anforderungen aufgefressen. Wir brauchen Arbeitskräfte – sie fehlen überall.
Wo führt das hin? Die große Pensionierungswelle kommt ja erst.
Man wird sich halt etwas einfallen lassen müssen – etwa die Zuwanderung institutionalisieren, die potenziellen Arbeitskräfte im Ausland prüfen und herholen. Weiters befürchte ich – und dies ist nicht so abwegig –, was uns die Geschichte gezeigt hat: Nach Ende des Römischen Reiches kam für fast 900 Jahre die dunkle Zeit des Mittelalters, ehe die Renaissance wieder neue Lebensstandards brachte. Es kann durchaus sein, dass wir 200 bis 300 Jahre nicht mehr den gewohnten Wohlstand haben werden. Unser heutiger Wohlstand wird erst dann zurückkehren, wenn auch die Asiaten nicht mehr zwölf Stunden am Tag arbeiten wollen. Schon jetzt gibt es Anzeichen dafür. Die nötigen Ressourcen für unseren Wohlstand sind eigentlich noch da und das technische Wissen bringt uns weiter. Aber der Arbeitskräftemangel ist ein Riesenproblem. Wenn eines der bekanntesten Lokale in St. Ulrich an drei Wochentagen bereits um 19.00 Uhr schließt, weil es kein Personal findet, ist das schon ein bedenkliches Zeichen.
Sie haben einen guten Einblick in die Zahlen der Betriebe: Sind Südtirols Unternehmen gerüstet, um schwierigere Zeiten zu überstehen?
Das heurige Jahr ist noch relativ gut gegangen. Ausschlaggebend wird 2023. Viele Unternehmen haben Reserven, aber die große Breite der Betriebe, vor allem die kleinen, hat sie nicht. Bei der Garantiegenossenschaft Garfidi etwa sehen wir, dass die Fälle der Insolvenz steigen. Es hapert vor allem bei den Kleinbetrieben mit zwei bis drei Mitarbeitern. Sie haben genug Einnahmen für ein anständiges Leben, aber nicht genug, um Reserven zu bilden.
Interview: Heinrich Schwarz
DIE SERIE In diesen Wochen führt die SWZ Interviews mit den Präsidenten der Südtiroler Wirtschaftsverbände. Es geht dabei um aktuelle Themen, Problemfelder und Zukunftsaussichten. Die bisher erschienenen Interviews können auf SWZonline und über die SWZapp nachgelesen werden.