Bozen – Das reiche Südtirol, jahrzehntelang ein wahres Bollwerk gegen jegliche Krise und auf ständigen Wohlstandszuwachs programmiert, findet sich in einer ungewohnten Situation wieder. Es vergeht praktisch kein Tag ohne Meldungen, die aufs Gemüt schlagen. Dienstag, 9. April: Das WIFO der Handelskammer geht in seinem jüngsten Konjunkturbarometer für 2013 im besten Fall von einer wirtschaftlichen Stagnation aus, hält aber auch ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung für möglich. Donnerstag, 11. April: Der Landtag thematisiert im Rahmen der Debatte über das Familiengesetz die zunehmenden Schwierigkeiten der Familien. Zeitgleich rufen die SVP-Arbeitnehmer/innen bei einer Pressekonferenz beunruhigende Daten in Erinnerung: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist in den vergangenen fünf Jahren von 4.055 auf 6.600 gewachsen, 51.000 Südtiroler Haushalte sind armutsgefährdet, die Verschuldung der privaten Haushalte steigt. Freitag, 12. April: Medien berichten darüber, dass die Südtiroler vermehrt bei Arztbesuchen und Medikamenten sparen (müssen). Samstag, 13. April: Bei der Landesversammlung des KVW sind Krise, Arbeitslosigkeit und Verarmung zentrale Themen. Sonntag, 14. April: Die Tageszeitung „Alto Adige“ stellt ein bedrohliches Nachfrageplus in der Lohnausgleichskasse fest und berichtet, dass die Landesbeamten vermehrt eine vorzeitige Auszahlung der Abfertigung beantragen.
Die Caritas-Schuldnerberatung schlug Anfang März in ihrem Jahresbericht 2012 ebenfalls Alarm – über 1300 Personen in finanziellen Schwierigkeiten seien 2012 in die Schuldnerberatungsstelle gekommen, 14 Prozent mehr als 2011. Volksanwältin Burgi Volgger äußerte sich schon vor einem Jahr besorgt über die steigende Armutsquote. Wohnungsvermieter klagen immer öfter über säumige Mieter.
Die Arbeitslosigkeit hat erstmals seit Jahrzehnten die Vier-Prozent-Marke überschritten, und auch wenn der Wert nach wie vor vergleichsweise bescheiden ausfällt, erschrickt ein vollbeschäftigungsverwöhntes Land wie Südtirol zwangsläufig über die steigende Tendenz. Die einen verweisen auf die elf Prozent Jugendarbeitslosigkeit, die anderen warnen vielmehr vor der wachsenden Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe „50 plus“.
Die Aufzählung der Negativmeldungen könnte beliebig fortgesetzt werden. Verzweiflung und Resignation wehen durch das Land, obwohl über die Förderungen aus dem stolzen Landeshaushalt eine massive Umverteilung gepflegt wird – und obwohl Südtirol mit einem Pro-Kopf-BIP von 37.000 Euro italienweit die Nummer eins und europaweit die Nummer 19 ist und sowohl Tirol (35.400 Euro) als auch das Trentino (30.800 Euro) weit hinter sich lässt.
Wie passt das zusammen? Freilich, dem hohen Pro-Kopf-BIP samt vergleichsweise hohen (Durchschnitts-)Einkommen stehen hohe Lebenshaltungskosten gegenüber. Südtirol ist ein teures Pflaster, auf dem etwa Ruheständler mit Minirenten oder Familien mit Kleinkindern und nur einem Einkommen – trotz Zuschüssen – schwerlich zurechtkommen. Verzwickt ist die finanzielle Lage auch für viele Getrennte und Geschiedene, falls kleine Kinder dazwischenstehen – entweder für die (meist weibliche) Alleinerziehende, die zugleich Geld verdienen und ihre Kinder betreuen sollte, oder aber für den (meist männlichen) Ex-Partner, der die gemeinsame Wohnung verlassen und Alimente für die Kinder zahlen muss.
Trotzdem besteht überhaupt kein Zweifel, dass der Lebensstandard der allermeisten Südtiroler heute höher ist als noch vor 30 oder 40 Jahren – nicht für alle wohlgemerkt, aber für die allermeisten. Mit anderen Worten: Sehr viele Südtiroler reden sich ärmer, als sie sind, weil die Erwartungen an das Leben heute völlig andere sind als jene ihrer Eltern vor 30, 40 Jahren, teilweise auch aus einem gesellschaftlichen (Konsum-)Zwang heraus. Das führt dazu, dass wir unseren Wohlstand in Gefahr sehen, obwohl es uns viel besser geht als vor 30, 40 Jahren, als es den Südtirolern keineswegs schlecht ging. Der jährliche Urlaub ist zu einer Selbstverständlichkeit und fast zu einem Muss geworden – in den 1970er-Jahren war er das nicht. Pizzeria-Besuche haben ihren früheren Festtagscharakter verloren und gehören – zumindest für den Großteil der Bevölkerung – zum Leben einfach dazu, genauso wie die Kaffeepausen bei der Arbeit. Auch das Freizeitverhalten hat sich geändert, wobei Fitnesszentren und Fahrräder, Einkaufsausflüge nach Innsbruck und Skitage in den Bergen, Besuche bei Friseur und Kosmetikerin eben Geld kosten. Ganz abgesehen von Fixkosten, die es früher nicht gab, begonnen beim Handy und aufgehört beim Internetanschluss zu Hause. Kleinere und größere Ausgaben summieren sich zu enormen Beträgen.
Wir fürchten paradoxerweise um unseren Wohlstand, obwohl wir für weniger Arbeit heute mehr bekommen. Zum Beispiel Lebensmittel: Aufgrund von Daten des Statistischen Bundesamtes in Deutschland (die Gültigkeit auch für Südtirol haben) lässt sich nachrechnen, dass 1970 bei einem durchschnittlichen Einkommen 96 Minuten für ein Kilo Schweinekotelett gearbeitet werden mussten – heute sind es 27 Minuten. Ein Kilo Rindfleisch konnte sich der Durchschnittsverdiener damals nach 72 Minuten Arbeit leisten, heute genügen 27 Minuten. 250 Gramm Butter oder zehn Eier „kosteten“ 1970 jeweils 22 Minuten Arbeit, heute kosten sie nur mehr fünf bzw. vier Minuten. Von neun auf drei Minuten ist der Arbeitsaufwand für ein Liter Milch geschrumpft, von 16 auf 11 Minuten für ein Kilo Brot. Für einen Fernseher, natürlich in SchwarzWeiß und ohne Fernbedienung, mussten um 1970 zwei „normale“ Monatsgehälter hingeblättert werden, heute gibt es Flachbild-TV für ein paar Hundert Euro.
Autos würden heute wohl ebenfalls bedeutend weniger kosten, wären sie gleich ausgestattet wie vor 40 Jahren – aber ein Auto ohne Servolenkung, Radio und elektrische Scheibenheber ist praktisch unverkäuflich geworden. Apropos Auto: Ein Südtiroler Handwerker hat auf der Grundlage von Aufzeichnungen ausgerechnet, wie viel Liter Treibstoff 1985 für einen durchschnittlichen Lohn zu haben waren und wie viele Liter es heute sind. Das Ergebnis verblüfft. 1985 bezahlte der Handwerker seinen Mitarbeitern monatlich 650.000 Lire netto, während der Literpreis zwischen 1280 und 1340 Lire schwankte. Für einen Monatslohn waren also etwa 500 Liter Treibstoff zu haben. Heute bezahlt der Handwerker einem vergleichbaren Mitarbeiter 1250 Euro netto pro Monat, was bei einem Spritpreis von 1,80 Euro bedeutet, dass es für den Lohn rund 700 Liter Treibstoff gibt. Das sind 200 Liter mehr als 1985. Benzin müsste 2,5 Euro kosten, um gleich teuer zu sein wie 1985. So viel zu unseren Klagen über die horrenden Spritpreise.
Andere Statistiken wiederum zeigen, dass wir heute viel Geld für alles andere als lebensnotwendige Dinge ausgeben – und folglich eigentlich mit weniger Geld auskommen könnten. Die Verbraucherzentrale rechnete vor wenigen Wochen vor, dass jeder Südtiroler im Schnitt pro Jahr 1.871 Euro für Lebensmittel ausgibt und 1.724 Euro für das Glücksspiel – mehr als für Bekleidung (955 Euro). Nur etwa 19 Prozent unserer Ausgaben fließen in Lebensmittel.
„Teilweise wird in Südtirol auf hohem Niveau gejammert“, räumt SVP-Arbeitnehmerchef Christoph Gufler ein. Er fügt aber auch hinzu: „Sicher ist, dass die Probleme mehr geworden sind.“ Ähnlich fällt die Analyse von Stefan Perini aus, dem Direktor des Arbeitsförderungsinstitutes AFI: „80 Prozent der Südtiroler haben seit dem Ausbruch der Krise keine wesentlichen Abstriche bei ihrem Lebensstandard machen müssen. Sorgen bereiten jene 10 bis 20 Prozent, die mit dem Lebensstandard der anderen nicht mehr mithalten können.“ Bedenklich findet Perini, dass es im Hochpreisland Südtirol nach wie vor Jobs gibt, welche in Vollzeit nur 800 bis 1000 Euro netto pro Monat abwerfen.
Ein Posten existiert dann doch, der die Südtiroler verarmen lässt: das Wohnen. 1977 war ein Einfamilienhaus über den Daumen gepeilt für 40 Millionen Lire zu bauen, Grundstückskosten nicht eingerechnet, während ein monatliches Netto-Durchschnittsgehalt 240.000 Lire betrug. 2013 betragen die Kosten für ein ähnliches Einfamilienhaus rund 300.000 Euro, während sich ein durchschnittliches Monatsgehalt auf 1.300 Euro beläuft. Das heißt: 1977 mussten 166 Monatsgehälter investiert werden, inzwischen sind es 230 – dazu kommt, dass erstens eine eventuelle Wohnbauförderung 1977 viel großzügiger ausfiel und dass zweitens die Grundstückspreise seither explodiert sind. Mit dem Eigenheim verhält es sich wie mit dem Auto: Die Qualität hat sich gewaltig verbessert, aber die Qualität – so angenehm sie ist – wird in zunehmendem Maße unerschwinglich.
Fazit: Armut in Südtirol muss differenzierter betrachtet werden, als dies im pauschalen Krisengerede zuweilen getan wird. Es gibt hierzulande (leider) echte Armut. Es gibt aber auch Armut, die selbst verschuldet oder gar nur eingebildet ist. Und es gibt einen wunden Punkt: das Wohnen.