Also, bisher hab ich das ja immer falsch gemacht. Bisher habe ich die Jahre einfach auf mich zukommen lassen und so gelebt, wie es mir sinnvoll schien. Und hinterher habe ich dann festgestellt: Verdammt, jetzt war doch grade erst das Jahr des Jodlers, und ich hab nie gejodelt! Und ein Jahr später Lust auf Jodeln zu bekommen, ist dann einfach nicht mehr so passend. Was mir auf diese Weise schon alles entgangen ist! Das Jahr der Schnapsdrossel, das Jahr des Käsekrainers, das Jahr des Schundromans, das Jahr des Kampfs gegen den Haarspliss – nie war ich dabei, immer bin ich erst hinterher draufgekommen, was ich alles hätte mitmachen können. Das wird sich in diesem Jahr aber endlich ändern. Immerhin weiß ich über 2012 so viel wie über noch kein anderes Jahr zuvor. Dass – laut Maya-Kalender – am 21. Dezember die Welt untergeht, ist ja keine Neuigkeit mehr, und gerade deswegen will ich doch ganz genau wissen, was in den kommenden Monaten ansteht. Offenbar bin ich mit diesem Wunsch nicht die Einzige: Gar manche Tageszeitung, manche Fernsehsendung und Tausende von Homepages widmen der Vorschau auf das nächste Jahr breiten Raum. Nicht nur die üblichen Horoskope und Katastrophenvorhersagen Marke Nostradamus („ein mächtiger Mann wird straucheln“ – „ein Zeichen wird am Himmel erscheinen“ – „Saturn belastet den Magen-Darm-Trakt“) werden da bemüht, nein, diesmal sind die Propheten auf allen Fronten unterwegs. Da wird ausgerechnet, was uns die Krise kosten wird, um wie viel die Temperaturen im August steigen, welche Gipfeltreffen zum Scheitern verurteilt sind und wie lange „das System“ noch aufrecht erhalten werden kann.
Zugegeben, solche Prognosen erfüllen mich mit einem wohligen Grusel. Einmal mehr kann ich das tun, was man als Mensch am liebsten tut: sich ängstigen. Und zwar pauschal für die Weltbevölkerung. Interessanterweise sind die meisten nämlich im Bezug auf sich selbst viel optimistischer. Das heißt: Ich bedauere zwar, dass es vielen schlechter gehen wird, bin aber zugleich davon überzeugt, dass ich selbst verschont bleiben werde. Irgendwie. Oder wenn es mich auch erwischt, dann weiß ich wenigstens, dass es den anderen nicht besser geht. Und das ist doch wieder ein ganz gutes Gefühl.
Aber 2012 geht es um mehr als um Gletscherschmelze, Staatspleiten oder das Jüngste Gericht. 2012 ist auch das Jahr der Fledermaus. Das war 2011 zwar auch schon, aber da hat es offenbar keiner mitgekriegt. Also gleich noch mal. Daher: Wenn Sie sich immer schon einmal in ein Batman-Kostüm zwängen wollten, dann ist das jetzt die Gelegenheit dazu. Die Erdkröte ist der Lurch des Jahres, falls Sie noch Frösche zum Küssen suchen. Was Sie 2012 jedoch auf keinen Fall tun sollten: Hirschkäfer fangen (Insekt des Jahres), die Große Höhlenspinne zerquetschen (Spinne des Jahres), Lärchen fällen (Baum des Jahres) oder Kleine Nachtpfauenaugen aufspießen (Schmetterling des Jahres). Dafür dürfen Sie endlich nach Herzenslust Süßholz raspeln, die Süßholzwurzel ist nämlich die Arzneipflanze des Jahres.
Darüber hinaus hat die UNESCO das internationale Jahr der nachhaltigen Energie für alle ausgerufen. Noch bin ich nicht ganz schlau daraus geworden, was genau „nachhaltige“ Energie sein soll. Vielleicht kriegen wir von der UNO jetzt alle Kachelöfen spendiert. Darin soll ja die Wärme recht lange nachhalten. Interessanter finde ich da schon das „Europäische Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“. Bisher haben wir unsere Anstrengungen darauf gerichtet, aktiv etwas gegen das Altern zu unternehmen. Und jetzt sollen wir aktiv altern? Wie macht man so etwas? Präventiv die Haare weiß färben? Beim plastischen Chirurgen die Fältchen betonen lassen? Seniorentickets für Zwanzigjährige? Selbst gestrickte Pullunder als Modetrend auf den Laufstegen? Ist das die Solidarität zwischen den Generationen? Fragen über Fragen, mit denen man sich 2012 endlich mal beschäftigen kann.
Aber es gibt noch mehr Bedenkens- und Bemerkenswertes in diesem Jahr. Das Welturheberrechtsabkommen wird 60. Zeit, es in Pension zu schicken? Bekanntlich werden Urheberrechte nicht erst seit der Erfindung des Internets immer wieder mit Füßen getreten. Wir dürfen uns auf heiße Diskussionen freuen.
Heiß her dürfte es auch bei anderen Geburtstagsfeiern gehen. Die französische Ikone Jeanne d’Arc wird 600. Und wir werden wohl noch immer nicht erfahren, ob die Visionen dieses Bauernmädchens einer göttlichen Fügung, einer Geisteserkrankung oder bewusstseinsverändernden Pilzen zu verdanken waren. Gewiss, es wird noch ein paar Publikationen geben, vielleicht auch Dokumentarfilme und YouTube-Videos. Aber das Feld „Jeanne d’Arc“ ist schon ziemlich abgegrast. Es gibt bereits unzählige Bücher und Filme über sie. An ihr ist also nicht mehr viel zu verdienen. Lohnenswerter wäre da schon eine Bio-Pic (so nennt man die Verfilmung von Lebensgeschichten) eines weiteren Geburtstagskindes 2012: Der römische Kaiser Caligula würde heuer runde 2000 Jahre alt. Und seine Geschichte hat es in sich: drei gescheiterte Ehen, Größenwahn, Kunstsinn und Brutalität, politische Intrigen, am Ende ein blutiger Tyrannenmord – kurz, alles, was eine gute Hollywoodproduktion so ausmacht. Hier gibt es also noch Potenzial.
Sie sehen, mit etwas Fantasie lässt sich einiges aus diesem Jahr machen. Und ich werde jetzt ein bisschen Buxtehude hören (375. Geburtstag) und Goethe lesen (180. Todestag), bevor es zu spät ist. 2013 macht es nämlich nicht mehr so viel Spaß.