Liebes Christkind, es ist länger her, seit ich dir zum letzten Mal geschrieben habe. Damals war ich sieben oder acht, und ich wünschte mir ein Puppenhaus mit Puppengeschirr und anderen Puppensachen. Ich dachte, dass du es mir bringen würdest mit deiner kleinen Rodel und deinen goldenen Flügelchen. Freilich war mir klar, dass so ein Puppenhaus eine sperrige Angelegenheit ist, aber ich dachte, deine Rodel ist eine Zauberrodel, auf der viel mehr Platz hat als auf einer gewöhnlichen. Damals war mein Glaube an das Unglaubliche unerschütterlich.
Ich habe das Puppenhaus nicht bekommen, auch nicht das Puppengeschirr. Ich weiß nicht mehr, was ich stattdessen bekommen habe, wahrscheinlich Bücher und etwas Nützliches. Ich habe dir in den Jahren danach nicht mehr geschrieben. Ich hatte gelernt, dass du dir von mir zwar Tipps geben lässt, mir aber letztendlich doch das bringst, was du für richtig hältst.
Jetzt schreibe ich dir wieder, nach so vielen Jahren. Ich habe einiges erlebt und durchgemacht. Mein Glaube an das Unglaubliche war erschüttert und irgendwann sogar ganz weg. Jetzt ist er wieder da. Das Unglaubliche begegnet mir jeden Tag. Ich kann nicht länger die Augen davor verschließen. Leider aber ist das Unglaubliche meiner Gegenwart ein ganz anderes als das magisch-märchenhafte meiner Kindertage.
Ich schreibe dir, weil ich einen Wunsch an dich habe. Keine Sorge. Du sollst mir nicht wieder etwas bringen. Mein Leben ist ausgefüllt, mir fehlt es an nichts. Aber ich zähle dennoch auf dich und deine Zauberrodel. Du sollst nämlich ein paar Sachen mitnehmen. Gerne würde ich jetzt schreiben, dass du den Krieg und den Hunger in der Welt mitnehmen sollst. Aber so große Dinge haben nicht einmal auf deiner Zauberrodel Platz. Ich bleibe beim Kleinen und Privaten. Mein Leben ist, wie gesagt, ausgefüllt. Es ist sogar, bei näherer Betrachtung, überfüllt. Überfüllt an Aufgaben, überfüllt an Dingen. Ich habe keinen Platz mehr für ein Puppenhaus, nicht einmal für Puppengeschirr. Das sollte nicht so sein. Ich wünsche mir wieder mehr Raum in meinem Leben. Wo aber anfangen?
Zunächst einmal könntest du meine Angst mitnehmen, irgendetwas zu verpassen. Ich verpasse ständig etwas, daran ändert sich auch nichts, wenn ich versuche doppelt so schnell zu sein.
Du könntest meine Trennungsängste mitnehmen und den kindischen Gedanken, dass ich den braunen Strickpulli vielleicht in zehn Jahren noch einmal brauchen könnte. Nimm mir dann aber auch die Erinnerung an die Dinge, von denen ich mich trenne. Sonst denke ich in zehn Jahren: Hätte ich mich doch nie vom braunen Strickpulli getrennt!
Nimm den kleinen pieksenden Teufel mit, der in meinem Hinterkopf sitzt und mir ständig zuflüstert, was mir alles fehlt und was ich alles unbedingt brauche. Oder nimm ihm wenigstens die Unart, mich ständig mit anderen zu vergleichen.
Nimm die Antwort „Ja“ mit. Nur für eine Weile. Und das „Vielleicht“ gleich hinterdrein. Es würde mir gut tun, mal ein paar Wochen lang nur noch „Nein“ sagen zu können. Ohne Wenn und Aber.
Und vor allem, nimm, wenn du schon die Schlechten und Hassenswerten nicht mitnehmen kannst, den Hass und Unwillen mit, den sie in mir wecken. Trag all die Päckchen von Missmut und Hader davon, damit ich aufhören kann, sie anderen nachzutragen. Es wäre eine große Last von meinen Schultern genommen.
Liebes Christkind, ich weiß, ich verlange ziemlich viel von dir. Wenn du von mir fortfliegst, wird deine Rodel ganz schön beladen sein, so beladen, wie sich mein Leben manchmal anfühlt. Findest du, ich mute dir zu viel zu? Du kannst mir nicht alles abnehmen? Dann mach es so wie immer: Tu, was du für richtig hältst. Vielleicht lerne ich dann endlich, es auch so zu machen.