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Zehn Jahre Berufsmatura: Sprungbrett statt Sackgasse

BERUFSBILDUNG – Die Berufsmatura wird zehn Jahre alt. Seit dem Schuljahr 2014/15 haben 3.910 Berufs- und Fachschüler:innen Matura gemacht. Was zehn Jahre Berufs­matura gebracht haben, welche Fachbereiche vorne liegen und warum der lvh die Entwicklung kritisch sieht.

Südtiroler Wirtschaftszeitung von Südtiroler Wirtschaftszeitung
22. November 2024
in Bildung, Südtirol
Lesezeit: 4 mins read

Die Berufsmatura ist keine „kleine“, minderwertige Matura, sondern dieselbe, wie sie an den anderen Oberschulen auch abgelegt wird. (Foto: Shutterstock / LStockStudio)

Bozen –Eine Erfolgsgeschichte mit Wermutstropfen: Seit zehn Jahren gibt es die sogenannte Berufsmatura – und sie hat sich mittlerweile im Südtiroler Bildungswesen etabliert. Im Schuljahr 2014/15 hat man mit 139 Maturawilligen an den Berufs- und Fachschulen begonnen; heuer sind es mit 275 knapp doppelt so viele. Von den durchschnittlich 3.400 Berufs- und Fachschülern sowie -schülerinnen legen Jahr für Jahr zwölf Prozent die Matura ab. Das Urteil über diese Entwicklung fällt allgemein positiv aus – im Handwerk allerdings sieht man sie kritisch.

Der Begriff „Berufsmatura“ ist eigentlich falsch. Es ist keine „kleine“, minderwertige Matura, sondern dieselbe, wie sie an den anderen Oberschulen auch abgelegt wird.

Gleich vorweg: Der Begriff „Berufsmatura“ ist eigentlich falsch. Es ist keine „kleine“, minderwertige Matura, sondern dieselbe, wie sie an den anderen Oberschulen auch abgelegt wird. Und sie ermöglicht ein Studium jeglicher Art. Aber bleiben wir bei dem Begriff, weil er sich mittlerweile eingebürgert hat.

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Die Zahlen steigen kontinuierlich

Im Schuljahr 2014/15 erlebte die Berufsmatura ihre Premiere: Damals konnten erstmals Schüler:innen von Berufsschulen und land-, forst- und hauswirtschaftlichen Schulen zur Matura antreten. Abgeschaut hatte man sich das Modell in Österreich. An den Hotelfachschulen war die Matura schon vorher möglich; seit es die Berufsmatura gibt, werden die Zahlen ebenfalls hier eingerechnet.

Die Zahlen sind kontinuierlich angestiegen; nur in den Hotelfachschulen sind sie seit den Corona-Jahren rückläufig. Gab es im ersten Schuljahr 2014/15 noch 139 Berufsschüler:innen in maturaführenden Klassen (plus 209 Hotelfachschüler:innen, für die die Möglichkeit aber nicht neu war), sind es heuer 275 Berufs- und Fachschüler:innen (plus 155 Hotel­fachschüler:innen).

Seit dem Schuljahr 2014/15 haben 3.910 Berufs- und Fachschüler:innen Matura gemacht – und im heurigen Schuljahr besuchen 430 Berufs- und Fachschüler:innen eine maturaführende fünfte Klasse.

Seit dem Schuljahr 2014/15 haben 3.910 Berufs- und Fachschüler:innen Matura gemacht – und im heurigen Schuljahr besuchen 430 Berufs- und Fachschüler:innen eine maturaführende fünfte Klasse. Damit sind es insgesamt 4.340 Schüler:innen. Den größten Teil davon machen mit 2.345 die Schüler:innen der Landeshotelfachschulen in Meran und Bruneck aus. Es folgen mit Abstand der Bereich Handwerk/Industrie mit 865, der Bereich Handel/Verwaltung mit 484 Interessierten sowie die Fachschulen für Landwirtschaft mit 294 Schülern und Schülerinnen in maturaführenden Klassen. Als Bereich Önogastronomie mit insgesamt 352 Absolventen und Absolventinnen werden die Zahlen der Fachschule für Hauswirtschaft und Ernährung Kortsch und der Landesberufsschule für das Gast- und Nahrungsmittelgewerbe „E. Hellen­stainer“ in Brixen zusammengefasst. Letztere bietet die Matura erst seit dem Schuljahr 2021/22 an.

Auch andere Schulen waren nicht von Anfang an dabei. Eine Premiere gibt es heuer an der Fachschule für Landwirtschaft, Hauswirtschaft und Ernährung Dietenheim mit 15 Schülern und Schülerinnen in einer maturaführenden Klasse sowie an der Landesfachschule für Sozialberufe „Hannah Arendt“ mit 16. Die Landesberufsschule für Handel und Grafik „J. Gutenberg“ in Bozen ist 2016/17 mit der Fachrichtung Handel und Dienstleistung eingestiegen, 2018/19 zusätzlich mit der Fachrichtung Industrie und Handwerk.

Zu den Zahlen: Erhoben wird, wie viele Berufs- und Fachschüler:innen zur Matura antreten, nicht, wie viele sie bestehen. Die Durchfallquote dürfte aber äußerst gering sein, sagt Schulinspektor Werner Sporer, der in der deutschen Landesschuldirektion die Berufsmatura-Zahlen im Auge behält. „Der allergrößte Teil kommt durch.“ Schließlich werde schon vorher eine Selektion durchgeführt (siehe Hintergrund).

„Kein Abschluss ohne Anschluss“

Was hat die Einführung der Berufsmatura nun gebracht? „Die Berufsmatura hat die Berufsbildung als Ganzes gestärkt“, sagt Peter Prieth, Leiter der Landesdirektion deutschsprachige Berufsbildung, „weil sie auch Jugendliche angesprochen hat, die sich sonst eher nicht für eine Berufsausbildung in dieser Form entschieden hätten.“ Vor allem für die Eltern sei es wichtig gewesen, zu sehen, „dass Berufsbildung keine Sackgasse ist“, dass es die Möglichkeit gibt, danach weiterzumachen. „Ihr müsst nicht, aber ihr könnt“: Das habe für Schüler:innen und Eltern große Bedeutung, sagt Prieth.

„Es hat Zeit gebraucht, die Schulen mussten sich darauf einstellen, aber es hat sich gut eingependelt.“

Das war von Anfang an der Gedanke dahinter: „Kein Abschluss ohne Anschluss“, sagte Bildungslandesrat Philipp Achammer bei der Einführung der Berufsmatura. Auch Schulinspektor Werner Sporer findet, dass sich die Berufsmatura bewährt habe. „Es hat Zeit gebraucht, die Schulen mussten sich darauf einstellen, aber es hat sich gut eingependelt.“

Wie viele Berufsschüler:innen tatsächlich studieren gehen, ist nicht erhoben. Laut seiner Erfahrung als langjähriger Berufsschuldirektor sind es viele, sagt Peter Prieth.

Die Wirtschaftsverbände sind uneins

Und was sagt die Wirtschaft? „Die Berufsmatura hat sich seit ihrer Einführung zu einem Erfolgsmodell entwickelt“, heißt es aus dem Handels- und Dienstleistungsverband (hds). „Für uns als Verband ist es von zentraler Bedeutung, dass die duale Ausbildung – sei es eine Lehre oder eine Fachschule – nicht als Sackgasse gesehen wird, sondern als Sprungbrett für weitere Bildungswege dient.“ Und sie stärke die Wettbewerbsfähigkeit der Südtiroler Jugend. Die Entwicklung der Teilnehmerzahlen unterstreiche den Erfolg dieses Modells: Allein im Bereich „Handel und Verwaltung“ stieg die Zahl der Schüler:innen der Maturaklasse von 33 im Schuljahr 2014/2015 auf 66 im Jahr 2023/2024.

„Man hat das Gefühl, dass ihnen die Vollzeitschule und die Matura mehr am Herzen liegen als die Lehrlingsklassen und damit die duale Ausbildung.“

Etwas anderer Meinung ist Martin Haller, Obmann des Wirtschaftsverbandes Handwerk und Dienstleister (lvh). Grundsätzlich sei es durchaus positiv, dass mit der Berufsmatura die Berufsbildung als gleichwertige Ausbildungsform etabliert worden sei. Aber Haller hat auch eine kritische Anmerkung: „Die Berufsschulen haben ihren Fokus verändert“, sagt er. „Man hat das Gefühl, dass ihnen die Vollzeitschule und die Matura mehr am Herzen liegen als die Lehrlingsklassen und damit die duale Ausbildung.“ Diese Entwicklung sieht er mit Besorgnis. Die Kernaufgabe der Berufsschulen sei es, junge Leute im dualen Ausbildungssystem zu Handwerkern und Handwerkerinnen auszubilden, in Berufen, die gebraucht werden. „Die Zahl der Lehrlinge ist zwar in den letzten Jahren konstant angestiegen“, sagt Haller. Aber es gebe noch großes Potenzial in den Betrieben. Der lvh habe die Berufsmatura wegen der Gleichwertigkeit der Ausbildungen stets unterstützt, aber nun gehe die Entwicklung in eine falsche Richtung.

Ulrike Stubenruß

DIE AUTORIN ist freiberufliche Journalistin.

Schlagwörter: 45-24free

Info

Der Weg zur Berufsmatura

Die Berufsmatura ist dieselbe Matura, wie sie an den anderen Oberschulen auch abgelegt wird (siehe beistehenden Artikel). Es gibt zwei Wege. Berufsschüler:innen erwerben nach einer dreijährigen Ausbildung in Vollzeit ein Berufsbefähigungszeugnis, nach vier Jahren das Berufsbildungsdiplom. Um die fünfte maturaführende Klasse besuchen zu können, muss vorher ein 60-stündiger Vorbereitungskurs positiv abgeschlossen werden. Dieser wird im vierten Schuljahr jede Woche mit zwei Stunden oder mit Blockunterricht abgedeckt. Dann folgt noch ein Motivationsgespräch. Nicht bewährt hat sich der Weg „Berufsmatura über die Lehre“, der ebenfalls forciert wurde: Dafür mussten Lehrlinge ihre Lehrzeit positiv abschließen, also den Gesellenbrief erwerben. Geplant war ein zweijähriger Vorbereitungskurs, der parallel zur Lehrlingsausbildung laufen und auf die Abschlussprüfung vorbereiten sollte: Schule am Freitag und Samstag, im letzten Halbjahr zusätzlich am Donnerstag. Weil es zu wenig Interessenten gab, wurde dieser Weg auf Eis gelegt. Sehr wohl nutzen Lehrlinge vermehrt die Möglichkeit, die fünfte maturaführende Klasse gemeinsam mit den Vollzeitschülern und -schülerinnen zu besuchen. „Das ist durchaus anspruchsvoll“, sagt Rudi Gruber, Direktor der Landesberufsschule für Handwerk und Industrie in Bozen. „Es gibt da auch Fächer, die die Lehrlinge in ihrer Ausbildung nie hatten, zum Beispiel Englisch. Das müssen sie sich dann selber beibringen.“ Die Lehrlinge, die sich für diese Möglichkeit entscheiden, müssen sich für das fünfte maturaführende Jahr ganz vom Berufsleben ausklinken – gehen also dem bisherigen Arbeitgeber als Arbeitskraft verloren.

Zwei Stimmen zur Berufsmatura

Jakob Rauchenbichler

Der Berufsmaturant: Jakob Rauchenbichler (27) aus Steinhaus im Ahrntal ging von der Berufsschule an die Uni. Er hat am Berufsbildungszentrum Bruneck eine Ausbildung in Elektrotechnik absolviert, sich im vierten Schuljahr auf Gebäudeautomation spezialisiert und nach dem fünften Jahr die Matura abgelegt. Das hat er sofort ins Auge gefasst, „als die Möglichkeit dafür geschaffen wurde“. Anfangs hatte ihn einfach eine technische Ausbildung interessiert. Er hat dann an der Uni Innsbruck Mechatronik studiert und mit dem Bachelor abgeschlossen. Auf ein Unistudium werde man an einer Berufsschule nicht gut vorbereitet, sagt er heute. „Da ist man bei allem der Letzte. Nur jemand von der Sportschule war noch schlechter dran als ich“, blickt er schmunzelnd zurück. Das Studium war also durchaus herausfordernd. „Man muss Vollgas geben“, sagt er. Heute arbeitet Rauchenbichler in einem Ingenieurbüro in Absam bei Innsbruck und leitet gerade ein Projekt für Ikea Deutschland. Die Möglichkeit der Berufsmatura bewertet er positiv. Dass damit Praxis und Theorie verknüpft werden, „macht sich im Curriculum sehr gut“.

Simon Schenk

Der Arbeitgeber: Das Unternehmen ICIT-Software mit Firmensitz in Bozen und Niederlassungen in Seefeld und Rosenheim entwickelt seit 2002 maßgeschneiderte Software-Lösungen und Kassensysteme für Gastronomie, Handel und Hotellerie. Und hat Erfahrung mit Berufsmaturanten. CEO Simon Schenk ist voll des Lobes für Abgänger von Südtirols Berufsschulen. „In unserem Bereich – Entwicklung von Soft- und Hardware – ist ein 360-Grad-Wissen und manuelles Geschick wichtig“, sagt er. „Die besten Leute dafür kommen von den Berufsschulen.“ Sie seien besser ausgebildet als Abgänger anderer technischer Oberschulen, sie hätten Ehrgeiz und seien praktisch orientiert. Ob jemand allerdings nach drei oder vier Jahren Berufsschule in sein Unternehmen eintritt oder mit Berufsmatura, ist für ihn nicht so wichtig – und es wirkt sich auch nicht auf Einstufung und Gehalt aus. „Was bei uns zählt, ist Können und Leistung“, sagt Schenk. Die Berufsmatura ist hier also kein Vorzugstitel. Bleibt die Vermutung, dass die Berufsmatura monetär wohl nur jenen etwas bringt, die danach studieren gehen.

Ausgabe 45-24, Seite 2

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