Bozen – Devid Profanter schwitzt. Es ist drückend warm im kolumbianischen Urwald. Ein Schamane hat ihm gerade gezeigt, wie man Schnecken mit wenig Aufwand zubereitet. Es ist nur einer von neun Kochkursen, den Profanter im vergangenen Jahr rund um den Erdball besucht hat. Immer mit dabei: seine Freundin Sara Dapoz. In derselben Zeit reist Lisa Rass um den Globus. Am längsten bleibt sie in Zentralasien. Sie bewegt sich fort wie die Einheimischen. Isst wie sie. Schläft wie sie.
Bei uns sind alle willkommen. Auch mit ‚petto nudo‘“
Einige Monate später. In Bozen scheint nach dem vielen Regen der vergangenen Wochen an diesem Nachmittag im Juni die Sonne vom Himmel. Es ist halb vier, das Mittagsgeschäft ist vorbei. Dennoch sind die Tische auf der Terrasse des Salewa Bivac gut gefüllt. Ganz hinten haben zwei Männer im Business-Outfit Platz genommen, beide mit Hemd und Sonnenbrille, und trinken einen Kaffee. Am Tisch daneben teilt sich ein Radfahrerpaar einen Toast und löscht seinen Durst mit Sportwasser. Bekannte Gesichter aus der Wirtschaftswelt sieht man ebenso wie eine Gruppe Freundinnen, die sich angeregt unterhalten. „Bei uns sind alle willkommen“, erklären Profanter und Rass. „Auch mit ‚petto nudo‘“, ergänzt Profanter lachend mit Blick auf einen jungen Mann, der sich gerade sein T-Shirt ausgezogen hat und nun mit nacktem Oberkörper in einer der Lounges aus Europaletten sitzt.
Bivac, die erste: ein Abenteuer auf Zeit
Profanter, 33, aus Kastelruth, und Rass, 31, aus Bozen sind die Geschäftsführer des Bistros, eingesetzt von der Firma Oberalp – und das bereits zum zweiten Mal. Von 2019 bis 2022 waren sie schon einmal hier. Kurz zuvor hatten sie sich beim Catering Hannah & Elia kennengelernt. Rass war als Servicekraft ab und an für das Unternehmen tätig. Die Boznerin hatte zuvor zwei Jahre die Landesberufsschule für das Gastgewerbe Savoy besucht, anschließend ins Pädagogische Gymnasium gewechselt und dann Tourismus und Freizeitwirtschaft an der Fachhochschule Krems studiert. Profanter hingegen stand für den Catering-Service hinter den Herdplatten. Der gelernte Koch hatte zuvor im In- und Ausland gearbeitet, unter anderem im Sternerestaurant von Heinz Winkler in Deutschland.
Es war ein Bekannter von Profanter, der angefragt wurde, die Leitung des Salewa Bivac zu übernehmen. Dieser lehnte dankend ab, brachte aber seinen Kollegen ins Spiel. „Allein wollte ich das Bistro aber nicht übernehmen. Deshalb habe ich Lisa gefragt, ob sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen könnte“, berichtet der Koch. „Wissen, wie es schlussendlich wird, konnten wir nicht“, lacht Rass. „Es hat sich bald gezeigt, dass wir uns gut ergänzen.“ Profanter brachte die Ideen mit. „Oft zu viele“, schmunzelt Rass. Sie wiederum kümmerte sich ums Organisatorische. Von Anfang an war den beiden Freunden allerdings klar, dass es sich um ein Abenteuer auf Zeit handelte. „Schon seit Längerem wollten wir beide eine Weltreise machen. Eine, bei der das Ende offen ist. Deshalb kam für uns nur infrage, vor dem Beginn der Reise zu kündigen“, erklärt Profanter. Das Ende des Arbeitsverhältnisses war zugleich das Ende der Zusammenarbeit von ihm und Lisa Rass – zumindest vorläufig.

In einer der größten Küchen der Welt
Der 33-Jährige verabschiedete sich mit seiner Freundin Sara Dapoz von der Südtiroler Heimat. Die beiden waren in Indien, Nepal, Thailand, Brasilien, Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien, Panama, Costa Rica und Nicaragua. Der Reisestil: „So richtig Low-budget.“ In Indien kam das Paar mit 700 Euro pro Kopf und Monat über die Runden. Es ist jenes Land, das Profanter am meisten fasziniert. „Du sieht einen riesigen Tech-Konzern und auf der Straße davor blockiert eine Kuh den gesamten Verkehr“, beschreibt er mit einem Beispiel die großen Unterschiede, die den Alltag prägen. „Hier kann man definitiv einen Kulturschock erleben“, stellt Profanter fest. Von belastenden Eindrücken wie den bettelarmen Kindern auf den Straßen bis hin zu Kuriosem, wie der Tatsache, dass alles per App bezahlt wird, reicht das Spektrum. „Selbst auf der Straße, wo für umgerechnet wenige Cent T-Shirts mit einem Kohlbügeleisen gebügelt werden, nutzt niemand Bargeld.“ Ebenfalls gewöhnungsbedürftig: Als weißer Tourist ist man beinahe eine kleine Attraktion. „So zehn bis zwölf Selfies am Tag haben wir sicher gemacht.“ Die Einheimischen seien außerdem sehr neugierig, was das Paar gerade nach Indien verschlagen habe.
„Selbst auf der Straße, wo für umgerechnet wenige Cent T-Shirts mit einem Kohlbügeleisen gebügelt werden, nutzt niemand Bargeld.“
Gleich mehrere Kochkurse hat er im Land besucht – und in verschiedensten Lokalen gegessen. Wie die indischen Restaurants bei uns darf man sich das Ganze aber nicht vorstellen. „Du gehst rein und dir schöpft direkt jemand eine Portion Curry aus einem 200-Kilo-Topf. Das sind andere Dimensionen.“ Die höchste Steigerung: eine Großküche mit Freiwilligen, die täglich 100.000 Mahlzeiten zubereiten. Im Bundesstaat Punjab an der Grenze zu Pakistan betreiben Angehörige der Religionsgemeinschaft der Sikh eine der größten Küchen der Welt. Sie funktioniert nach dem Prinzip der Freiwilligkeit, denn in den Augen der Sikh dient Gott, wer der Gemeinschaft dient. Essen gibt es im Goldenen Tempel daher gratis.
Ein weiteres Highlight der Reise: ein Monat in einem Ashram, einem klosterähnlichen Meditationszentrum. Der Tagesablauf war an sechs Tagen pro Woche streng geregelt. Aufstehen um halb sechs, eine Stunde Atemübungen, eineinhalb Stunden Yoga, dann frühstücken, Unterricht in der Philosophie des Yoga, eineinhalb Stunden Ashtanga-Yoga, wieder meditieren und um halb acht wieder ins Bett. Von halb sechs bis halb vier am Nachmittag galt zudem Redeverbot für die Schüler:innen.
Bis zum Basislager des Mount Everest
Ebenfalls recht still ging es auf der mehrwöchigen Wanderung zum Basislager des Mount Everest in Nepal zu. Diese begeisterte Profanter derart, dass er sie Lisa Rass ebenfalls ans Herz legte. Die Boznerin hatte den Fokus ihrer Reise ohnehin auf gebirgige, wenig touristisch erschlossene Regionen gelegt. Schon als Kind war sie viel mit ihren Eltern und Geschwistern gereist, unter anderem nach Madagaskar, wo ihr Onkel als Arzt tätig war. Ihr Vater Walther erkundet bis heute Gipfel in der ganzen Welt.
Bei einem von Lisa Rass‘ Reisezielen war der Familie dann aber doch mulmig zumute: Kurz vor der Ankunft im Iran war es zum Überfall der Hamas auf Israel gekommen. „Davon haben wir im Iran selbst dann aber nichts gespürt“, sagt Lisa Rass. Übernachtet hat sie hauptsächlich bei Einheimischen, Couchsurfing ist weitverbreitet. Ihre Beobachtung: „Hinter verschlossenen Türen geht es sehr westlich zu. Die Frauen legen ihre Kopfbedeckung ab, ziehen sich kurze Hosen an, es läuft westliche Musik und die Leute schauen westliche Serien.“ Die Pflicht für Frauen, das eigene Haupt zu bedecken, galt auch für Lisa Rass und ihre Begleitung Franziska Wolfsegger. Bis ganz nach vorne über den Haaransatz zogen sie ihre Kopftücher. „Bis uns junge einheimische Frauen gefragt haben, ob wir sie nicht etwas lockerer tragen könnten, so wie sie es auch tun.“
„Durch eine solche Reise lernt man definitiv Alltägliches neu zu schätzen.“
Besonders beeindruckt hat Rass die Gastfreundschaft der Menschen in Zentralasien. „Jeder will dich einladen, auch wenn er noch so wenig hat. Und die Leute helfen einfach, sobald sie sehen, dass jemand Hilfe braucht. Bei uns herrscht hingegen ein Konkurrenzdenken. Oft geht es darum, sich gegenseitig zu überbieten und viele sind nur auf sich konzentriert, ohne nach links und rechts zu schauen.“
„Wir wissen oft nicht zu schätzen, in welchem Luxus wir leben“, bestätigt Devid Profanter. „Dabei gehören wir zur absoluten Elite der Welt. Das fällt einem nach so einer Reise wirklich auf.“ So war es auch, als Profanter kurz nach seiner Rückkehr in Bozen unterwegs zu einem Termin war. Alles schien ihm beinahe zu perfekt und sauber, fast schon steril. „Durch eine solche Reise lernt man definitiv Alltägliches neu zu schätzen“, ergänzt Rass: Fenster, die dichten, ein eigenes Badezimmer in der Wohnung, einen elektrischen Herd zum Kochen. „Das ist alles nicht selbstverständlich. In der Ferne passt man sich dann eben an. In Kirgistan haben wir in Jurten, den traditionellen Zelten, geschlafen. Da gibt es einen Raum für die ganze Familie. Wenn nachts eine Maus an dir vorbeiläuft, ist das eben so.“
Während sie manches hinnahmen, wie es war, genossen sie anderes geradezu – wie das meist nicht vorhandene Handynetz. „Wir konnten richtig abschalten und im Moment leben. Die Menschen haben eine andere Gelassenheit als bei uns. Weniger Stress würde auch uns hier guttun.“
Gemüse aus dem eigenen Garten
Kurz nach Lisa Rass‘ Rückkehr in die Heimat erhielt sie einen Anruf. Fürs Bivac wurde wieder nach einem Geschäftsführer oder einer Geschäftsführerin gesucht. Sie kontaktierte Devid Profanter, der noch unterwegs war. „Wir entschieden uns, es ein zweites Mal zu wagen“, sagen sie unisono. Die Philosophie ist unverändert geblieben: möglichst regional, möglichst nachhaltig. Das Gemüse kommt zum Großteil aus dem Salewa Garden, in dem Geflüchtete arbeiten. Auf der Karte ist für jeden Geschmack etwas dabei, meist auch ein Gericht, das von Profanters Reisen inspiriert ist – wie heute indisches Dal. Im Umgang mit Gästen und Mitarbeitenden gilt: Jede und jeder ist gleich viel wert und wird auch so behandelt.
Die Entscheidung, eine Auszeit zu nehmen, bereuen Lisa Rass und Devid Profanter keine Sekunde. „Wenn man mit 70 zurückschaut und ein Jahr nicht gearbeitet hat, macht das nicht viel aus, aber die Erinnerungen der Reise bleiben für immer“, sagt Profanter.
Dieser Artikel ist in der gedruckten SWZ mit folgendem Titel erschienen: „Einmal Welt und zurück“.