SWZ: Südtirol will bis 2030 zu einer Modellregion für nachhaltige Mobilität werden. Am wichtigsten hierfür, betont Ihr Ressort immer wieder, sei es, Verkehr von vornherein zu vermeiden. In den politischen Prioritäten und Zielen im Grundsatzpapier der Landesregierung „Everyday for Future“ liest man davon nichts. Wie kommt’s?
Daniel Alfreider: Hier muss ich etwas weiter ausholen. Bereits zu Beginn der Legislatur war es mir wichtig, intermodale Mobilität als ein Grundbedürfnis des Menschen zu sehen. Straße, Eisenbahn, Seilbahn, Fahrrad, Fußgänger usw. sind keine Einzelthemen, auch wenn sie lange – nicht nur in Südtirol – als solche eingeordnet wurden.
Wenn ich überlege, wie ich von A nach B komme, habe ich mehrere Antwortmöglichkeiten. Wenn ich mich hingegen nur frage, wo mein Autoschlüssel ist, kann es nur eine Antwort geben. Die Mobilität wird sich in den kommenden Jahren extrem verändern. Indem wir die integrierte Mobilität in den Fokus stellen, schaffen wir Hindernisse ab. Ein Beispiel ist, dass mit einer Karte alle Dienste genutzt werden können – vom Pendlerparkplatz bis hin zum Busticket. Ein weiteres ist eine höhere Taktung der öffentlichen Verkehrsmittel. In den meisten Tälern haben wir einen 30-Minuten- bis 60-Minuten-Takt.
All das führt dazu, dass unsere Straßeninfrastruktur von 2.800 Kilometern zwar zu erhalten ist. Die Straßen noch weiter strapazieren oder sogar neue bauen wollen wir aber nicht.
Es werden aber neue Umfahrungen realisiert.
Ja, aus dem einzigen Grund, der den Bau neuer Straßen rechtfertigt: mehr Lebensqualität in den Dörfern. Es gibt also neue Umfahrungsprojekte, aber keine neuen Achsen.
Was außerdem zu weniger Verkehr auf den Straßen führt, ist die Schiene. Ich bin überzeugt, dass sie jene Infrastruktur ist, die uns wirklich Kapazität geben kann im öffentlichen Personennahverkehr. Pioniere haben sie in Südtirol im 19. Jahrhundert gebaut, weil es damals keine Autos gab. Heute bauen wir sie aus, weil es zu viele Autos gibt. Wir müssen diese Infrastruktur ins neue Zeitalter bringen. Große Investitionen sind dafür notwendig für Rollmaterial und Schiene.
Aber wir brauchen nun mal echte Alternativen zum Auto, wenn wir die Mobilitätsbedürfnisse der Südtirolerinnen und Südtiroler, der Gäste und der Wirtschaftstreibenden abdecken wollen.
Einerseits sind solche Unterstützungen vonseiten der Entscheidungsträger gefragt, auf der anderen Seite ist aber auch jeder und jede Einzelne mitverantwortlich für die eigenen Entscheidungen und den Verkehr, der daraus entsteht.
Wer an bestimmten Südtiroler Knotenpunkten wie der Kreuzung Pillhof in Eppan den Verkehr beobachtet, sieht in den allermeisten Autos nur eine Person sitzen. Gibt es eine Initiative, die das Potenzial von Fahrgemeinschaften ins Auge fasst?
Wir arbeiten an einem Benefit-System für diejenigen, die Fahrgemeinschaften bilden. Wir versuchen, den Dienst digital aufzubauen.
Einerseits sind solche Unterstützungen vonseiten der Entscheidungsträger gefragt, auf der anderen Seite ist aber auch jeder und jede Einzelne mitverantwortlich für die eigenen Entscheidungen und den Verkehr, der daraus entsteht. Es geht nicht, ohne dass wir unsere Gewohnheiten anpassen.
Natürlich ist es, wie bereits betont, auch wichtig, Hindernisse abzuschaffen, wozu auch zählt, Informationen einfach zugänglich zu machen. In die neue Südtirol Mobil App werden derzeit die restlichen Dienste integriert, so dass wir bald alle Busse, Züge und Seilbahnen abbilden können. Tickets können über die App gekauft und entwertet werden – und mich freut es besonders, dass wir Schritt für Schritt über die Livedaten der öffentlichen Verkehrsmittel in ganz Südtirol verfügen und diese Daten auch weitergeben können.
Wir haben neue Ticketingsysteme, und wir möchten das Thema Parkplätze mit aufnehmen. In Zukunft soll jemand, der zum Beispiel von Lana nach Bozen möchte, einen Parkplatz in der Nähe des Startorts buchen können, um von dort mit dem öffentlichen Personennahverkehr weiterfahren zu können.
Wäre es denkbar, die Entwicklung einer neuen App zu unterstützen, also eine Südtiroler Onlinemitfahrbörse nach dem Vorbild von BlaBlaCar?
Wir haben uns in Europa umgeschaut, was es für Lösungen in diesem Bereich gibt. Es ist ja ein Thema, das vor allem den ländlichen Raum betrifft. Es ergibt wenig Sinn, wenn in einem solchen Raum alle zehn Minuten ein Bus fährt, das ist nicht wirtschaftlich. Deshalb möchten wir andere Formen der Verkehrsvermeidung unterstützen.
Sie haben vorhin ein Benefit-System angesprochen.
Genau. Wenn jemand andere mitnimmt, kann er oder sie Punkte sammeln, die gegen Kilometer im Nahverkehr getauscht werden könnten oder gegen Einkaufsgutscheine im lokalen Handel, um zugleich diesen zu unterstützen. Wir sind in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung. Mit dem Bezirk Burggrafenamt entwickeln wir derzeit ein Pilotprojekt.
Nun ist es ja so, dass das Auto für viele eben nicht nur ein Verkehrsmittel ist. Stefan Gossling beschreibt das in seinem Buch „Die Psychologie des Autos“. Demnach ist das Auto zentraler Teil der Identität vieler Menschen. Politik gegen das Auto empfinden sie entsprechend als Politik, die sich gegen sie selbst richtet. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Die meisten von uns sind mit dem Auto vor der Haustür aufgewachsen. Südtirol ist – ich wiederhole es gern – eine ländliche Realität. Das darf man nicht vergessen. Manches ist hier anders. Zuletzt habe ich öfters die Kritik gehört, dass wir nicht alle Busse auf Elektroantrieb umstellen. Wenn man Südtirol kennt, die Linien, die Höhenunterschiede und Temperaturen, dann ist das mit dem heutigen Stand der Technik nicht möglich. Wir haben kürzlich auf einer Bergstraße einen 18 Meter langen E-Bus der neuesten Generation getestet. Leider musste er dreimal halten, weil er überhitzt ist.
Es nützt nichts, wenn manche immer nur mit dem Finger zeigen. Hinter der Elektrifizierung einer Linie steckt vielmehr, als oft angenommen wird. Es reicht nicht, die Busse auszutauschen. Die gesamte Infrastruktur muss vorbereitet werden. Ein einzelner E-Bus hat eine Leistung von 430 Kilowatt. Zum Betanken solcher Busse braucht es neue Leitungen, teils brauchen wir für Depots sogar ein Umspannwerk.
Was ich sagen will: Wir versuchen wirklich umzusetzen, was geht. Bis 2025 wird in Südtirol ein Drittel aller Fahrzeuge emissionsfrei sein. Diese Bemühungen werden auch in Rom anerkannt.
Mein Traum ist, einen Großteil des Bedarfs für die öffentliche Mobilität mit Südtiroler Energie abzudecken. Ich bin der Meinung, dass das möglich ist. Anstatt Diesel aus Übersee einzuführen, könnten wir Müll verbrennen und die Energie aus der Verbrennung nutzen, um Busse anzutreiben. Beim alten Müllverbrennungsofen planen wir eine entsprechende Anlage. Dazu kommt die Überschussenergie aus den Wasserkraftwerken, die wir nutzen könnten. Diesbezüglich sind wir im Gespräch mit Alperia.
Das Problem ist die Quelle des Verkehrs. Wieso ist jemand mit dem Auto am Sellajoch oder Grödner Joch? Weil jemand beschlossen hat, einen Ausflug zu machen, und zwar mit dem eigenen Auto. Wenn wir nun die Pässe sperren, kommt diese Person mit dem Auto immer noch bis ins Tal.
Stichwort Hotspotmanagement. Erst kürzlich wurde ein Antrag der Opposition im Landtag abgelehnt, in dem eine Passmaut für die Dolomitenpässe gefordert wurde. Sie haben im Anschluss gesagt, es brauche ein Konzept, das auch die Dörfer berücksichtigt.
Das Problem ist die Quelle des Verkehrs. Wieso ist jemand mit dem Auto am Sellajoch oder Grödner Joch? Weil jemand beschlossen hat, einen Ausflug zu machen, und zwar mit dem eigenen Auto. Wenn wir nun die Pässe sperren, kommt diese Person mit dem Auto immer noch bis ins Tal. Dann staut es sich dort noch mehr als bisher. Die Dörfer sind heute schon durch den Durchzugsverkehr belastet.
Wir arbeiten jedenfalls an den rechtlichen Grundlagen für eine Verkehrsentlastung dieser sensiblen Zonen.
Inwiefern?
Wir haben eine Durchführungsbestimmung zum Autonomiestatut durchgebracht, eine Ergänzung im Straßenverkehrskodex und eine technische Norm, die Straßenbaurichtlinien, angepasst. Informell haben wir mit dem zuständigen Minister gesprochen, das werden wir noch mal gemeinsam mit den anderen beiden betroffenen Regionen Veneto und Trentino machen. Straßen sind Verbindungen. Deshalb müssen wir an einem Strang ziehen.
Ich denke, wir haben eine gute Basis. Nun müssen die nächsten Schritte gesetzt werden. Wir arbeiten zum Beispiel bereits an Fahrradspuren.
Was ist das konkrete Ziel?
Dass weniger Menschen mit dem eigenen Auto ins Tal kommen. Alternative Mobilität ermöglicht es uns zugleich, die Besucherströme besser zu lenken. In den Dörfern haben wir im vergangenen Jahr Shuttlebusse organisiert, die die Leute in den Dörfern abholen und zu den Liften bringen. In ebendiesen bestehenden Liften sehen wir enormes Potenzial. Wir möchten daher verstärkt mit den Liftbetreibern zusammenarbeiten.
Noch mal: Wir müssen an die Quelle denken und dort ansetzen. Aktion statt Reaktion.
Apropos Lifte und Seilbahnen. Südtirol als Land der Seilbahnbauer könnte Vorreiter sein für die innovative Nutzung dieser Verkehrsmittel. Tatsächlich setzen zum Beispiel südamerikanische Städte unsere Technologien ein, um die urbane Mobilität auszubauen. Wieso setzen wir nicht auch verstärkt darauf?
Ich bin ein absoluter Befürworter. Diese Infrastrukturen beanspruchen erstens sehr wenig Grund und haben zweitens den höchsten Sicherheitsgrad. Mittlerweile sind Geschwindigkeiten bis fast 40 km/h möglich. Umsetzbar wäre auch ein 24-stündiger Betrieb. Wo es möglich ist und es einen Konsens mit der Bevölkerung gibt, spricht nichts dagegen.
Wir sind zum Beispiel sehr froh, dass der Bau der Rittner Bahn realisiert wurde. Heute transportieren wir damit jährlich 1,2 Millionen Passagiere. Südtirol als Bergland wäre prädestiniert für die verstärkte Nutzung von Seilbahnen. Vielerorts kann aufgrund der Morphologie keine Eisenbahn hingeführt werden. Da sind Seilbahnen perfekt. Und: Sie können in relativ kurzer Zeit gebaut werden. So könnte kurzfristig auf die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen eingegangen werden, denn diese ändern sich immer schneller.
Es bräuchte eine große Bike Station mit 4.000 bis 5.000 Stellplätzen.
Das Zentrum von Paris wird ab 2024 – bis auf wenige Ausnahmen – autofrei. Wäre das für Bozen ebenfalls denkbar? Einige Voraussetzungen fehlen nach wie vor: eine ordentliche Umfahrung, Park&Ride vom Stadtrand aus, sichere Fahrradabstellplätze am Bahnhof.
Zur Umfahrung: Die hilft – wie gesagt – nicht, um Verkehr zu vermeiden. Wenn wir das erreichen wollen, müssen wir auch in Bozen eine Alternative schaffen zum eigenen Auto. Von Bruneck wird man in knapp über einer Stunde in Bozen sein dank Riggertalschleife. Auch aus Meran und Umgebung wird es dank Potenzierung und Entwicklung der Bahnlinie bessere Verbindungen geben. Wer beim Bahnhof ankommt, muss dann eine Möglichkeit haben, umzusteigen: schnell, kostengünstig und so sicher wie möglich. Es bräuchte eine große Bike Station mit 4.000 bis 5.000 Stellplätzen und einige gesperrte Straßen. Zwei Projektideen liegen vor. Im Pnrr (Piano nazionale di ripresa e resilienza, Anm. d. Red.) haben wir zudem ein Projekt eingereicht, das an jeder Haltestelle abschließbare Radboxen vorsieht, die mit dem Südtirol Pass genutzt werden können. Das dauert aber mit Sicherheit zwei bis drei Jahre.
Wenn Utrecht und Kopenhagen es schaffen, warum nicht auch wir? Zumal wir 300 Sonnentage im Jahr haben und viel weniger Niederschlag als in Nordeuropa, wo das Fahrrad Teil des Alltags ist.
Kommen die Menschen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an, gibt es weniger Verkehr und weniger Bedarf an neuen Straßen.
Außerdem sind wir dabei, das Krankenhaus, einen der größten Arbeitgeber, und die Industriezone besser mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar zu machen. Im Dreieck Zentrum – Krankenhaus – Messe soll das Auto überflüssig werden.
Was ist mit der Anbindung von Überetsch-Unterland an die Industriezone?
Wir haben eine entsprechende Linie bereits gezeichnet. Diese hätte Ende vergangenen Jahres in Betrieb gehen sollen. Jetzt wird es wahrscheinlich April werden oder zum Fahrplanwechsel im Juni. Aber die Anbindung wird kommen.
Interview: Sabina Drescher
Veranstaltungsreihe
Zum Thema nachhaltige Mobilität hat Daniel Alfreider am Dienstag in St. Ulrich gesprochen. Es war der erste von acht Terminen im März und April, bei denen die Mitglieder der Landesregierung und der Landeshauptmann ihre Nachhaltigkeitsstrategie präsentieren. Neben den Abendveranstaltungen werden Workshops und Seminare stattfinden, an denen Bürger:innen teilnehmen können. Das alles läuft unter dem Titel „Wir gestalten Zukunft. Gemeinsam.“