Bozen – Die Forderung, die die Umweltschutzgruppe Vinschgau kürzlich an Mobilitätslandesrat Daniel Alfreider stellte, macht etwas perplex: Das Land soll den Grenzpendlerinnen und -pendlern eine finanzielle Unterstützung für die teuren Busfahrkarten in der Schweiz gewähren, denn der Südtirol Pass reiche nur bis zur Schweizer Grenze.
Das Ansinnen, öffentliche Verkehrsmittel gegenüber dem Auto attraktiver zu machen, mag zu begrüßen sein. Doch sollen Menschen, die sich gegen einen Arbeitsplatz in Südtirol entscheiden, weil sie in der Schweiz viel mehr verdienen und mitunter dort ihre Steuern zahlen, noch obendrauf vom Land bezuschusst werden?
Die Landespolitik hat diesbezüglich jüngst sogar einen Schritt zurück gemacht: Wer seinen Arbeitsort außerhalb Südtirols hat, wird ab heuer vom sogenannten Pendlergeld ausgeschlossen. „Es erscheint nicht angebracht, den im Ausland arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern den Beitrag zu gewähren und somit wirtschaftliche Anreize für diejenigen zu schaffen, die außerhalb Südtirols Wohlstand erzeugen“, so die Begründung der Landesregierung.
Die Entscheidung, in der Schweiz zu arbeiten, ist angesichts der Lohn- und Steuerunterschiede verständlich, doch die attraktive und nahe Schweiz macht dem Wirtschaftsstandort Vinschgau zu schaffen. Einem Bezirk, der es im Vergleich zum restlichen Land ohnehin nicht einfach hat.
Schwierige Rahmenbedingungen
Im Vinschgau sind bereits die Rahmenbedingungen anders als im restlichen Land. So gehört der Vinschgau zwar flächenmäßig zu den größeren Bezirken, doch mit rund 37.000 Einwohnerinnen und Einwohnern handelt es sich um den zweitkleinsten Bezirk nach dem Wipptal (die politisch zum Burggrafenamt gehörende Gemeinde Naturns ist in diesem Artikel nicht mitberücksichtigt). Noch dazu ist der Vinschgau in puncto Erreichbarkeit weit abgelegen von der Brennerachse. Und dass der Vinschgau an zwei Nachbarländer angrenzt, hat sich nicht als Vorteil erwiesen, wie das Thema Grenzpendler:innen zeigt.
Was die für den Tourismus so wichtige Landschaft betrifft, hat der Vinschgau zwar malerische Täler unter mächtigen Dreitausendern zu bieten, doch das ist kein Vergleich zur internationalen Bekanntheit der Dolomiten im Osten Südtirols.
Manche Vinschger Gemeinden haben mit Abwanderung zu kämpfen. In Stilfs, Schnals und Martell ist die Bevölkerung in den beiden vergangenen Jahrzehnten geschrumpft. Insgesamt ist die Einwohnerzahl im Vinschgau in 20 Jahren nur um sechs Prozent gestiegen, südtirolweit sind es über 14 Prozent.
Graun holt Stilfs ein
„Wir haben eine riesige Fläche bei wenigen Leuten. Außerdem sind wir strukturschwach und haben politisch kein großes Gewicht. Aber wirtschaftlich haben wir in letzter Zeit schon etwas aufgeholt“, sagt einer, der den Vinschgau so gut kennt wie kaum ein anderer: Albrecht Plangger. Er war 20 Jahre Bürgermeister von Graun, saß neun Jahre im italienischen Parlament und ist Bezirksobmann der SVP im Vinschgau.
Er verweist etwa auf die touristische Entwicklung im Obervinschgau. Tatsächlich hat sich dort in den vergangenen Jahren einiges getan. So hat etwa der Zusammenschluss der Skigebiete Schöneben und Haider Alm für einen Schub gesorgt. Und der Reschensee mit dem herausragenden Kirchturm des gefluteten Dorfes Alt-Graun gewinnt zunehmend an internationaler Aufmerksamkeit.
„Wir haben keinen Übertourismus, sondern eine gesunde Entwicklung – und das ist gut so. Wir brauchen uns nicht mit den Grödnern zu vergleichen.“
Die Zahlen bestätigen den Aufschwung: Im Obervinschgau – mit den Gemeinden Graun, Mals, Taufers, Glurns und Schluderns – stiegen die touristischen Nächtigungen von 2014 bis 2024 um 31,6 Prozent. Im restlichen Bezirk betrug das Plus nur 11,9 Prozent.
Insgesamt ist der ohnehin touristisch schwächere Vinschgau (mit 6,8 Prozent der landesweiten Nächtigungen) in den vergangenen zehn Jahren mit plus 18,7 Prozent klar unterdurchschnittlich gewachsen. Der Landesschnitt betrug rund 30 Prozent. In Schnals etwa haben die Gästezahlen mehr oder weniger stagniert. Die Gemeinde Graun hingegen hat mit 435.000 Nächtigungen im Vorjahr auf Stilfs als tourismusstärkste Gemeinde des Vinschgaus aufgeschlossen.
Obervinschgau geht eigenen Weg
„Wir haben keinen Übertourismus, sondern eine gesunde Entwicklung – und das ist gut so. Wir brauchen uns nicht mit den Grödnern zu vergleichen“, meint Albrecht Plangger. Auf das Thema Bettenstopp ist er dementsprechend gar nicht gut zu sprechen: „Wir müssen die Folgen tragen, obwohl uns das Problem des Übertourismus gar nicht betrifft. Da haben uns andere mit in den Bettenstopp hineingezogen, damit wir uns wehren und am Ende auch den anderen nichts passiert“, kann Plangger seine Verärgerung gegenüber tourismusstarken Gebieten nicht verhehlen, ohne dabei Namen zu nennen.
Auch der Gastwirt Karl Pfitscher ist auf die Landesebene nicht allzu gut zu sprechen: „Die touristische Schwäche des Vinschgaus ist unter anderem damit zu erklären, dass wir bei der Werbung wie Stiefkinder behandelt wurden und die Mittel eher ins Dolomitengebiet gingen“, sagt der Schlanderser, der von 1989 bis 2021 Funktionär des Hoteliers- und Gastwirteverbandes war – davon zwölf Jahre als Gebietsobmann im Vinschgau – und Vorsitzender des SVP-Wirtschaftsausschusses im Vinschgau ist.
Zudem, so Pfitscher, fehle es im Vinschgau an großen Hotels als Leitbetriebe. Schon in den 1970er- und 80er-Jahren hätten sich die touristischen Investitionen der Vinschger:innen im Vergleich zu anderen Bezirken in Grenzen gehalten. Im Obervinschgau gebe es jetzt Bewegung, weiter unten weniger. Im Mittelvinschgau führen laut Pfitscher vielmehr Nachfolgeprobleme zu Bettenverlusten. Zudem fehle es an Aufstiegsanlagen und Wandergebieten.
Was den erfahrenen Gastwirt (zumindest teilweise) positiv stimmt, ist die jüngst vollzogene Reaktivierung von Vinschgau Marketing, nachdem in der touristischen Vermarktung jahrelang wenig passierte. Dabei ist nun auch das Schnalstal mit an Bord, das vorher touristisch dem Burggrafenamt angehörte. Allerdings gibt es ein Problem: Die Ferienregionen Obervinschgau und Reschenpass sind abgesprungen und treten jetzt mit der Marke „Reschensee“ auf. „Das ist für den Gesamtvinschgau nicht gut“, ist Karl Pfitscher enttäuscht.
Grenzpendler:innen als großer Faktor
Auch in anderen Sektoren ist der Vinschgau hinter den Entwicklungen in anderen Bezirken zurückgeblieben. Größere Industriebetriebe etwa sind kaum zu finden. Eine Ausnahme ist die Hoppe, die in ihren Werken in Schluderns und Laas aber zahlreiche Stellen abgebaut hat. Oder der erfolgreiche Speck- und Fleischwarenproduzent Recla in Schlanders, der inzwischen 330 Mitarbeitende hat.
Interessanterweise ist auf der anderen Seite des Landes – im Raum Bruneck – eine regelrechte Industriehochburg entstanden, vor allem im Automotive-Bereich. Allerdings ist das Pustertal wesentlich näher an der verkehrstechnisch wichtigen Brennerachse – und es hat mehr als doppelt so viele Einwohner:innen.
„Den Leuten mehr Netto vom Brutto zu lassen, wäre die wirksamste Maßnahme, um den Standort Vinschgau zu stärken.“
Diese Faktoren lassen sich aus Vinschger Sicht nicht wirklich ändern. Spricht man mit der Unternehmerschaft vor Ort, so fallen denn auch immer wieder die Grenzpendler:innen als Schlagwort. Es entsteht der Eindruck, dass sich die Vinschger Wirtschaft auch deshalb nicht so gut entwickeln kann, weil den Betrieben ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Investitionen und Neugründungen bzw. -ansiedelungen scheinen mit Vorsicht angegangen zu werden.
Im Jahr 2016 veröffentlichte die Landesabteilung Arbeit eine Studie, wonach 1.000 bis 1.500 Arbeitnehmer:innen in die Schweiz pendeln. Die Abteilung schätzt, dass die Anzahl weiterhin in diesem Bereich liegt. „Hinzu kommt noch die Abwanderung“, wird betont.
Es wäre genug Arbeit da
„Es ist ein Riesenproblem, dass wir Mitarbeiter an die Schweiz verlieren. Noch dazu müssen wir unsere Mitarbeiter wesentlich besser bezahlen, als es Betriebe im Burggrafenamt tun, um die Differenz zur Schweiz so gering wie möglich zu halten“, sagt Thomas Moriggl, Geschäftsführer der Moriggl-Gruppe mit Sitz in Glurns, die in den Bereichen Elektro-, Heizungs- und Sanitärtechnik tätig ist.
Er ist sich sicher, dass das Grenzpendeln heute keine Notwendigkeit mehr ist, um überhaupt einen Job zu finden, sondern rein der höhere Lohn das ausschlaggebende Argument ist: „Im Vinschgau wären genügend gleichwertige Jobs vorhanden – und zwar quer durch alle Branchen, wie die vielen Stellenangebote zeigen.“
Albrecht Plangger kann dem nur beipflichten: „Kaum jemand ist gezwungen, in die Schweiz zu gehen, denn hier bekommt jeder eine Arbeit. Und die Löhne mögen zwar höher sein, aber wenn man die Fahrt und andere Kosten miteinbezieht, frage ich mich schon, ob es nicht oft rentabler wäre, im Vinschgau zu bleiben.“
Herbert Niederfriniger, Geschäftsführer des Laaser Holzbauunternehmens holzius, sieht die Nähe zur attraktiven Schweiz als Hauptgrund für die Strukturschwäche der Vinschger Wirtschaft. Er hofft, dass in Italien die Steuer auf Arbeit reduziert wird: „Den Leuten mehr Netto vom Brutto zu lassen, wäre die wirksamste Maßnahme, um den Standort Vinschgau zu stärken.“ Niederfriniger und Moriggl sind sich einig, dass der Unterschied zur Schweiz beim Bruttogehalt gar nicht mal so groß ist, bei den Steuern hingegen schon.
Wird es mit dem neuen Abkommen besser?
Die Grenzpendler-Thematik könnte in den kommenden Jahren aber ohnehin abflauen. Denn seit dem Vorjahr gilt ein neues Abkommen zwischen Italien und der Schweiz mit einschneidenden Änderungen. Wurden Grenzpendler:innen aus grenznahen Gemeinden zuvor ausschließlich in der Schweiz besteuert, wird nun zwischen „alten“ und „neuen“ Grenzpendlerinnen und -pendlern unterschieden. Wer schon bis Mitte Juli 2023 in der Schweiz arbeitete, wird weiter in der Schweiz besteuert, sofern die Wohnsitzgemeinde maximal 20 Kilometer von der Staatsgrenze entfernt ist. Die „Neuen“ werden nun hingegen in Italien und damit wesentlich höher besteuert, genauso wie Pendler:innen außerhalb des 20-Kilometer-Radius.
„Damit ist es für viele nicht mehr so interessant, in der Schweiz zu arbeiten. Es werden deshalb wieder mehr Menschen im Vinschgau bleiben“, ist Albrecht Plangger überzeugt. „Die Situation ist etwas besser geworden“, kann Thomas Moriggl bestätigen. Dass es offenbar Fälle gibt, in denen Pro-forma-Mietverträge in einer Gemeinde innerhalb des 20-Kilometer-Radius abgeschlossen werden, um das steuerlich relevante Wohnsitz-Kriterium zu erfüllen, sorgt indes für böses Blut.
„Werden immer kleinstrukturiert bleiben“
Damit sich die Wirtschaft im Vinschgau gut entwickeln kann und die Betriebe investieren, scheint also der Faktor Mensch das Um und Auf zu sein. „Leider gerät man andernfalls immer mehr ins Hintertreffen. Durch die Strukturschwäche fehlen auch bestimmte Unternehmen mit attraktiven Jobs, die kluge, gut ausgebildete Köpfe im Vinschgau halten können“, analysiert Herbert Niederfriniger.
Thomas Moriggl sieht auch bei der Erreichbarkeit noch Potenzial, um den Standort Vinschgau zu stärken – etwa durch Straßenumfahrungen. „Und öffentliche Institutionen und Dienstleistungen sollten nicht immer in Ballungszentren konzentriert, sondern auch mal bewusst in die Peripherie ausgelagert werden.“ Ebenfalls sei das Wohnen leistbarer zu machen.
Indes mahnt Albrecht Plangger mehr Zusammenhalt im Vinschgau an, um politisch schlagkräftiger zu sein, was letztendlich auch der Wirtschaftsentwicklung zugutekomme. „Der Vinschgau wird aber immer kleinstrukturiert bleiben“, ist er sich sicher.