Südtirol – Mohammed (15) stammt aus Marokko, sein Vater arbeitet schon länger in Südtirol, er selbst, seine Mutter und seine Schwester sind vor zwei Monaten nach Südtirol nachgekommen. Er sitzt im Werkraum der Berufsgrundstufe Elektro und Metall. Der Fachlehrer erklärt die Sicherheitsvorkehrungen, die Schüler im Umgang mit dem Bunsenbrenner einhalten müssen. Doch Mohammed versteht kein Wort, er spricht neben Marokkanisch nur Französisch.
Karim stammt aus Afghanistan, er versteht zwar etwas Deutsch, er kann aber keine deutschen Texte lesen, da er nur die arabischen Schriftzeichen gelernt hat. Mohammed und Karim stehen nur stellvertretend für Schüler, denen Lehrer, beispielsweise einer Berufsschule, Fachinhalte vermitteln sollten. Je mehr Ausländerkinder in einer Klasse sind, desto größer sind die Schwierigkeiten – und die Qualität der Schule kann darunter leiden.
„Wer dem Unterricht nicht folgen kann, hat nicht nur schulische Misserfolge, sondern verliert das Interesse am Lernen“, sagt die zuständige Landesrätin Sabina Kasslatter-Mur. „Deshalb müssen Defizite so früh wie möglich in Angriff genommen werden, damit die Kinder nicht später ihre Ausbildung zu früh abbrechen.“
Italien hat diesbezüglich ganz klare Gesetze: „Ein Migrantenkind, das die Pflichtschule besucht, muss vom ersten Tag an in die Schulklasse integriert sein und darf nicht in einer getrennten Schule oder Klasse untergebracht werden, damit es erst mal die Sprache lernt. Es ist das Prinzip der Vollinklusion“, klärt Fritz Hofer vom deutschen Bildungsressort (ehem. Pädagogisches Institut) auf. Der pädagogische Ansatz der Inklusion geht über die Integration hinaus; er verbindet mit der Einbindung auch die Wertschätzung der Vielfalt und des multikulturellen Dialogs (s. Grafik). Hofer berät die heimischen Sprachenzentren, die in ganz Südtirol die Schulen mit Sprachunterricht versorgen. „Diese Schüler dürfen zwar die Klassengemeinschaft zeitweise verlassen, um Sprachunterricht zu erhalten, müssen aber den restlichen Schultag wieder mit den Mitschülern in Kontakt kommen, sie müssen in das neue Umfeld eintauchen können. Denn das ist es, was die Sprache lebendig macht und sie am meisten motiviert, sie schnell zu erlernen“, sagt Hofer.
Den Vorschlag, den Landeshauptmann Durnwalder im Juni gemacht hat, „eine eigene paritätische Schule für Kinder von Einwanderern mit beiden Landesprachen als Unterrichtsfächer“ zu schaffen, klingt vor diesem Hintergrund wie eine Stammtischmeinung. Integration und Segregation, also die Trennung der Migrantenkinder von den einheimischen, schließen sich nämlich gegenseitig aus. Hofer ist trotz seiner gegenteiligen Meinung froh über die Lawine, die der Landeshauptmann damit losgetreten hat: „ So ist Bewegung in die Sache gekommen.“
Zu Durnwalders „Lawine“ befragt, erklärt Sabina Kasslatter-Mur diplomatisch, dass der Landeshauptmann und sie dasselbe Ziel hätten: „Nämlich dafür zu sorgen, dass Kinder mit Migrationshintergrund so schnell wie möglich eine Landessprache beherrschen, damit sie dem Unterricht folgen können.“ Sie und der Landeshauptmann haben diese Woche einen Antrag an die Landesregierung gestellt, dass die finanziellen Mittel für die Sprachenzentren auf drei Millionen Euro verdoppelt werden. In Zukunft sollen die Maßnahmen auch verpflichtender für die Kinder werden. Ende Juli will die Landesregierung darüber entscheiden, sie schien aber nicht abgeneigt zu sein, den Antrag anzunehmen.
Zurück zum Dilemma der Vollinklusion. Es gibt Studien mit den verschiedenen Ansätzen zum Thema Spracherwerb für Migrantenkinder, eine davon ist die der Informationsstelle Eurydice, die im Auftrag der Europäischen Kommission und der EACEA in Brüssel Informationen und Analysen zu europäischen Bildungssystemen und -politiken sammelt und veröffentlicht. 2009 hat Eurydice die Maßnahmen zur Förderung der Kommunikation mit Migrantenfamilien und des muttersprachlichen Unterrichts für Migrantenkinder zusammengefasst. „Im europäischen Recht ist die Gleichbehandlung minderjähriger Kinder von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatenangehörigen festgeschrieben. Mitgliedstaaten können diesen Anspruch jedoch beschränken und fordern, dass ausreichende Kenntnisse in der Unterrichtssprache nachgewiesen werden“, wird in der Studie festgehalten. Weiter heißt es dort: „Migrantenschüler werden in der Regel unmittelbar in die ihrem Alter entsprechende Jahrgangsstufe integriert. Ihnen wird in der Klasse oder außerhalb Unterstützung geboten, damit sie dem Unterricht folgen können. Diese Form der Eingliederung wird häufig kombiniert mit einem gesonderten Übergangsmodell, in dem sie maximal ein Jahr lang betreut werden und in denen Schülern, die erst vor Kurzem zugewandert sind, die Gelegenheit geboten wird, die für die Teilnahme am regulären Unterricht erforderlichen Kenntnisse – insbesondere Sprachkenntnisse – zu erwerben“, so die Studie.
In nordischen Staaten geht man sogar einen Schritt weiter und bietet den Migrantenschülern außerschulisch Sprachunterricht in der eigenen Muttersprache an, weil dann auch das Erlernen der Unterrichtssprache besser funktioniert. Aber so eine Möglichkeit wagt man in Südtirol nur hinter vorgehaltener Hand auszusprechen.
In der deutschsprachigen Sektion des Kofler-Kindergartens in Bozen sind für diesen Herbst 50 Kinder eingeschrieben, 36 davon stammen aus acht verschiedenen Ländern. Das sind die Probleme hierzulande. „Der Imam von Meran empfiehlt seinen Gläubigen, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder Deutsch lernen. Das zeigt Wirkung“, sagt Fritz Hofer. Problematisch ist die Situation für einheimische Schulkinder (und ihre Eltern), die in eine solche Situation kommen, weil weiterführende Lernziele bewältig werden müssen. Andererseits wird die interkulturelle Erziehung für alle auf europäischer Ebene für unverzichtbar erklärt. Denn europäische Kinder, die früh einen wertschätzenden Umgang mit Migranten erleben, finden sich später in unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft und im Ausland besser zurecht.
Kasslatter-Mur ist der Meinung, dass die einzelnen Schulen nach individuellen Wegen suchen sollten, um ihre ganz spezifischen Situationen optimal zu lösen – das ist auch das, was die Eurydice-Studie empfiehlt. Für gut begründete Lösungsvorschläge, so bestätigen auch die Migrationskoordinatoren in den Schulen, stellt das Schulamt die nötigen Mittel bereit. Kasslatter-Mur ergänzt pragmatisch: „Und bei den Lösungen darf man sich auch ruhig haarscharf an der Grenze der Gesetzmäßigkeit bewegen.“
Das ist der Weg, den die Direktorin der deutschen Grundschule J. H. Pestalozzi in der Bozner Europaallee, Heidi Niederkofler, gegangen ist. In ihrer Schule kann man zwischen Montessori-Klassen und Ganztagsschule wählen. Im letzten Herbst hatte sie aber für die beiden Ganztagsklassen zwei Drittel Migrationsschüler und nur ein Drittel einheimische Kinder unterzubringen. „Ich wusste, dass ich diese Situation den Südtiroler Eltern nicht zumuten konnte“, so Niederkofler. Sie bildete ein Klasse mit einem Drittel Migrationskindern und zwei Drittel Einheimischen; die übrigen zwölf ausländischen Kinder ließ sie in einer eigenen kleinen Klasse unterrichten. Allerdings werden die Klassengemeinschaften für manche Fächer wie Mathematik, die Deutschwerkstatt, Religion und Italienisch aufgelöst und die Kinder mischen sich neu zusammen – und damit sei, so hoffte sie, dem italienischen Gesetz Genüge getan. Das sind nur etwa zehn Stunden die Woche, sagt Fritz Hofer, der seine Bedenken zu dem Modell äußerte. Niederkofler erhielt einen bitterbösen Brief aus dem Unterrichtsministerium, der die „Diskriminierung“ an den Pranger stellte. Erst die Bekundungen Kasslatter-Murs und des damaligen Regierungskommissärs an die Adresse des Ministeriums, dass es vielmehr eine kreative Ad-hoc-Lösung für die Probleme an der Schule sei, glätteten die Wogen. Neben der täglichen Aufgabenhilfe, spielerischen Sprachwerkstätten und einer Sommerschule bietet die Schule den Müttern der Migrationskinder Deutschkurse an. „Inzwischen sprechen diese rund 20 Frauen schon recht gut Deutsch. Im heurigen Sommer bieten wir mit ehrenamtlichen Helfern zukünftigen Erstklässlern und ihren Müttern eine Vorbereitung zum Schuleintritt mit der Erweiterung des Wortschatzes um circa 100 Wörter an, und mit 25 Büchern als Anregung für eine spätere Lesekultur. Es ist mir wichtig, dass für diese Menschen der Zugang zum sozialen Leben geöffnet wird. Sie sind in der Regel ja alles Steuerzahler.“ Man könnte meinen, gute Zusatzangebote dienen dazu, etwaige Zweifel über die kurzfristige Segregation der Migrantenkinder zum Zwecke des Spracherwerbs zu verflüchtigen. Aber vielleicht ist ja auch der europäische Ansatz im Alltag wirksamer als die kompromisslose Vollinklusion, die Südtirol aus Rom vorgegeben wird. Aber vielleicht ist ja auch dieser europäische Ansatz im Alltag wirksamer als die kompromisslose Vollinklusion, die Südtirol aus Rom vorgegeben wird.
Hofer meint dazu: „In Frankreich, wo die Segregation für den Spracherwerb seit Jahren praktiziert wird, und zwar so lange, bis die Schüler die Sprache beherrschen, können die Integrationsbemühungen als gescheitert angesehen werden. In einzelnen deutschen Bundesländern, wo seit Jahren ausreichend in die Bildung der Migrantenkinder investiert wurde, finden wir heute berufstätige, fließend Deutsch sprechende und gut integrierte junge Menschen mit Migrationshintergrund vor.“
Noch stärker die Gesetzeslage ausgereizt hat die Berufsschule für Handwerk und Industrie, weil der Spracherwerb in der Altersstufe um die 15 Jahre noch schwieriger ist. Karin Gasser, die Migrationkoordinatorin, erzählt, dass auch Schüler kommen, die kaum schreiben und lesen können. „Deshalb hat die Schule im letzten Jahr zwei eigene Klassen für Migrationsschüler zusammengestellt, die die Basis schaffen, damit die Schüler im zweiten Jahr den Lernalltag bewältigen – und zwar ohne Gefahren für die Arbeitssicherheit“, sagt Gasser. Diese Schüler erhalten dann, um sie teilweise einzugliedern, im zweiten Semester in kleinen Gruppen Praxisunterricht mit den einheimischen Schülern. „Fast alle diese Schüler haben das Sprachniveau A2 erreicht und besuchen heuer, je nach Alter, eine Grundstufe oder eine Fachschulklasse mit dem Ziel, dass sie mittelfristig B1 erreichen.“ Gasser bedauert, dass die Jugendlichen am Ende der Ausbildung nur schwer Zusagen für Praktika erhalten, geschweige denn Arbeit. „Die Vorurteile sind immer noch sehr groß, dabei sind die Migrantenschüler oft höflicher, fleißiger und gebildeter als die einheimischen“, sagt Gasser. Fritz Hofer kann dem Modell nichts abgewinnen: „Es ist, als ob man einen Menschen mit Vitaminbomben vollstopfen möchte. Diese Jugendlichen haben über den Spracherwerb hinaus auch andere Bedürfnisse.“
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ zitiert Kasslatter-Mur in diesem Zusammenhang gern den Philosophen Ludwig Wittgenstein. „Jeder in den Spracherwerb und in die Bildung investierte Euro fließt in zehn Jahren zurück – durch höhere Steuereinnahmen, weniger Sozialhilfeausgaben, geringere Kriminalität“, so die Landesrätin. Womit wir bei der Schnittstelle dieses Themas mit der Ökonomie und der Wirtschaftspolitik wären. Im Dialog zwischen Kulturen steckt eben nicht nur ethisch gesehen ein Gewinn für alle. Im Dialog zwischen Kulturen steckt eben nicht nur ethisch gesehen ein Gewinn für alle, sofern man bereit ist, mit Neuem offen umzugehen (s. auch Artikel auf S. 4).
Info
Auf einen Blick: Die Begriffe Segregation, Integration und Inklusion grafisch erläutert















