Die erste Aufregung ist verflogen, aber verdaut haben wir die Ignoranz der Verfassungsrichter noch immer nicht: Haben sie doch glatt geurteilt, dass dem kleinen Südtirol – exakt gleich wie dem restlichen Italien – die Sonntagsöffnung im Handel zuzumuten ist und dass es keinen triftigen Grund für ein Einzelhandelsverbot in Gewerbegebieten gibt. Wir Südtiroler gleich wie das restliche Italien? Eine Frechheit! Und auch wenn der Landtag den Verfassungsrichtern ein Schnippchen schlug, indem er vorsorglich mit einem neuen Gesetz das weitgehende Einzelhandelsverbot in Gewerbegebieten bis auf Weiteres bestätigte (das Verfassungsgericht urteilte sozusagen über ein „überholtes“ Gesetz), schwappte eine breite Welle der Empörung durch das Land. Was fällt den Verfassungsrichtern eigentlich ein? SVP-Obmann Richard Theiner drückte am schönsten aus, was die Mehrheit der Bevölkerung dachte: „Südtirol kann und darf nicht mit anderen Regionen und Provinzen Italiens gleichgestellt werden. Unsere kulturellen, aber auch unsere wirtschaftlichen Besonderheiten müssen weiterhin geschützt und verteidigt werden.“ Jawoll!
Ich habe lange über das Zitat nachgedacht und mir wahrlich Mühe gegeben, unsere Andersartigkeit einzusehen. Gelungen ist es mir nicht. Was soll in Südtirol anders sein als in Belluno, Sondrio, Como, Varese oder Cuneo an der französischen Grenze? Warum sollten in diesen Bergprovinzen – genauso wie in den Apenninen – andere Handelsregeln richtig sein als in Südtirol? Gut, in Südtirol wird mehrheitlich deutsch gesprochen und wir wurden vor bald 100 Jahren Italien angegliedert, ohne dass uns jemand gefragt hätte. Aber mir will es einfach nicht gelingen, einen Zusammenhang mit dem Handel zu finden.
Der Handelsstreit ist nur eines von vielen Themen, bei denen wir Südtiroler unsere Andersartigkeit bemühen. Dass dieses kleine Land mitten in Europa – und wir mit ihm – etwas Besonderes ist, hat sich wie eine unumstößliche Wahrheit in unseren Köpfen festgekrallt. Indem wir uns gegenseitig eintrichtern, dass Südtirols (deutsche) Mehrheit in Wirklichkeit eine Minderheit im Staate Italien ist, legen wir die daraus resultierende Schutzbedürftigkeit auf alle anderen Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens um. Das jüngste Beispiel war die Aufregung um den (keineswegs neuen) Wunsch nach einem Spielcasino in Meran: Unmöglich, wir wären im Nu alle spielsüchtig – als hätten die Bürger von Seefeld und Innsbruck alle bereits Haus und Hof verspielt. Ein Flugplatz, der diese Bezeichnung verdient und dann vielleicht weniger verlustträchtig wäre, ist ebenfalls untragbar für unser schutzbedürftiges Südtirol – sollen doch die Innsbrucker und Veroneser unsere Ferienflüge schlucken. Die Autobahn würden wir am liebsten für den Transit schließen – und selbst durch Tirol donnern, weil wir ja unsere Äpfel verkaufen müssen.
Wir sind wahrlich etwas Besonderes, mit Vorliebe etwas Besseres. Die Dolomiten sind die schönsten Berge der Welt, reden wir uns ein. Wir organisieren die besten Sportveranstaltungen der Welt, lassen wir uns bescheinigen. Im Skisport sind wir sowieso die Besten, weil niemand so tolle Aufstiegsanlagen und eine so hohe Dichte an Weltklasseathleten hat. Unsere Unternehmen sind noch ein bisschen kleiner und schutzbedürftiger als anderswo (wobei das nicht stimmt). Wenn wir in Europas Rangliste des Pro-Kopf-BIP im Spitzenfeld geführt werden, schwellt sich unsere Brust und wir vergessen ganz unsere Klagen über die wachsende Armut. Und wenn Bozen vom „Sole 24 Ore“ in dessen jährlichem Italienvergleich die höchste Lebensqualität attestiert bekommt, dann feiern wir das – wenn „wir“ hingegen nur Dritte oder Vierte werden, dann muss mit den Bewertungskriterien etwas nicht stimmen.
Manchmal macht mir das Ich-Getue Südtirols Angst. Manchmal frage ich mich, ob uns irgendein Komplex zu schaffen macht, dass wir uns selber als etwas Besonderes darstellen müssen. So schlimm ist es um uns Südtiroler aber wohl nicht bestellt. Ich wette, dass auch anderswo geglaubt wird, man sei etwas Besonderes: in Sizilien genauso wie in Bayern, in der Champagne genauso wie in Lappland.
Nicht nur Territorien neigen zur Betonung des Andersseins. Wenn ich als Vater zweier kleiner Kinder anderen Eltern zuhöre, welche Wunderknirpse so durch die Welt wandeln, wird mir ganz anders … äh schwindlig: „Mein Sohn ist schon mit zehn Monaten gelaufen.“ „Meine Tochter brauchte mit zwei Jahren keine Windel mehr.“ Mit drei Jahren fahren die Abkömmlinge ohne Stützräder Rad, mit vier Jahren spielen sie Tennis, mit fünf Jahren können sie schreiben. Ja, freilich, und meine Kinder klimperten auf dem Klavier Mozart, noch bevor sie laufen konnten.
Dann das Doping: Während die Konkurrenten zu unerlaubten Mitteln greifen müssen, ist man selbst als Übertalent natürlich sauber – und wenn man erwischt wird, dann sind verunreinigte Lebensmittel schuld.
Die Lust am Vergleich liegt in der Natur des Menschen, die Lust am Bessersein sowieso. Wir alle sind anders und darin so gleich. Ich hingegen will ab sofort gleich sein. Dann bin ich wirklich anders!